Die kommenden Jahre

Aus dem neuen Roman von Norbert Gstrein

Online seit: 26. Januar 2018
Norbert Gstrein © Gustav Eckart
Am 19. Februar erscheint der neue Roman von Norbert Gstrein. Foto: Gustav Eckart

In einem knappen halben Jahr sollte der neue amerikanische Präsident gewählt werden, und die Stimmung, die auf der Tagung in New York herrschte, brachte am besten die Tatsache zum Ausdruck, dass von einheimischen Teilnehmern immer wieder der Satz zu hören war, wenn das Schlimmste einträte, würden sie nach Kanada auswandern. Ich hatte ein Sabbatical und war überhaupt nur hingefahren, weil unter den Organisatoren auch mein Freund Tim Markowich aus Montreal war und er mich gedrängt hatte, einen der Vorträge zu halten, verbunden mit der Einladung, danach noch für ein paar Tage zu ihm an den St.-Lorenz-Strom zu kommen. Also hatte ich meinen Dauerbrenner über Tropengletscher mit neuen Daten aufbereitet und ein Exzerpt eingereicht. Ich hatte nicht nur auf dem Mount Kenya und dem Kilimandscharo, sondern auch in der Cordillera Blanca in Peru und, solange es dort noch einen Gletscher gegeben hatte, auf dem Chacaltaya in Bolivien im Eis gearbeitet und konnte meine eigenen Messwerte und Beobachtungen aus vielen Jahren heranziehen. Zwar hatte ich mir vorgenommen, mich wenigstens ein paar Monate gar nicht mit dem Thema zu beschäftigen, wozu auch gehörte, möglichst keine Kollegen zu treffen, aber Tim eine Bitte abzuschlagen fiel mir schwer. Obwohl das sonst nicht seine Art war, hatte er zum ersten Mal an mein Gewissen appelliert und mit einem für seine Nüchternheit erstaunlichen Pathos gesagt, wir dürften keine Gelegenheit auslassen, der Welt vor Augen zu führen, dass das ewige Eis keineswegs ewig sei. Es gibt immer noch die Unverbesserlichen und Ewiggestrigen, die alles leugnen, aber seit jeder Politiker mit auch nur einem Funken Verstand kaum umhinkommt, Klimawandel und Erderwärmung in seine Litaneien einzubauen, ist unsere Expertise mächtig aufgewertet, weil wir als Wächter der gefrorenen Riesen angesehen werden, die vom Aussterben bedroht sind. Die Aufmerksamkeit hat der Profession nicht immer gutgetan, und auch bei diesem Treffen fehlte es nicht an Warnern, die mit Zahlen jonglierten, als ob die Welt noch in unserem Jahrhundert unterginge, und ihren Befund mit Schreckensbildern illustrierten, ganze Länder verschwunden, halbe Kontinente unter Wasser, die Menschen zusammengedrängt auf ein paar herausragenden Gebirgszügen, Überlebende einer biblischen Katastrophe. Wir wurden immer nach Grenzwerten gefragt, soundso viele Grad wärmer bedeuteten soundso viele Zentimeter Anstieg der Ozeane, natürlich eine Vereinfachung, aber sobald die Journalisten dazukamen, malte sich aus schierer Angstlust einer aus, was passierte, wenn das Eis an den Polen ganz abschmelzen würde, und welche Gebäude etwa in Manhattan dann überhaupt noch ab dem wievielten Stockwerk aus der grenzenlos sich ausbreitenden Wasserwüste ragten. Dabei war das mit den Zahlen so eine Sache, und Tim hatte sich einmal in Schwierigkeiten gebracht, als er sagte, dass man über die wirklich wichtigen Parameter, von denen alles abhänge, viel zu wenig spreche. Er hatte auf die Frage eines Interviewers, was er global für die zwei wichtigsten Maßnahmen im Umweltschutz halte, durchaus ernst, wenn auch flapsig geantwortet, die Erdbevölkerung drastisch zu verringern und bei dem dann übrigbleibenden Haufen den durchschnittlichen Intelligenzquotienten ebenso drastisch zu erhöhen, und war dadurch ins Visier von Studenten seiner Universität geraten, die ihm Zynismus vorwarfen, mit Transparenten vor seinem Institut aufmarschierten und eine öffentliche Entschuldigung verlangten.

