Präauer streamt: Lilies of the Valley

Von Teresa Präauer

Online seit: 30. April 2018
Präauer streamt: Lilies of the Valley
„There is something disturbing in this song“, schreibt User tomek860827 in den Kommentaren auf YouTube, und JustDance Pinky 33 schreibt: „Most of these people have died …“

Es gibt im Internet ein kleines Filmchen, das geistert dort schon länger durch die Foren. Ich habe es immer wieder einmal gesehen. Manchmal denke ich daran, und muss es mir dann vorstellen, höre die Musik dazu schon im Kopf. Muss die Maschine gar nicht einschalten, die doch ohnehin immer im Stand-by-Modus ist, selten offline. Ich habe mich verliebt. In diese Musik und in dieses kleine Filmchen, und vielleicht kann ich im Schreiben ergründen, woran das denn liegen mag.

Zum Liegen und Sich-Verlieben sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs erlaubt, aber ich stehle mich nicht davon: In Hartmann von Aues Heldenerzählung Erec heißt es einmal, als Erec verliebt mit seiner Angetrauten Enite allzu lang beisammen liegt und die Ritterspflicht, Staats- und Kriegsführung darob vernachlässigt hat: Er habe sich verlegen. Eine Verlegenheit, und ich habe den Lexer vor mir liegen, das Mittelhochdeutsche Taschenwörterbuch aus Studientagen, wäre demnach eine „schimpfliche Untätigkeit“. Ich muss gar nicht weiterblättern, schon auf derselben Doppelseite stoße ich auf das Verlieben, das ein „Verbleiben“ und „Verharren“ ist, auch ein „Einverleiben“.

Bei Erec heißt es: „Êrec wente sînen lîp / grôzes gemaches durch sîn wîp. die minnete er sô sêre / daz er aller êre / durch si einen verphlac, unz daz er sich sô gar verlac / daz niemen dehein ahte / ûf in gehaben mahte.“ Man muss nicht viel wissen, um das zu verstehen, denn manches lehren uns Umsicht und Erfahrung. Das Zirkumflex über den Vokalen ist hier ein Dehnungs- oder Längenzeichen, man rechnet die Lautverschiebung hinzu und denkt sich manch harten, stimmlosen Konsonanten als weichen, stimmhaft geschriebenen (dennoch als Fortis gesprochen, da auslautend), und macht so aus „lîp“ nicht die Lippe, sondern den Leib (und das Leben). Ich schreibe das hier nieder, um sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen, die stillen Tage in Salzburg, als wir in unseren Betten lagen und mittelhochdeutsche Versepen lasen. Erec gewöhnte seinen Leib sehr an Gemächlichkeit durch seine Frau. Die liebte er so sehr, dass er sich ihretwegen nicht mehr um seine Ehre kümmerte, bis er sich so völlig verlag, dass keiner mehr Achtung vor ihm haben mochte.

Präauer streamt: Lilies of the Valley
This music … it’s like you’re at a party, but something terrible is coming …

Gegen die Verlegenheit hat schon manchmal das Tanzen geholfen. In meinem kleinen Filmchen, in das ich mich so verliebt habe, tanzen die Paare. Sie tanzen in einem neuen Mash-up, einem Zusammenschnitt von alten Filmszenen, die, so erfahre ich nun, da ich die User-Kommentare, die unterhalb des Videos angebracht sind, lese, aus einem halbstündigen Film aus dem Jahr 1956 stammen: aus Dance americana, einer Art Geschichte amerikanischen Lebens, Kultur und Wirtschaft im Lichte der Tänze und Tanzveranstaltungen der letzten beiden Jahrhunderte. Ein rares Fundstück aus dem Archiv der U.S. Information Agency, nicht zu verwechseln mit der NSA.

