Im schottischen Hochmoor

Norbert Gstreins Kolumne „Writer at large“.
„Unmöglich, dass ausgerechnet diese Blätter voneinander abschrieben. Das würde meinen Glauben an das Gute, Wahre, Schöne allzu sehr erschüttern.“

Online seit: 27. Juli 2016

Erklären kann ich es mir nur so: Monate bevor gleich mehrere Kritiker die Hauptfiguren meines jüngsten Romans im schottischen Hochmoor sichteten, obwohl ich sie meines Wissens nie dorthin geschickt hatte, war ich selbst mit einem Fotografen, der Bilder von mir machen sollte, ins Eppendorfer Moor in Hamburg gegangen. Dass das womöglich ein Fehler war, konnte ich damals unmöglich wissen. Seitdem muss mir und allem mit mir Zusammenhängenden jedenfalls etwas Mooriges anhaften. Der Fotograf hatte alte Gummistiefel im Kofferraum seines Autos und versuchte mich zu überreden, sie anzuziehen. Fotos am Schreibtisch gibt es von mir schon, Fotos unter, neben und auf Bäumen, Fotos in Dichterpose, Fotos mit einem irren Ausdruck, auf denen ich aussehe, als wäre ich gerade nach zehn Jahren Haft aus einer Strafanstalt entlassen worden und mein erschreckter Blick fiele auf zwei Ordnungshüter, die mich wegen neuer Verbrechen gleich wieder festnehmen würden, aber noch keine Fotos mit Gummistiefeln, in denen ich nach einem hundertjährigen Moorschlaf als wiederauferstandene Moorleiche neu ins Leben treten könnte: „In the beauty of the lilies, / Christ was born across the sea, / With a glory in his bosom, / That transfigures you and me“ wie es in der Battle Hymn of the Republic heißt, und danach mit vollem Pomp „Glory, glory, hallelujah, / Glory glory, hallelujah …“ Instinktiv glaubte ich, mich wehren zu müssen. Ich war bereit, alles für den Fotografen zu tun, auf Zuruf jede Verrenkung meiner Glieder zu inszenieren und, wenn es sein musste, vielleicht sogar zu lächeln, solange ich nur um die Gummistiefel herumkam. Man kann in Hamburg bei leichtem Nieseln Leute mit diesen Tretern auf der Straße antreffen, als würden sie mitten in der Stadt zu einer Wattwanderung aufbrechen, und in manchen Saisonen sind sie das Schickste, was man überhaupt tragen kann, Gummistiefel kombiniert am besten mit einer Helmut-Schmidt-Mütze oder einem Kopftuch wie in den fünfziger Jahren, aber mich erinnerten die Galoschen des Fotografen an die gelben Gummistiefel meiner Kindheit, und anziehen oder nicht anziehen war schon damals eine Frage auf Leben oder Tod gewesen.

Unmöglich, dass ausgerechnet diese Blätter voneinander abschrieben. Das würde meinen Glauben an das Gute, Wahre, Schöne allzu sehr erschüttern.

Dazu kam, dass ich in einem anderen Leben mehrere Sommer lang als Vermessungsgehilfe und also, um den dort gängigen Ausdruck zu verwenden, als sogenannter Gletscherknecht auf den Gletschern in der Nähe meines Heimatdorfes gearbeitet hatte. Wir vermaßen die Bewegung der Gletscher und konnten von Jahr zu Jahr mit freiem Auge und von Weitem schon ihren kontinuierlichen Rückgang erkennen. Die Messdaten lieferten dann nur den Beweis, dass da etwas Ungeheuerliches im Gange war, das damals noch nicht oder erst zögerlich mit Begriffen wie Klimawandel und Erderwärmung zusammengebracht wurde. Wir sagten nicht Gletscher, wir sagten Ferner zu ihnen, und fast schien es, als könnte man einer vorsintflutlichen Tierart bei ihrem langsamen Aussterben zuschauen. Meine Aufgabe war es, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit einem Reflektorstab von einem Vermessungspunkt zum anderen zu marschieren, ihn dort in Stellung zu bringen, dass der Punkt anvisiert werden konnte, und mich dann auf den Weg zum nächsten zu machen. Dafür stieg ich einen Berghang hinauf und den anderen hinunter, dafür turnte ich auf Moränenkegeln herum und eilte über Schnee und Eis, und wenn es zu glatt wurde, zog ich meine Turnschuhe aus und tappte auf bloßen Strümpfen über die glasige Gletscheroberfläche. Die Wolle fraß und schmolz sich in der Kruste fest, dass ich buchstäblich über Wasser ging wie nur je einer und in diesem Stil jede Steigung hätte bewältigen können. Keine Bergschuhe zu tragen war eine Dummheit, aber wie viele Dummheiten dieser Zeit Ehrensache. Die Touristen, die auf dem Weg zu den Gipfeln, bepackt mit ihren Rucksäcken, Steigeisen und Eispickeln, am Seil daherkamen, waren meistens Deutsche, aber wir nannten sie Russen, und wenn einer von uns mit seinem Fernglas eine Gruppe entdeckte und sagte: „Da unten kommen sechs Russen“, war das immer ein Anlass zu Freude und Belustigung. Ausgerüstet, wie sie waren, hätten sie unterwegs zum Mount Everest sein können oder zu einer monatelangen Nordpol- oder Südpolexpedition und fanden sich dennoch oft genug in Situationen wieder, in denen ihnen ihre ganze Ausrüstung nicht half und in die sie sich ohne ihre Ausrüstung wahrscheinlich gar nicht erst gewagt hätten. Ich hatte einen Bergführer-und-Skilehrer-Vater und mehrere Bergführer-und-Skilehrer-Onkel, die alle nicht nur einmal bei widrigen Bedingungen und unter Gefahr für das eigene Leben in die Berge hatten müssen, um einen Russen, der sich verlaufen hatte, in ein Gewitter oder in eine Lawine geraten war, zu retten oder, wenn er nicht mehr zu retten war, seine Leiche zu bergen. Auch hatte mein Onkel Vinzenz, schon nicht mehr der Jüngste, eine Gruppe Russen am Seil und war mit ihnen unterwegs ins Hintere Eis – ein topografischer Name, der in mir Schauer von Wärme und Kälte auslöst: das Hintere Eis und in seiner Nähe die Vordere, die Mittlere und die Hintere Hintereisspitze –, als er selbst einen Sekundenherztod