Norbert Gstrein – Die kommenden Jahre
Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre

Ich hatte Tim Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bei dem großen Forschungsprojekt auf dem Juneau-Eisfeld in Alaska kennengelernt. Wir waren zwei junge Wissenschaftler gewesen, beide bei unserem ersten internationalen Feldeinsatz, und die gemeinsam auf dem Eis verbrachten Sommerwochen, Hitze und Kälte schweißten und froren uns bleibend zusammen. Man muss nicht soweit gehen zu sagen, dass diese Art Arbeit einen bestimmten Menschenschlag anzieht, aber in der Isolation der Wildnis, in der Gleichförmigkeit der Tage ohne die Annehmlichkeiten oder auch nur Ablenkungen einer Stadt wird doch jeder zum Charakter. Für Tim, der manchmal Wochen allein in den Bergen verbrachte, aber unter Leuten dann nichts davon ausstrahlte und sich bis zur Selbstverleugnung umgänglich gab, galt das doppelt. Hinter ihm auf Skiern auf den fernen Horizont zuzulaufen, der bloß durch ein paar aus der schier endlosen weißen Fläche ragende weiße Spitzen markiert war, ließ einen ahnen, dass es ihn über den letzten sichtbaren Punkt hinauszog und nur die Vorgaben der Arbeit ihn daran hinderten, weiter und weiter zu gehen. Nicht nur, dass er den Mount McKinley bestiegen und andere alpinistische Hochleistungen vorzuweisen hatte, für die er genausoviel Respekt wie Unverständnis erntete, er war bei unserer Expedition gewöhnlich auch der erste am Morgen, der die Hütte verließ, hatte schon die Messinstrumente überprüft, Feuer gemacht und Teewasser gekocht, wenn wir anderen aufstanden, und kehrte am Abend als letzter zurück, brütete dann noch im schwindenden Licht über seinen am Tag gemachten Aufzeichnungen. Es war eine seiner Extravaganzen, dass er sich immer vor dem Schlafengehen rasierte, während die meisten ihre Bärte sprießen ließen, und danach zog er gern einen absurd weißen Anorak mit einem riesigen roten Ahornblatt auf der Brust und der Aufschrift CANADA auf dem Rücken an, als wollte er damit eine letzte Zugehörigkeit demonstrieren.

Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Calgary, hatte er kaum meinen Namen gehört, als er mich nach meinem Bruder fragte, der erst wenige Jahre vor unserem Kennenlernen bei den Olympischen Spielen dort auf dem Weg zur sicheren Goldmedaille im Slalom keine fünf Sekunden vor dem Ziel einen Fehler begangen hatte, der ihn den Sieg kosten sollte. Als Jugendlicher war Tim selbst Skirennen gefahren und in den Provinzen Alberta und British Columbia einer der besten Abfahrer gewesen. Man hatte ihm angesichts seines Mutes und der Rücksichtslosigkeit, mit der er sich die Hänge hinunterstürzte, früh prophezeit, er werde sich entweder das Genick brechen oder Karriere auf den Weltcup-Pisten in Europa machen, was dann ganz anders kam. Er fuhr eine sechzehnjährige Schülerin über den Haufen, wie er es selbst formulierte, und es war einzig und allein seine Schuld. Ohne sich zu vergewissern, ob jemand dahinterstand, war Tim in voller Schussfahrt über eine unübersichtliche Stelle gesetzt und hatte das Mädchen im Sprung mit der messerscharf gefeilten Kante seines Skis am Hals erwischt. Als er sich noch im Abschwingen umwandte und mit zusammengekniffenen Augen den Hang hinaufblickte, war im Schnee schon ein Fleck hellroten Bluts zu sehen gewesen, der sich mit seinem eigenen Pulsschlag auszubreiten schien.

