Fragebogen: Paul Jandl

Paul Jandl zum Geschäft der Literaturkritik heute

Online seit: 4. April 2018
Paul Jandl (Foto: Hannah Andrae)
Paul Jandl. (Foto: Hannah Andrae)

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Ich glaube nicht, dass Kritik eine Art Posteingangsstelle für literarische Neuerscheinungen sein muss. Eine von sich selbst berauschte Behörde, die ordnet und zuweist: Stempel drauf, und ab an den passenden Leser. Stattdessen glaube ich an eine Kritik, die tatsächlich auf der Höhe der Literatur ist. In der es darum geht, Erkenntnisprozesse in allen ihren Verschaltungen sichtbar zu machen. Zu zeigen, wie die Welt ins Buch kommt und von dort wieder in meinen Kopf als Leser. Neben der Lust am Buch muss es beim Schreiben von Kritiken auch eine Lust am eigenen Text geben. Das ist man sich selbst und dem Leser schuldig. Man darf sich und andere nicht langweilen. Nichts schlimmer als eine Literaturkritik, deren Blasiertheit es gelingt, sich bis ins Fernsehen hochzuarbeiten.

Was sind die größten Herausforderungen für die Kritik heute?
Eine große Herausforderung ist wohl der Bedeutungsverlust der klassischen Literaturkritik. Ihr gehen die Leser verloren, und auch in den Medien gibt es immer weniger Platz dafür, ohne dass anderswo etwas Ähnliches nachwachsen würde. Ich kann mich täuschen, aber mir scheinen auch die Schmähreden gegen das Anspruchsvolle lauter zu werden.

Spielen literaturwissen schaftliche Theorien eine Rolle für IhreTätigkeit als Kritiker?
Es gibt die ausgewiesenen Theoretiker, die man gelesen hat, und die vielen, bei denen Poetologie und Praxis miteinander verschmelzen. Das sind vielleicht die Wichtigeren. Bei mir geht es da von Michail Bachtin und Walter Benjamin über Gaston Bachelard und Roland Barthes bis zu Reinhard Priessnitz und Monika Rinck. In Sachen Theorie gilt beim Schreiben einer Kritik aber der Satz: Was man an Kräften spart, tritt als Stil zutage.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Als geborener Österreicher wächst man unter dem Zentralmassiv eines Karl Kraus und Alfred Polgar auf. Was Sprache kann, wenn sie nicht gleich lockerlässt und in Phrasen fällt, kann man bei den beiden sehen. Dann gibt es eine elastische Intelligenz, in der Scharfsinn und Ironie alles Falsche und Pathetische entlarven. Dazu zähle ich Franz Schuh, Sigrid Löffler, Daniela Strigl und den feinen Stilisten Ulrich Weinzierl. Ihm verdanke ich viel. Wichtig ist auch Ilma Rakusa. Ihr großes Wissen über die Literaturen Europas, ihr Wissen als Schriftstellerin. Von den Jüngeren Tobias Lehmkuhl als sehr genauer Leser.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Auf die Zahl kommt es nicht an, wenn man wenigstens einige davon wirklich verstanden hat. Wenn man weiß, was eine Metapher ist und was sie kann. Wenn man weiß, was Ironie ist.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Dreißig? Vierzig?

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Mit 15, 16, 17: Als erste Säule literarischer Bildung der Drehständer einer Provinzbuchhandlung. Hesse, Grass, Böll, aber auch Celan, Camus, Sartre und Ernst Bloch. Erstere habe ich seither nicht mehr gelesen, und danach waren es oft Lektüren in konzentrischen Kreisen. Rund um Proust, Joyce und Flaubert. Francis Ponge war wichtig. Robert Musil, Konrad Bayer. Und die politische Psychologie der osteuropäischen Literaturen. In der deutschsprachigen Literatur vielleicht Thomas Lehr, Sibylle Lewitscharoff, Brigitte Kronauer, Oswald Egger, Max Goldt.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Die romanhaften Todesanzeigen in der FAZ.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Manches Urteil über mich selbst.

Paul Jandl, geboren 1962 in Wien, lebt als Literaturkritiker in Berlin. Seit 1992 arbeitet er, mit Unterbrechungen, für das Feuilleton der NZZ.

Quelle: VOLLTEXT 4/2017 (11. Dezember 2017)

Online seit: 4. April 2018