Im Adirondack nach Kanada oder Jesus fährt fort

Norbert Gstreins Kolumne „Writer at Large“

Online seit: 29. Jänner 2017

Erst als ich im Zug nach Montreal saß, hatte ich das Gefühl, gerettet zu sein, wenn auch nur für ein paar Augenblicke. Ich hatte eine schlimme Nacht im Hotel Pennsylvania in New York hinter mir, direkt der Penn Station gegenüber, von wo es jetzt losging. Die Rezeption hatte mir ein anderes Zimmer zugewiesen, als ich mich über den patschnassen Teppichboden beschwerte, und so fand ich mich vor einer wie zu einem unterirdischen Verließ führenden Tür mit der Nummer 1313 wieder, was wahrscheinlich alles Folgende erklärte. Denn eigentlich durfte es ein Zimmer mit dieser Nummer gar nicht geben, und vielleicht das ganze Stockwerk nicht, und ich war von der Hotelleitung womöglich nur für meine Klagen bestraft und mit einem simplen arithmetischen Trick ins Unglück geschickt worden. Wie als Beweis, dass in dem Zimmer schon viele Jahre niemand mehr geschlafen hatte, ergoss sich ein stinkender Rostschwall ins Waschbecken, kaum dass ich das Wasser aufdrehte. Die Träume, die mich dann verfolgten, Albträume zu nennen, war eine gelinde Untertreibung.

Jedenfalls begegneten mir darin zwei Mitbewohner desselben Stockwerks, die offenbar die Zimmer links und rechts von mir hatten, auf dem Gang mit dem Gruß „Freiheit“, und ich grüßte sie mit demselben Wort zurück, ohne mir viel dabei zu denken, schließlich befanden wir uns ja im Land der Freiesten, der Tapfersten und der Edelsten. Dann erst sah ich, dass es der bald aus dem Schloss Bellevue scheidende deutsche Bundespräsident und die frisch gekürte Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels waren, die mir Hand in Hand wie ein nach vielen Jahren keusch gewordenes Ehepaar entgegenkamen, er von einer engelsgleichen und deshalb satanisch anmutenden Onkelhaftigkeit, sie entsprechend tantenhaft, nur ein wenig spröder. Sie schienen etwas zu feiern, denn kaum hatten sie sich für eine Sekunde losgelassen, fingen sie auch schon wieder an, sich zu beglückwünschen und einander auf die Schultern zu klopfen und sich gegenseitig mit Kosenamen anzusprechen und Kussmündchen zu machen und unaufhörlich „wir“ zu sagen und jetzt paradoxerweise trotz ihrer Rentnerhaftigkeit auch überhaupt zu turteln wie Frischverliebte. Niemand wird mir das glauben, aber ich schwöre, dabei glänzten sie, als wären sie aus reinem Gold, und ich ahnte, dass es nicht mehr lange bis Weihnachten dauern konnte. Sie wollten von mir wissen, ob ich auch zur Heiligsprechung nach Rom führe, und ich sagte, nein, ich sei auf dem Sprung nach Kanada, weil ich für Deutschland nicht gut genug sei und mir darum überlegte auszuwandern, und erkundigte mich, wer denn heiliggesprochen werden solle. Darauf antworteten sie, das wisse man noch nicht, aber sie stünden beide auf Vorschlag eines gewissen F.-P. Tebartz-van Elst – sicher nur ein besonders gefinkeltes Pseudonym für den Teufel – auf der vatikanischen Shortlist für eine Heiligsprechung zweiter Klasse, nachdem sie sich selbst schon seliggesprochen hätten, und zwar gemeinsam mit der weithin nur als Bischöfin bekannten ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, die kurz in die Bar hinuntergegangen sei, einen Bründlmayer trinken, und jeden Augenblick wieder auftauchen müsse. Ich fragte, ob auch ein Österreicher(*) unter den Auserwählten sei, weil ich schon das schlimmste Missverständnis für mich fürchtete, und sie sagten, André Heller, er schlafe auf 1339, was sich mir sofort in 13 und 3 mal 13 übersetzte, halte sich aber seit dem gestrigen Abend mit seiner eritreischen Assistentin auf dem Dach auf und installiere(**) dort etwas gegen den Hass.

Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Aufzugstür und niemand anders als die Bischöfin, die bereits vor Jahren nach einer Alkoholfahrt mit dem Auto ebenso selbstlos und vorbildlich wie wohlgefällig in den Augen des Herrn ihr Amt niedergelegt hatte, trat aus der Kabine und grüßte mich mit „Friede“, und weil mir mein in langen Klosterschülerjahren antrainiertes Ministrantenlächeln, das ich den beiden anderen gegenüber selbstverständlich aufgesetzt hatte, nicht mehr recht gelingen wollte, lächelte ich sie spitzbübisch an, grüßte sie noch spitzbübischer mit „Frau Bischöfin“, was in der doppelt weiblichen Form vielleicht übertrieben war, und spitzbübelte weiter „Hallelujah“ und „Habe die Ehre“. Ich hätte ihr gern erzählt, dass ich in meiner Kindheit einmal der Stern von Bethlehem gewesen war, aber sie hatte Offizielleres und Wichtigeres zu tun. Dabei hätte es ihr sicher gefallen, wenn ich den Spruch aufgesagt hätte, den ich als Sternsinger – einen Stab mit einem goldenen Fünf- oder Sechszack in der Hand und also schon im zartesten Alter selbst eine Art Nachwuchsbischof mit allen Insignien meiner zukünftigen Heiligkeit – in jedem Haus meines Heimatdorfes herunterbeten musste: „Ich bin der Stern, so licht und hell/ Ich hab’ geführt die Weisen schnell/ Nach Bethlehem zur Krippe hin/ Es liegt das Jesuskind darin.“ Das waren Sentimentalitäten, gewiss, aber wie ich damals mit den heiligen drei Königen singend in fremden Wohnzimmern gestanden war, stand ich jetzt mit den drei Heiligen zweiter Klasse in spe auf dem Gang des Hotels Pennsylvania in New York, das bei dem Horror, der mich plötzlich packte, genauso gut Hotel Transylvania hätte heißen können, und konnte mir nicht genug die Augen reiben, mich in den Arm kneifen und mit dem Fuß auf dem Boden aufstampfen. Die Bischöfin wollte unbedingt ein Selfie mit uns allen machen, aber ich entwischte gerade noch, und wenn wenigstens das mit rechten Dingen zugeht, bin ich hoffentlich nicht auf dem Bild.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie erleichtert ich war, als wenig später Ulla Berkéwicz mit Peter Handke und Radovan Karadžić aus einer Tür trat, abwechselnd hebräisch und serbisch sprechend, wenn auch mit starkem hessischen Akzent, der irre Serbenführer und sie Arm in Arm, beide mit der zornig widerborstigen Haarpracht von manichäischen Wirrköpfen, die für ihre Wahrheit die ganze Welt niederbrennen, Peter Handke mit der Versöhnungsfrisur des Messias und seiner sicher mehr als zwölf Apostel. Die Zimmernummer war 1332, also 2 mal 666, 2 mal die Zahl des Tieres aus der Apokalypse, und ich sagte vorsichtig „Schalom“ und „Zdravo“ und streckte ihnen Daumen, Zeige- und Mittelfinger zum Gruß entgegen. Nach dem, was ich gerade erlebt hatte, konnte ich nicht anders, als sie zu fragen, ob sie auch auf dem Weg zur Heiligsprechung nach Rom seien und womöglich sogar auf der vatikanischen Shortlist stünden, aber sie wussten nicht, wovon ich sprach, und erwiderten, ihre Reise führe sie nach Den Haag, wo einer von ihnen unter Anklage stehe, mit kleinen Abstechern nach Belgrad, Sarajevo und Srebrenica. Kaum hatte ich versichert, wie sehr ich mich freute, dass es auf diesem Stockwerk auch noch echte Bösewichte gab, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mich bei den drei wirklichen Shortlist-Kandidaten zu erkundigen, wie sie überhaupt zu der Ehre kämen, was sie plötzlich mit dem Papst auf dem Hut hätten und ob sie zu allem Überfluss auch noch katholisch seien, und der Wind, der von dem weit offenen Höllentor kam, blies mir heiß und verhängnisvoll wie der Sturm der Geschichte ins Gesicht.