Ich war einer der wenigen, denen er die Unglücksgeschichte selbst anvertraut hatte, während die anderen sie nur vom Hörensagen kannten. Wir waren mitten auf dem Eisfeld von einem Schlechtwettereinbruch überrascht worden, und weil die nächste Hütte zu weit entfernt lag und wir Angst hatten, uns im einsetzenden Nebel zu verirren, entschieden wir uns, den Sturm im Biwak auszusitzen. Die nächsten paar Stunden verbrachten wir, schnell eingeschneit von einem feinen Augustschnee, unter dem im Wind flappenden Nylon auf allerengstem Raum im Gespräch.

Vielleicht machte uns endgültig zu Freunden, dass Tim mir an diesem langen Nachmittag, an dem immer neue Böen an unserem kleinen Zelt rissen, während rundum noch die letzten Markierungen in einem gleichförmigen Weiß aufgingen, seine Kindheit erzählte, als wäre sie meine. Den ersten Schnee jedes Jahr, die erste Schlittenfahrt, das erste Mal auf Skiern hatte ich in den Alpen in Tirol nicht anders erlebt als er in den kanadischen Rocky Mountains. Das war dann unausgesprochen immer unser Anknüpfungspunkt, wenn wir uns lange nicht gesehen hatten, und selbst an einem Ort wie New York blieben wir zwei Jungen, die man zum Spielen hinaus in die Kälte geschickt hatte und die dort sich selbst überlassen waren und zusehen mussten, wie sie zurechtkamen.

Wir hatten uns am Abend vor Beginn der Tagung in der Nähe des Hotels auf ein paar Bier verabredet, waren da aber kaum zum Sprechen gekommen. In dem Diner lief ein Fernseher, und es dauerte nicht lange, bis es um die Wahlen ging und der sich um Kopf und Kragen redende Kandidat auf dem Bildschirm erschien, das fleischige, wie gerade erst nach einem Boxkampf wieder verheilte Gesicht mit den in alle Richtungen übereinandergekämmten, blondierten Haaren, die Bewegungen seiner rechten Hand, aufgestellter Daumen, zurückgenommener Zeigefinger, dann Daumen und Mittelfinger bei erhobenem Zeigefinger aneinandergelegt und am Ende alle Finger gestreckt in einer nur vermeintlich beschwichtigenden Geste. Der Ton war leise gedreht, und Tim machte sich einen Spaß daraus, dem Unhörbaren mit seiner Stimme Gehör zu verschaffen und aus dem Stegreif eine Rede zu improvisieren. Er sagte, die Mär von der Erderwärmung sei nur etwas für Schwächlinge, in Wirklichkeit stehe der Welt eine neue Eiszeit bevor, und eher, als dass New York im Schmelzwasser untergehe, könnten die nächsten Generationen beobachten, wie sich die Gletscher in Grönland und Alaska wieder über ganz Kanada ausbreiten und sich das Eis am Ende das Hudson-Tal herunterschieben würde auf die Außenbezirke der Metropole und auf Manhattan zu. Dabei merkte er nicht, dass er immer lauter wurde und die Leute an den Nachbartischen aufhorchten, bis ein Kellner herantrat und dem Flüstern nahe, aber unmissverständlich auf ihn einsprach.

»Die anderen Gäste fühlen sich gestört, Sir«, sagte er mit einer ausgestellten Vornehmheit, die nicht zum ganz und gar schlichten Ambiente des Lokals passen wollte. »Ich muss Sie auffordern, leise zu sein.«

Tim entschuldigte sich, wobei er das »Sir« aufgriff und allein damit einen spöttischen Ton anschlug, den er dann nicht mehr loswurde. Er fügte vielleicht ein bisschen zu übermütig hinzu, er empfinde es als Ehre, überhaupt hier sein zu dürfen, schließlich sei es, mit allem Respekt, ein großes Land. Dabei machte er ein betrübtes Gesicht, und während er sich schon wieder mir zuwandte, weil er dachte, dass alles gesagt sei, wollte der Kellner wissen, wie er das meine.

