Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Das wichtigste ist wohl ganz simpel, für Literatur zu begeistern und glaubhaft zu machen, dass man von ihr mehr erwarten darf und auch mehr bekommt als den Plot. Sie macht für sprachliche und andere Schräglagen hellhörig und hat ein Potenzial des Widerständigen, das es als Trademark neu zu positionieren gilt. Im Einzelfall geht es um das Aufzeigen der Potenziale, Qualitäten und Schwächen, denn auch damit hat ein Buch Teil an der Funktion von Literatur, Medium der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu sein.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Literaturkritik sollte sich als Korrektiv zum Markt- und Eventgeschehen des Literaturbetriebs positionieren, nicht als Begleitmusik. Das ist keine Absage an die Eventisierung, es gilt nur die beiden Bereiche klarer zu trennen, um nicht selbstverschuldet an Glaubwürdigkeit und damit weiter an Terrain zu verlieren. Außerdem hat Literaturkritik in demokratiepolitisch kritischen Zeiten – wie jeder kritische Diskurs – auch eine politische Verantwortung.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritikerin?
Für den prinzipiellen Blick auf Sprache und Verfahrensweisen von Literatur ganz bestimmt. Für literarische Vielstimmigkeiten haben Bachtin und Genette sensibilisiert, für soziologische und andere Hintergrundprozesse Bourdieu und Benjamin, für Diskurstheoretisches Foucault und Jacques Rancière, aber auch Homi Bhabha. Lektüren dieser Art sind nach wie vor anregend – für den literaturkritischen Alltag bilden sie freilich nur eine Art basalen Hintergrund.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Prinzipiell bin ich mehr für die Tradition der feinen Klinge à la Alfred Polgar als für jene des Karl Kraus’schen Bihänders. An Wendelin Schmidt-Dengler hat mir immer seine große Offenheit den verschiedenen, auch konträren ästhetischen Konzepten gegenüber, gefallen, und natürlich sein sprachlicher Witz bei weitgehendem Verzicht auf Untergriffe. An Kritikern wie Karl-Markus Gauß schätze ich das Engagement, Vergessenes oder Übersehenes neu zur Diskussion zu stellen.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Es können nie genug sein. Letztlich ist das Schöne an dieser Arbeit, dass man eigentlich nichts je „umsonst“ liest, alles macht den Lesehorizont weiter. Es ist nicht möglich, etwas Gelesenes nicht in den Gesamtkosmos einzubetten, der sich im Lauf der Jahre so ansammelt und durch jedes neue Leseerlebnis neue und andere und wieder andere Verknüpfungen bekommt.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Das sind wohl eher viele. Zählen empfiehlt sich für LiteraturkritikerInnen nie. Weil man eben nichts „umsonst“ liest, hat alles irgendwie mit der Arbeit zu tun. Würde man das im strengen Sinn so sehen und die Lesestunden quantifizieren, käme ein Stundenhonorar heraus, das man vielleicht sogar in den südostasiatischen Elendsfabriken der Modekonzerne für bedenklich hielte.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Wenn ich mich recht erinnere, war damals eine schwierige Lese-Zeit. Karl May war durch, Simenons Maigret-Bände auch, Kafka schon verehrt, aber nicht verstanden. Zu den ersten großen Lektüreeindrücken gehörten dann Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frischs Mein Name sei Gantenbein und die beiden Bände von Enzensbergers Museum moderner Poesie. Auf die – hier leicht verhüllte – Frage nach Lieblingsbüchern habe ich eine Antwort immer verweigert. Bloßes Namedropping ist fad – und Mitgliedschaften in meiner privaten Best-of-Liste kennen auch Ablaufdaten. Solange Leser lesen, bleiben allfällige Rankings veränderbar. Lesen abseits des Alltagsgeschäfts bedeutet jedenfalls immer eher den Griff zu schon einmal Gelesenem und häufig zu Lyrik.
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Siehe Frage Nr. 5.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Das scheint in den bisher erschienenen Interviews die schwierigste Frage für KritikerInnen zu sein. Manches verdrängt man wohl tatsächlich. Aber an einige Fehlurteile erinnere ich mich noch gut. Jürgen Becker zum Beispiel habe ich in den politisch aufgeladenen 1980er-Jahren – wie auch Handkes Langsame Heimkehr – in die Schublade „Neue Subjektivität“ verbannt. Völlig falsch – die Schublade insgesamt wie das Urteil in beiden Fällen. Ein jüngeres Beispiel wäre Xaver Bayers Roman Weiter, den ich bei Erscheinen zu wenig als phänomenologisch wie sprachlich spannende Auseinandersetzung mit der Welt der Computerspiele wahrgenommen habe.