In diese religiöse Verzückungsverwirrung war ich wohl auch deswegen gestürzt, weil ich auf meinen Wegen tagsüber auf eine Gospeltruppe gestoßen war und ihre Schilder, auf denen „Welcome back, Jesus“ stand, nicht mehr aus dem Kopf bekam. Direkt vor dem Plaza am Central Park und damit nur ein paar Schritte entfernt von dem Turm an der Fifth Avenue, wo der Leibhaftige sein Hauptquartier hatte, konnte das nur zehn Tage vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen tatsächlich bedeuten, dass er gemeint war und dass die Welt auf ihren Untergang zusteuerte. Andererseits stand Halloween vor der Tür, was weitere Kandidaten für die Rolle des Erlösers ins Spiel brachte, und nach der unheimlichen Begegnung im dreizehnten Stock meines Hotels wollte ich zudem nicht ausschließen, dass die deutsche Botschaft oder das Goethe-Institut den Auftritt der Gruppe zu Ehren ihrer vortrefflichen Landsleute organisiert hatte. Vielleicht hatten die Verantwortlichen in Erfahrung gebracht, dass das Trio auf seinem Weg zur Heiligsprechung in Rom auch durch New York kommen würde, und sich zu dieser feinen Geste entschlossen, wobei natürlich gesagt werden muss, dass von den dreien nur einer oder eine der wiedergekehrte Jesus sein kann und sich die beiden anderen mit Plätzen zu seiner Rechten und zu seiner Linken begnügen müssen.

Dazu kam, dass mir später auf dem Times Square eine Leuchtreklame der Firma Ford aufgefallen war, die mich daran erinnerte, dass ich den Autobauern selbst einmal eine Werbeidee anbieten wollte, die mich lange nicht losließ. Abgebildet auf der Lichterwand war kein Wagen, sondern eine löwenmähnige Frau, die große Ähnlichkeit mit einer leicht esoterisch angehauchten, jungen österreichischen Schriftstellerin hatte, und in dem Schriftzug „Go further“ erkannte ich erst auf den zweiten Blick das Wortspiel: Ford, förder, am fördesten. Das musste mir auf meinem Weg nach Kanada niemand sagen, war ich doch damals selbst drauf und dran gewesen, nach Detroit zu fahren, in der Konzernzentrale vorstellig zu werden und so lange auf die Dame oder den Herrn am Empfang einzureden, bis sie mich entweder in eine Sicherheitszelle sperrten oder ein Zuständiger mir wenigstens ein paar Minuten Gehör schenkte und ich ihm erklären konnte, worum es in dem Video, das ich drehen wollte, ging.

Darin kommt ein langhaariger, bärtiger Hippie in einem Familien-Van, am besten natürlich in einem Galaxy, eine kurvige Bergstraße heraufgefahren. Man sieht ihn zuerst nicht – hört nur das Quietschen der Reifen und den aufheulenden Motor –, dann sein Gesicht in der Totalen, eine richtige Bundespräsidenten- … fast hätte ich gesagt, Visage, aber nein, ein Antlitz mit einem seligen Lächeln, als wäre er bekifft, und dann erst die Kinder, zwei auf dem Beifahrersitz, fünf hinten, alle ihm auf eine Weise ähnlich wie nur die Dorfkinder in einer Bauernkomödie dem Pfarrer oder meinetwegen auch Pastor. Er rast wie ein Verrückter die Serpentinen hinauf, mehr Reifenquietschen, mehr Motorgeheul, dramatischer Nebel, und als der Wagen schließlich aus dem Grau hervortritt, ist es, als würde ein startender Jet durch die Wolkendecke brechen, das Blau eines wunderbaren Tages auf Erden, und er fliegt direkt in den Himmel, direkt in das Paradies. Dann aufstrahlende Sterne, dann Engelschöre, dann erst der Schriftzug, auf dem meine ganze Idee beruht, in Goldlettern, aber trotzdem möglichst zurückgenommen, möglichst unaufdringlich, ohne den Leuten die Doppeldeutigkeit auf die Nase zu drücken: „Jesus fährt Ford.“

Ich hatte mir lange eingeredet, damit viel Geld verdienen zu können, und auch jetzt noch, während der Zug sich langsam in Bewegung setzte, überlegte ich, ob ich nicht beim ersten Halt aussteigen und dann einen Weg finden sollte, so schnell wie möglich nach Detroit zu kommen. Die Idee, für einen Tag nach Kanada zu fahren und gleich wieder zurück, schien mir auf einmal nicht mehr ganz so originell. Auf die Frage, was mich dort hinziehe, hatte ich nur mit den Schultern gezuckt, und plötzlich dachte ich von einem Augenblick auf den nächsten voll Schreck, vielleicht war das alles nur Teil eines anderen Traumes, und ich war in Wirklichkeit gar nicht mehr am Leben. Denn ich war schon einmal in Kanada gewesen, schon einmal in Montreal, und weil das nun nicht mehr aufhören wollte mit den Engelschören, der Seligkeit und dem Bundespräsidentenlächeln, und weil ich auf der Fahrt an einem See vorbeikommen sollte, dem die Missionare wegen der Reinheit seines Taufwassers den Namen Lac du Saint Sacrement gegeben hatten, und weil ich mein Hotel an der Kreuzung zweier Straßen gebucht hatte, die nach Heiligen benannt waren, Ste. Catherine und St. Laurent, und weil das bei einem schnellen Blick auf den Plan für fast alle Straßen in der Innenstadt galt, wurde ich den Gedanken nicht mehr los, ich müsse damals gestorben sein und sei jetzt selbstredend im Himmel, der sich, was wunder, als von den vorbildlichsten Deutschen bewohnte Hölle herausstellte.