»Wie soll ich es denn meinen?« sagte Tim. »Das Land der Freien.«

Der Kellner sah sich jetzt nach einem Kollegen um.

»Sir?« sagte er. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts weiter«, sagte Tim, vermochte aber ein Lachen nicht mehr zu unterdrücken und kehrte seinen kanadischen Akzent so deutlich hervor, wie er nur konnte. »Es ist ein wunderbares Land.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sir.«

»Das Land der Tapfersten, die Heimat der Edelsten. Haben Sie noch nie davon gehört? Amerika, die Schöne, Gottes eigenes Land.«

Der Kellner fragte, ob er die Rechnung bringen solle, und wir standen bereits draußen auf der Straße, als Tim sich immer noch über seine Empörung mokierte. Er versperrte den schmalen Gehsteig, aber die Passanten, die seinem Gestikulieren auswichen und um ihn herumgehen mussten, beachteten ihn nicht einmal, und als am Tag darauf zuerst ein Kollege aus Minneapolis und dann einer aus Seattle fast gleichlautend zu ihm sagten, sie würden nach Kanada auswandern, wenn das Schlimmste einträte, sah er sie mit einem ebenso mitleidigen wie herablassenden Nicken an. Für ihn war Auswandern etwas anderes als ihre am Ende wahrscheinlich folgenlosen Träumereien. Denn sein Vater war bald nach dem Krieg Anfang der fünfziger Jahre aus Jugoslawien weniger ausgewandert als geflohen und bei seinen Versuchen sieben Mal an der Grenze erwischt und sieben Mal ins Gefängnis geworfen worden, bevor er es beim achten Mal schließlich nach Italien und dann weiter nach Kanada geschafft hatte, wo er eine regelrechte Aufsteigerkarriere zuwege brachte, vom Bergarbeiter und Lastwagenfahrer zum Besitzer mehrerer Autohäuser.

Tim war seit dem letzten Mal grauer geworden, sein Gesicht markanter, die große Nase vorspringend wie je, die Augenhöhlen und Schläfen tief in den Schädel gesunken. Mit seinem dunkelblauen Anzug schien er noch weniger der Vorstellung zu entsprechen, die man sich von ihm machte, wenn man von seinen Expeditionen hörte oder gar den Eskapaden seiner Jugend, die mit dem Ski-Unglück endeten. Dafür bekam man eine Ahnung davon, was die Journalistin gemeint haben könnte, die in einem Porträt über ihn geschrieben hatte, er wirke wie ein Klaviervirtuose, der sich in das falsche Metier verirrt habe. Er hielt seinen Vortrag über das Phänomen der »Galoppierenden Gletscher«, die selbst in Zeiten des allgemeinen Rückgangs durch periodische Vorstöße von manchmal mehreren Metern am Tag auffallen, und zuletzt wirkte er müde. Die drei Tage in Gesellschaft hatten ihm so zugesetzt, dass er sich beim Abschiedsessen entschuldigte, er habe Kopfschmerzen, und als wir uns später am selben Abend noch in einer Bar trafen, war er in düsterer Stimmung. Bei meinem Eintreten saß er aufrecht in seinem Ledersessel, blickte in der Spiegelwand gegenüber durch das eigene Bild hindurch und sagte, er hätte es nicht ertragen, sich von noch einem anhören zu müssen, wenn das Schlimmste einträte, würde er nach Kanada gehen. Er selbst hatte nach einem halben Arbeitsleben in Montreal gerade einen Ruf nach St. John’s in Neufundland erhalten und sollte dort im kommenden Jahr seinen neuen Lehrstuhl einnehmen, und als er mich fragte, was mit mir sei, und ich ihn zuerst nicht verstand, sah er mich über sein Glas hinweg an und erkundigte sich, ob ich nicht mitkommen wolle und warum ich mir eigentlich nicht überlegte auszuwandern.

