Fragebogen: Gerrit Bartels

Zum Geschäft der Literaturkritik heute: „Es ist nicht so leicht, sich dem Druck zu widersetzen.“

Online seit: 13. Oktober 2017
Gerrit Bartels
Gerrit Bartels (Foto: Thilo Rückeis/Tagesspiegel)

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die wenigen guten von den vielen mittelmäßigen bis schlechten Büchern unterscheiden. Sortieren. Informieren. Neues entdecken. Und genau begründen, warum es sich lohnt, genau dieses Buch, diese Art von Literatur zu lesen. Zudem: Begeisterung für Literatur vermitteln und wecken. Dabei sollte im besten Fall die Literaturkritik selbst einen gewissen Unterhaltungscharakter haben, um genau der Literatur, die mehr ist als bloße Unterhaltungsliteratur, zu ihrem Recht zu verhelfen.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Es ist nicht so leicht, sich dem Druck zu widersetzen, der von außen auf die Literaturkritik ausgeübt wird: Die Verlage, die bestimmte Bücher pushen wollen, selbst wenn sie nicht gut sind, die Bestsellerlisten, die angeblich vermitteln, „was gelesen wird“, die Erwartungen von Menschen, die am liebsten im Urlaub lesen oder eben die Bücher, die gerade alle lesen, und die meinen zu wissen, wie Literaturkritik sein muss. Warum besprecht ihr nicht den neuen Suter? Warum ignoriert ihr den neuen Irving? Überdies wird das Verlangen immer größer, dass es schnell gehen muss, dass Bücher „empfohlen“ werden sollen oder eben nicht, „in aller Kürze“, dass der Daumen hoch- oder runtergehen soll. Ein Für und Wider zu diskutieren, abzuwägen, das wird immer schwieriger. Ein Keulenschlag ist es jedes Mal, wenn jemand nach der Lektüre einer Rezension von mir sagt: Ich weiß jetzt gar nicht, ob du das Buch gut oder schlecht fandest.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Ich würde lügen, wenn dem bei jeder Rezension, die ich schreibe, so wäre. Sie helfen sicher manchmal, wenn es gilt, die Form über den Inhalt zu stellen, wenn es gilt, größere Zeiträume in der Literatur zu überblicken, was ja immer nur mit einem gewissen Abstand geschehen kann, und doch sind Literaturkritik und Literaturwissenschaft zwei unterschiedliche Felder – was man immer auch merkt, wenn Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sich literaturkritisch betätigen.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Den Fernsehkritiker Marcel Reich-Ranicki habe ich früher immer sehr geschätzt, im Literarischen Quartett. Als schreibende Kritiker waren mir Joachim Kaiser, wenn er über Literatur schrieb, und vor allem Reinhard Baumgart lieber und näher, wohltuend unaufgeregt, frei von Apodiktik. Und heute? Gibt es einige, Jörg Magenau zum Beispiel, Julia Encke, Christoph Schröder …

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Was für eine Frage! Muss man wirklich so viel gelesen haben? Die Masse macht es bestimmt nicht. Das merkt man allein daran, dass man in den jeweiligen Saisonen, so es sie überhaupt noch gibt (für die Verlage ist inzwischen das ganze Jahr Saison), viel zu viel liest. Wichtiger ist, wie man liest, wie sorgfältig man liest. Auch wichtig: ein bestimmter Kanon, der individuell ganz verschieden sein kann und den man stets gewahr und, so es die Zeit zulässt, vertiefen sollte.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Siehe oben – vielleicht eine pro Woche? Jedenfalls zu viele, die oft davon ablenken, dass so viele bessere Bücher schon geschrieben worden sind, man aber nicht dazu kommt, sie zu lesen. Trotzdem: Einen neuen Bolaño, einen neuen Herrndorf entdecken zu wollen – dieser Reiz verkümmert nie.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Mit 15 habe ich noch Jugendbücher, an die ich mich nicht mehr erinnere, die Lustigen Taschenbücher und Jerry Cotton gelesen – ich glaube, ich war 16 oder 17, als mein Vater mir die Jerry-Cotton-Hefte tatsächlich verbot (er war sonst nicht so) und mir anschließend Hemingways Gesammelte Werke in so einer braunen Rowohlt-Billigtaschenbuchausgabe schenkte. Die habe ich dann gelesen, von Sturmfluten des Frühlings, was ich als Parodie auf einen Roman von Sherwood Anderson überhaupt nicht verstand, über Fiesta, was ich großartig fand, bis zu Paris, ein Fest fürs Leben, was mir schließlich haufenweise andere Schriftsteller offerierte, die ich lesen wollte, allen voran F. Scott Fitzgerald. Ja, und so ging es weiter, auch mit den deutschsprachigen Autoren, mit Böll, Johnson, Handke, Grass, Bernhard, dann Thomas Mann, Musil, Proust und Joyce.

Wen schätze ich heute? Manches von Hemingway geht überraschenderweise immer noch, auch Fitzgerald, Proust ist ein Lebensautor. Wirklich beglückend an ganz neuen Sachen, weil so seltsam, so anders, so neben der Spur, war Roberto Bolaños 2666, eigentlich fast alles von diesem leider schon so früh verstorbenen Chilenen, dann Herrndorf, Kurzeck, auch Knausgård, ja, doch, es gibt so einiges.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Sehr regelmäßig, sehr aufmerksam die Sportteile von Süddeutscher Zeitung und Tagesspiegel. Jedes Buch, das ich mit in den Urlaub nehme und keine Neuerscheinung ist, das ich wiederlese, das den eigenen Kanon vertiefen soll – am Ende hat es doch wieder mit dem Beruf zu tun.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Grundlegend sicher nicht. Im Nachhinein, so kommt es mir vor, war ich sicher das eine oder andere Mal zu freundlich, zu milde.

Gerrit Bartels, Jahrgang 1967, ist Literaturredakteur des Berliner Tagesspiegels. Zuvor war er Literaturredakteur bei der taz und arbeitete als Arzt in der Inneren Medizin und Psychiatrie.

Quelle: Dieser Beitrag erschien zuerst in VOLLTEXT 2/2017.