Damals war ich gemeinsam mit einem Schriftstellerkollegen und einem Kritiker auf der Buchmesse in Montreal gewesen, und wir hatten zusammen mit einem liebeskranken Germanisten bis tief in die Nacht Wodka getrunken und dann am frühen Morgen in einem der obersten Stockwerke unseres vielstöckigen Hotels einen Feueralarm überhört. „Wir“ hieß der Schriftstellerkollege und ich, St. Michael und St. Norbert, denn der Kritiker, St. Hubert der Gute, hatte sich selbstverständlich in Sicherheit gebracht und stand mit den anderen aus ihren Betten gescheuchten Gästen im Foyer oder auf der Straße, während wir den Schlaf der Gerechten schliefen, den Schlaf der Kinder, und weder durch die Sirene noch durch das Klopfen an unseren Türen wach zu kriegen waren. Ich weiß nicht, ob der liebeskranke Germanist Handke-Spezialist war, der Frisur nach zu schließen, eher nein, er hatte nichts von einem Jünger wie die vielen, die dem Meister ebenso gläubig ins Schattenreich der Pilze folgen wie ins hellste Licht der Anderswelt, aber er hatte sich ausgerechnet und wie nur je einer in eine ausgewanderte serbische Turbofolksängerin verliebt, die in ihrem Überlebenswillen und ihrer Überlebensfähigkeit ein paar Nummern zu groß für ihn war und ihn zuerst ausgenommen und dann regelrecht ausgewrungen und weggeworfen hatte wie einen Waschlappen. Darüber hatte er den Verstand verloren, und in dem Balkan Grill irgendwo am St.-Lorenz-Strom, in den er uns führte, klagte er uns sein Liebesleid. Die serbische Turbofolksängerin sollte später dort auftauchen oder nicht auftauchen, sie sollte singen oder nicht singen, und weil der jugoslawische Bürgerkrieg noch nicht lange vorbei war, tranken wir ihr zu Ehren und zu Ehren von Peter Handke ein Glas nach dem anderen. Der liebeskranke Germanist sagte, einer von uns müsse seine Geschichte aufschreiben, aber wir rieten ihm, es selbst zu tun, „Ein liebeskranker Germanist“ sei ein phantastischer Buchtitel, oder noch besser vielleicht „Der liebeskranke Germanist, die serbische Turbofolksängerin …“ und dazu dann noch im selben Rhythmus – dadam, dadadam, dadam – unbedingt etwas Drittes, etwas Geheimnisvolles, etwas, das den Beginn einer langen Serie ankündigen könnte, vielleicht „Der liebeskranke Germanist, die serbische Turbofolksängerin und das Aleph“.

Ich weiß nicht mehr, wie wir zurück ins Hotel gekommen sind, und ich weiß auch nicht, ob ich das Hotel jemals wieder verlassen habe und ob sich das Zimmer 1313 im Hotel Pennsylvania in New York nicht in Wirklichkeit in jenem Hotel in Montreal befindet, in dem ich mit meinem Schriftstellerkollegen den Feueralarm verschlafen habe. Ich weiß nicht, warum ich nach Kanada fahre, vielleicht nur, weil der Zug diesen Namen trägt, den ich liebe. Er ist nach einem Indianerstamm aus meinen Kinderbüchern benannt, heißt Adirondack und fährt jetzt schon den Hudson hinauf, und ich bin voll unerklärlicher Freude, mein Herz … – ich kann es nur auf Englisch sagen: my heart going boom, boom, boom –, bin beseelt wie ein Wolkenstürmer und halte mich an dem bisschen Wirklichkeit fest, das draußen vorbeizieht, Wasser und Wälder: Yonkers 8:45, Croton-Harmon 9:05, Poughkeepsie 9:45, Rhinecliff 10:00, Hudson City 10:20, Albany-Rensselaer 10:45, Schenectady 11:30, Saratoga Springs 12:00, Fort Edward – Glens Falls nicht auf die Uhr geschaut, Whitehall 12:50, Ticonderoga 13:30, Port Henry verschlafen, Westport 14:05, Plattsburgh 15:20 … Dann irgendwann die Grenze … Dann weiter …

