Fragebogen: Brigitte Schwens-Harrant

Zum Geschäft der Literaturkritik heute.
Manche aber lesen Berge von Büchern und können dann vielleicht trotzdem nicht „kompetent“ urteilen.

Online seit: 2. Mai 2019
Brigitte Schwens-Harrant @ Styria Media Group / Marija Kanizaj
Brigitte Schwens-Harrant: „Literaturkritik sollte eine Art spannende Erzählung sein.“
Foto: Styria / Marija Kanizaj

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die Auffälligste ist wohl: über Literatur zu informieren und sie ins Gespräch zu bringen. Das tun auch andere, die Literaturkritik aber tut es auf eine spezielle Art und Weise, indem sie etwa auch die Kriterien gelungener Literatur reflektiert. Im besten Fall gehen Literaturkritikerinnen neugierig auf Suche, auch jenseits der von PR-Abteilungen gehypten Bücher, entdecken für Leserinnen und Leser Bücher und diskutieren sie: in einem Stil, der Freude an Literatur und Sprache verrät, der verständlich ist und nicht hermetisch-elitär, ohne dass aber Darstellung und Argumentation simpel sein müssten. Kriterien der Kunst können dabei ebenso diskutiert werden wie wichtige gesellschaftspolitische Fragen. Literaturkritiker schulen damit das eigene Denken und Argumentieren und laden mit ihren Texten oder Äußerungen andere dazu ein, das ebenso zu tun. Angesichts gegenwärtiger politischer Entwicklungen wird diese Aufgabe wichtiger denn je, selbst und gerade wenn Literaturkritik vielleicht immer weniger Menschen interessiert.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Dass Kritik nicht mehr erwünscht ist. Das betrifft nicht nur die Literatur, nicht nur die Kultur. Sondern auch den politischen Journalismus. Dem gilt es entschieden entgegenzutreten. Eine Gesellschaft ohne Kritik ist nicht wünschenswert. Dass Kultur – und mit ihr die Literatur – an den Rand der Wahrnehmung, in die Bedeutungslosigkeit gedrängt wird. Das beginnt leider trotz so vieler engagierter Lehrer bereits in der Schule – siehe neuer Deutschunterricht und die Bedeutung der Literatur darin – und hat dann auch seine Auswirkungen im gesellschaftlichen und medialen Bereich.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Ja. Wenn professionelle Kritikerinnen und Kritiker ihre „Kompetenz“ betonen, dann sollten sie auch in diversen Theorien bewandert sein. Ich habe Roland Barthes gelesen und französische Denker, ich schätze auch angloamerikanische Ansätze, und in den letzten Jahren habe ich mich mit postkolonialen Theorien auseinandergesetzt, weil sie den Blick schärfen für auch politisch relevante Klischees, etwa wie das Bild vom Fremden gezeichnet wird in der Literatur. Den Text alleine gibt es nicht, Literaturkritiker sind daher gut beraten, sich nicht nur mit Literaturtheorien, sondern auch mit dem auseinanderzusetzen, was Philosophen, Soziologen etc. denken und schreiben. Ohne dass man dabei einem Mainstream oder Trend folgen müsste oder womöglich dann vergisst, aufmerksam den Text selbst zu lesen. Theorien dienen eher dazu, mir selbst über meine jeweilige Positionierung und Argumentation klar zu werden, nicht aber, den Leserinnen zu zeigen, wie klug ich bin, oder sie zu belehren, noch sie mit unverständlichem Fachjargon zu langweilen. Konkrete Literaturkritik sollte eher eine Art spannende Erzählung sein.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Ich hab’s nicht so mit Literaturpäpsten, die mit großer Geste und Fallbeil urteilen. Ich schätze jene, die zu erkennen geben, dass sie neugierig sind, dass sie suchen, dass sie sich um guten Stil und Argumentation bemühen.

Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Wie soll man das quantifizieren? Fünf Bücher sind jedenfalls nicht genug und zehn sind sicher nicht zu viel. Manche aber lesen Berge von Büchern und können dann vielleicht trotzdem nicht „kompetent“ urteilen. Die Menge macht noch keine Kompetenz.

Wie viele haben Sie gelesen?
Ich habe keine Ahnung, wie viele Bücher ich gelesen habe. Am Ende meiner Schulzeit habe ich begonnen, Lesehefte zu führen. Da habe ich akribisch alles eingetragen, was ich gelesen habe, samt Bemerkungen und Urteil. Leider habe ich damit einige Jahre nach meinem Studium aufgehört. Ich würde heute gerne lesen, was ich seinerzeit zu jenen Büchern dachte, über die ich nicht geschrieben habe, und ob und wie sich die Sichtweise eventuell geändert hat.

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Keine Ahnung. Manchmal sogar einige pro Woche.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Mit 15, 16 begann ich Camus zu lesen. Den las ich dann vor lauter Begeisterung auch auf Französisch. Heute weise ich unter anderem gerne auf Toni Morrison hin, vor allem auf ihren Roman Menschenkind.

Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Nichts. Da ich keine Kochbücher lese und auch keine Bücher, die mir sagen, wie ich zu leben habe, hat alles, was ich auch „privat“ lese (vor allem Zeitungen und Sachbücher), doch irgendwie mit meinem Beruf zu tun, fließt in mein Denken und Schreiben ein.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Vielleicht gibt es manchmal für mich selbst kaum merkliche Verschiebungen in der Sichtweise, weil sich Wissen dazugesellt hat oder eine Erkenntnis im Sinn von „Aha, da habe ich etwas übersehen, überlesen“. Spannend sind auch öffentliche Gespräche über Literatur mit Kolleginnen und Kollegen, da kann man gut das eigene „Urteil“ überprüfen, womöglich schärfen, vielleicht aber eben auch überdenken. Ich sehe das literaturkritische Tun eher dialogisch denn dogmatisch.

Brigitte Schwens-Harrant leitet das Feuilleton der Wochenzeitung Die Furche und ist Mitherausgeberin von literaturkritik.at. 2015 wurde sie mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet. Sie veröffentlichte unter anderem Literaturkritik – Eine Suche (Studienverlag, 2008), Schrift ahoi! (Klever, 2013) und Ankommen (Styria 2014).

Quelle: VOLLTEXT 3/2018 – 8. Oktober 2018

Online seit: 2. Mai 2019