Tatsächlich hatten wir in den Jahren, die wir uns kannten, immer wieder einmal über diese Möglichkeit gesprochen, am Anfang mit einigem Nachdruck, später als eine Art Running Gag zwischen uns, Kanada als Fluchtpunkt, aber jetzt konnte es kaum ernst gemeint sein. Offenbar hatte der Alkohol Tims Urteilsvermögen so weit beeinträchtigt, dass er nicht wusste, was er sagte. Mit einem Lachen allein ließ er sich dennoch nicht abspeisen, und ich erinnerte ihn daran, wie alt ich war und dass ich in Hamburg ein Leben hatte, eine Frau und ein Kind, um von den bürokratischen Hindernissen gar nicht zu reden, die sich sicher auftun würden.

»Wie stellst du dir das vor, Tim?« sagte ich. »Ich komme nach Hause zurück und sage zu Natascha, wir holen Fanny aus der Schule, packen alles zusammen und gehen nach Kanada?«

Es war auffällig, dass er sich bis dahin nicht nach ihr erkundigt hatte. Seit er uns vor ein paar Jahren in Hamburg besuchen gekommen war, gebärdete er sich vielleicht ein bisschen allzulaut als Nataschas stiller Verehrer. Zu ihren Geburtstagen schickte er ein Kärtchen und kam unweigerlich darauf zurück, was für schöne Tage er mit uns in unserem Sommerhaus am See verbracht habe. Dabei waren er und ich die meiste Zeit nur im Garten gesessen, und Natascha hatte hinter offenen Fenstern geschrieben, unser Gespräch als anhaltendes Begleitgeräusch. Er mochte, dass sie Schriftstellerin war, gab sich ihr gegenüber ungehobelter und unbelesener, als er in Wirklichkeit sein konnte, und nahm mich ungefragt auf in diesen Club der etwas Tumben, für die es eine Ehre war, überhaupt in Nataschas Nähe sein zu dürfen. So ironisch er das tat, im Grunde meinte er es ernst und machte uns beide damit zu verqueren Zottelbären, die nach ihren Alleingängen im Eis nie mehr ganz in die Zivilisation zurückgekehrt waren. Wenn er am Abend von Natascha wissen wollte, was sie zustande gebracht habe, sagte sie glücklich: »Nichts Brauchbares«, und ich stand daneben, öffnete eine Flasche Wein und wünschte mir, an seiner Stelle zu sein. Teil seiner Komplimente war immer auch, dass er dagegen protestierte, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, ja, er bestand darauf, das sei unmöglich, jedenfalls in dieser Welt, eine Kopie von ihr käme einem Gottesbeweis gleich. Er hatte Katja nie gesehen, aber ihre Existenz so lange geleugnet, dass er sich schuldig fühlte, als er von ihrem Tod erfuhr, und Natascha einen untröstlichen Brief schrieb. Daran dachte ich jetzt, was für ein Träumer er war und was für ein Realist in seinen Träumen, während er mich regelrecht bearbeitete.

»Es hat eine Zeit gegeben, in der allein die Erwähnung von St. John’s gereicht hätte, dass du nicht mehr zu halten gewesen wärest«, sagte er, als ich schon hoffte, dass er endlich aufhören würde. »Vor den Orten, nach denen du dich gesehnt hast, waren es immer die Namen der Orte, Richard. Bei mir ist es Dalmatien gewesen. Ich habe lange gedacht, ich könnte dort ein Leben haben, nicht weil mein Vater von da stammt, sondern wegen des Klangs.«

»Aber ich bin nicht mehr jung.«

»Davon rede ich ja.«

»Mir fehlt die Zeit für solche Träume.«

»Willst du wirklich in Hamburg alt werden?«

»Als ob ich in Kanada davon verschont wäre.«

»Willst du unter Deutschen sterben, Richard?«

Er sah mich jetzt mit einem zweifelnden Blick an.