Jun Miyake, der japanische Komponist, hat diese Musik geschrieben für Pina Bausch. Wim Wenders verwendete das Stück mit dem Titel Lilies of the Valley auch in einer zentralen Sequenz seines Pina-Films aus dem Jahr 2011, die ebenso auf YouTube unter dem Namen des Musikstücks gefunden werden kann. Ein zartes, doch giftiges Maiglöckchen hat Pina Bausch uns mit ihrer Choreografie hier hinterlassen, und es mag wohl blasphemisch anmuten, sich nicht auf ihre Bilder zu berufen, sondern stattdessen den Videozusammenschnitt aus Dance americana dazu zu streamen. Wer dieser Cutter und Composer des Found Footage, von dem ich hier spreche, ist, lässt sich nicht mehr herausfinden, aber es lässt sich sagen, dass es jemand gewesen sein muss, der Taktgefühl hat, der die Musik hört und die Bilder sieht. Jemand, der ein melancholisches Stück Musik kühn kombiniert mit einem allzu fröhlich hopsenden Tanzen, jemand, der vielleicht etwas von der Liebe versteht und ihren bittersüßen Geschmack kennt. Pina Bausch, um doch noch einmal auf sie zurück zu kommen, war in ihrer Bildsprache selbst schon eine Meisterin des Schneidens und Überblendens, der Kombination von hohem Pathos mit kleiner Geste und umgekehrt. Jun Miyake nun fügt in seiner Musik einfache Tonfolgen seriell aneinander, sie klingen wie ein Fragen und Antworten, unterlegt von der Nostalgie des Bossa Nova und der Chansonmelodien der Nouvelle Vage. „There is something disturbing in this song“, schreibt User tomek860827 in den Kommentaren auf YouTube dazu, und JustDance Pinky 33 schreibt: „Most of these people have died …“ Stephen Jules Rubin meint „whatever this is its dope“ und NaedMalario: „This music … it’s like you’re at a party, but something terrible is coming … you cannot fully enjoy the moment, because you feel inside you a breath of despair …“. Ja, die User, sie sprechen ein großes Wort gelassen aus.

Getanzt wird nun dazu im Zusammenschnitt der schwarz-weißen Bilder, vermutlich aus den frühen 50er-Jahren, die Frauen tanzen vor, die Männer tanzen nach. Es ist ein Sich-Einüben im selben Takt, das hier erprobt zu werden scheint, wir machen vor, ihr macht es nach. Ein Springen und Sich-Drehen, ein Räder- und Purzelbäume-Schlagen, ein Hände-Ausschütteln, ein Tanzen wie die Pinguine, lächerlich und schön. Fred Astaire tanzt dann dazwischen einmal Charleston, das sind wohl noch ältere Bilder (wenn ich mich nicht täusche, so lang lebe ich ja auch noch nicht). Am Ende des Filmchens liegt ein Cowboy tot in der Prärie des Filmstudios und wird von einer Frau in Weiß in ausladender Stummfilmgeste betrauert.

Ach ja, ein weißes Kostüm im Schwarz-Weiß-Film war oft nicht weiß, sondern gelb, habe ich einmal erzählt bekommen. Ist nichts, wie es scheint, oder ist alles nicht so einfach, nie so einfach, wie wir es uns manchmal wünschen? Ein Weiß ist ein Gelb, eine Geste ist eingelernt und dann doch echt, ein Zitat ist nicht ironisch, sondern nostalgisch – und dann wieder ganz ernst und authentisch und neu? Ich sage es euch, liebe Leserinnen und Leser, es ist wohl die Liebe, tausendfach erprobt und doch so ungelenk, dass sie euch den Kopf verdreht und euch verrückt macht und tanzend.

Verbleiben, Verharren und Einverleiben. Diese Kolumne ist dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet.

 

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Teresa Präauer ist Autorin und bildende Künstlerin in Wien und pflückt dort einen Maiglöckchenstrauß aus Wörtern, obwohl es bereits Sommer ist. Statt sich der Liebe zu widmen, sollte sie aktuell an einem Theaterstück für das Schauspiel Frankfurt (Uraufführung 2018) schreiben.

Quelle: VOLLTEXT 2/2017 (5. Juli 2017)

Online seit: 30. April 2018