New York – Montreal – New York,
All Hallows’ Eve, All Saints’ Day 2016

 

P. S. Und auf der Rückfahrt dann – ein Anflug, vielleicht auch nur eine Einbildung von Stockholm-Syndrom – mein schamloses Fraternisieren mit den amerikanischen Grenzbeamten, die mich in den Speisewagen gesetzt hatten und nicht aufhören wollten, sich zu viert durch meinen Reisepass zu blättern, während der Zug im Niemandsland stand und ich schon überlegte, was ich machen sollte, wenn sie mich nicht weiterfahren lassen würden:
– Sie waren in Syrien?
– Ja, aber vor dem Krieg.
– Warum?
– Um mich dort umzuschauen.
– In Isreal?
– Das Gleiche.
– Und jetzt fahren Sie für nur eine Nacht von New York nach Montreal, um sich dort umzuschauen, und dann gleich wieder zurück?
– Ist das verboten?
– Für eine einzige Nacht?
– Ich habe gehört, amerikanische Künstler und Intellektuelle würden nach Kanada auswandern, falls Trump gewählt wird, und ich wollte sehen, wie die Fahrt ist. Schön, muss ich sagen. Außerdem liebe ich es, verdächtig zu wirken und euch beim Trüffelsuchen zuzusehen.
– Keiner von denen wird auswandern.
– Weil Trump nicht gewählt wird.
– Da wäre ich mir nicht so sicher.
– Er wird nicht gewählt.
– In zehn Tagen wissen wir mehr, und vielleicht versuchen Sie dann noch einmal, mit dem Zug nach Kanada zu fahren, und wir sprechen uns wieder.

(*) Die Neue Zürcher Zeitung brachte am folgenden Tag die Meldung, dass aus der Schweiz eine ganze Busladung von Kandidaten nominiert war. Von einer vatikanischen Shortlist konnte da im eigentlichen Sinn nicht mehr die Rede sein. Sie standen alle drauf, Lehrer und Volkspädagogen, Schriftsteller und Politiker, als wäre das ein und dasselbe, sogar zwei Fußballspieler und eine ehemalige Schönheitskönigin, und das renommierte Blatt, das für seine Zurückhaltung bekannt war, ließ sich dazu hinreißen, von Schafen im Schafspelz zu sprechen, deren Blöken sicher niemanden vor der Schlachtbank bewahre, was bei den Lesern empörte Reaktionen auslöste.

(**) Der Herausgeber besteht auf der Anmerkung, dass die Formulierung nicht ganz richtig oder jedenfalls nicht exakt sei. Was da installieren genannt werde, sei in Wirklichkeit ein Pflanzen und Aufforsten gewesen, wie man der New York Times vom 5. November 2016 entnehmen könne, und André Heller habe nicht selbst gepflanzt, sondern seine aus einem alten Königsgeschlecht stammende eritreische Assistentin(***) pflanzen lassen und ihr dabei versonnen zugesehen, was auf dem beigefügten Foto unglücklicherweise den Eindruck eines Aufsehers auf einer Plantage im amerikanischen Süden erwecke. Das habe der Würdigung keinen Abbruch getan, man habe es bei dem Tausendsassa und Zausel mit „a hell of an artist“ zu tun, in wörtlicher Übersetzung also mit einer Hölle von Künstler. Nur Menschenrechtsgruppen auf der ganzen Welt hätten ihn dafür mit dem haltlosen Vorwurf konfrontiert, wenn schon nicht selbst Sklavenarbeit zu begünstigen, so doch die falschen Symbole zu setzen und einen fahrlässigen Umgang mit der Erinnerung daran zu pflegen.

(***) Die Zeitung hob auf ungewohnt zweideutige Weise hervor, dass die eritreische Assistentin mit ihren 1 Meter 82 den Zampano um einen halben Kopf überragt habe und je nachdem, von welcher Seite man die Angelegenheit betrachten wolle, jungenhaft oder mädchenhaft schlank gewesen sei.

 

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Hanser Verlag die Romane Die ganze Wahrheit (2010), Eine Ahnung vom Anfang (2013) sowie In der freien Welt (2016).

Quelle: VOLLTEXT 4/2016

Online seit: 29. Jänner 2017