»Allein schon das Wort. Du musst nur einmal laut Deutschland sagen und weißt Bescheid. Kann man danach Sehnsucht haben?«

Eine ähnliche Diskussion, nicht weniger irrlichternd, hatten wir schon einmal gehabt, als ich von Innsbruck nach Hamburg gegangen war. Bloß hatte er mich damals gefragt, ob ich wirklich unter Deutschen leben wolle, und da war es noch ein Automatismus gewesen, die Deutschen als diejenigen, gegen die man ebenso selbstverständlich war, wie man ungestraft gegen sie sein konnte, die Deutschen als die wie nach einem alttestamentarischen Fluch für immer Ausgestoßenen, die nur alles falsch machen konnten, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühten, alles richtig zu machen. Ich hatte ihm schon ein paarmal gesagt, dass es mit den Österreichern kaum einfacher sei, aber das versuchte ich jetzt gar nicht, weil er ohnehin kein Ohr dafür gehabt hätte.

»Weißt du noch, was du mir auf dem Juneau-Eisfeld über dein Aufwachsen in Tirol erzählt hast, Richard?«

»Aber Tim«, sagte ich. »Was hat das damit zu tun?«

»Du hast gesagt, dass dich der Umgang mit den Gästen im Hotel deiner Eltern alles gelehrt hat, was du über das Leben wissen musst. Erinnerst du dich? Zu achtzig oder neunzig Prozent deutsche Touristen, und sie haben sich in dem winzigen Dorf in den Bergen aufgeführt wie die Kolonialherren und dich wie einen Halbwilden behandelt.«

»Habe ich das wirklich gesagt?«

»Und ob«, sagte er. »Armselige Kleinkrämer, die gedacht haben, sie könnten mit ihrem lächerlichen Geld alles und jeden kaufen und dabei auch noch sich selbst übers Ohr hauen und an Leben teilhaben, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten.«

Es mochte ja sein, dass ich mich damals zu solchen Sprüchen hatte hinreißen lassen, aber von ihm jetzt darauf festgelegt zu werden war etwas anderes, und ich wehrte mich.

»Ich würde heute nicht mehr so reden.«

»Wie denn?« wollte er lachend wissen, als hätte ich mir nur einen Scherz erlaubt. »Glaubst du im Ernst, es ist etwas anders geworden?«

Ich kam gar nicht soweit zu sagen, dass immerhin Jahre vergangen seien, weil er keine Antwort erwartete und sofort ungeduldig nachfasste.

»Du willst die Herrschaften doch nicht etwa verteidigen?«

Er hatte über halb Deutschland verstreut Onkel. Einer lebte in Berlin, einer in Stuttgart, einer in München, und unausgesprochen warf er ihnen vor, dass sie alle zu kurz gesprungen und nicht weit genug weggegangen seien, als auch sie sich aus Jugoslawien davongemacht hatten. Allein sein Vater, der Älteste, hatte es über den Atlantik geschafft, weil es zu seiner Zeit für ihn keine legale Ausreisemöglichkeit gegeben hatte und er wirklich geflohen war, ausgewandert nach Kanada, in das Land seiner Träume, und nicht bloß später als Gastarbeiter über die Grenze gegangen, Sommer für Sommer hin- und hergependelt und dann irgendwann halbherzig in ewig ungeliebten Umständen bei den Deutschen geblieben wie all die anderen. Er hatte einen Schnitt mit der Vergangenheit gemacht, und in seinem Namen hielt Tim jetzt Gericht.

»Soll ich dir den Unterschied erklären?« sagte er. »Mein Vater ist in Kanada ein freier Mann, während meine Onkel in Deutschland nach fünfzig Jahren immer noch glauben, sie müssten dankbar sein, dass sie für die feinen Herren die Drecksarbeit verrichten dürfen.«

Ich hatte ihm nicht erzählt, dass wir unser Sommerhaus knapp eine Stunde außerhalb von Hamburg erst drei Monate zuvor an eine Familie aus Damaskus vermietet hatten, aber alles, was er von einem bestimmten Punkt an sagte, bezog ich darauf. Die Nachricht war durch die Medien gegangen, allein schon wegen Natascha, die als Schriftstellerin natürlich Aufmerksamkeit auf sich zog, als wir uns dazu entschlossen. Man konnte nicht allein Meldungen im Internet und einen Bericht, den es im Fernsehen gegeben hatte, auf YouTube finden, sondern auch Hinweise in ausländischen Zeitungen, und Tim brauchte vor der Tagung nur ihren Namen gegoogelt zu haben, um darauf gestoßen zu sein. Was er davon halten musste, war mir klar, als er sich kopfschüttelnd über die Leute ausließ, die im vergangenen Herbst auf den Bahnsteigen gestanden waren und die in ganzen Zugladungen ankommenden Flüchtlinge mit Applaus begrüßt hatten. Ich fragte ihn nicht, aber je mehr ich mir vorstellte, dass er von unseren Mietern wusste, um so unheimlicher wurde mir sein Vorschlag, Natascha und ich könnten nach Kanada gehen. Über viele Dinge hatte ich mich nie mit ihm unterhalten, doch wenn stimmte, was ich vermutete, und wenn ich ihn ernst nahm, steckte hinter seinem Insistieren womöglich, dass er dachte, uns vor uns selbst retten zu müssen, und mir fiel nichts anderes ein, als ihm ein ums andere Mal trotzig zu beteuern, es stehe alles gut für uns in Hamburg und ich wüsste nicht, warum wir von dort wegsollten, was wie eine Beschwörung klang, an die ich selbst nicht recht glaubte.

Ich war froh, dass wir das Gespräch nicht weiterführen mussten, als andere Tagungsteilnehmer zu uns stießen, und nutzte die Gelegenheit, mich zu verabschieden. Zurück im Hotel, konnte ich lange nicht schlafen, und weil es zu früh war, zu Hause anzurufen, und Natascha und Fanny noch nicht wach sein würden, spielte ich an meinem Computer herum und hatte kaum die neuesten Nachrichten gelesen, als ich mich dabei ertappte, wie ich nach St. John’s suchte. Angeblich war es die älteste Stadt Nordamerikas, und die Bilder von bunten, nordisch wirkenden Häusern an einem Fjord und den beiden dominierenden Türmen der Basilika auf einem Hügel leuchteten in die Dunkelheit meines Zimmers. Ich fand die mittleren Januar- und Juli-Temperaturen heraus und überprüfte, wie lange man von Montreal mit Auto und Fähre dorthin brauchte und wie lange mit dem Flugzeug. Es war die Stelle Neufundlands, die am weitesten in den Nordatlantik hineinragte, und obwohl die geographische Breite bis auf ein paar Hundertstelgrad mit der von Innsbruck übereinstimmte und man von Hamburg aus schneller hinkam als nach New York, mussten im Frühling Eisberge von den kalbenden Gletschern in Grönland vorbeiziehen, bis sie weiter im Süden zerbrachen und schmolzen und sich, lange bevor sie wirklich warme Gefilde erreichten, im Meerwasser auflösten.

Copyright © 2018 Carl Hanser Verlag, München

Der Roman erscheint am 19. Februar.

 

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Hanser Verlag die Romane Die ganze Wahrheit (2010), Eine Ahnung vom Anfang (2013) sowie In der freien Welt (2016).

Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman. Hanser, München 2018. Seiten, € 22 (D) / € 22,70 (A).