Präauer streamt: Noah

„Was nun passiert, hätte keiner geglaubt“, würde die ködernde Clickbait-Zeile dazu lauten, läse man diesen Text, hic et nunc und fragte sich dabei, ob ein Nachdenken über einen Film wie diesen eigentlich auch ohne Anglizismenschleuder auskäme.

Online seit: 11.12.2017

Es gibt Filme, die möchte man nur auf der großen Leinwand gesehen haben. Der schwedische Film The Square, der aktuell, im November und Dezember 2017, in den Kinos läuft, ist so einer. Die Affenszene, die auch auf dem dazugehörigen Kinoplakat abgebildet ist, würde den kleinen Computerbildschirm sprengen, so übermächtig ist sie und eindrucksvoll … Hingegen gibt es Filme, Serien, Videos, die gerade für das Streamen via Monitor produziert worden sind. Nicht, weil sie weniger eindrucksvoll wären, sondern weil das Medium selbst hier die Botschaft ist. Noah von Walter Woodman und Patrick Cederberg ist so eine Arbeit über die sogenannte Benutzeroberfläche selbst, und, über den eigenen Laptop zu Hause abgespielt, ergreifen ihre Bilder beinah gespenstisch Besitz vom je eigenen Personal Computer.

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Why does it say I’m single on Facebook?

Geht man auf die Seite https://vimeo.com/85774795 und klickt dann auf das Play-Symbol im Fenster des Videoanbieters, öffnet sich auf dem eigenen Monitor (am besten wählt man hierfür in den Einstellungen die Vollbildversion) ein Dialogfenster zur Passworteingabe. Ein Cursorpfeil bewegt sich. Der Name Noah wird eingetippt ins oberste Feld, direkt darunter ein verdecktes Passwort, schließlich öffnet sich die Ansicht auf den Desktop: Ein Foto als Hintergrundbild ist darauf zu sehen, ein junger Mann und eine junge Frau umarmen sich auf einer Rolltreppe, sie hat einen Kaffeebecher von Starbucks in der linken, mit der rechten Hand berührt sie den jungen Mann vertraut am Hinterkopf. Es gibt keinen erklärenden Audiokommentar zu diesem Bild, man hört nur das Klackern der Tastatur und den bekannten Synthie-Sound, der das Hochfahren eines Microsoft-Computers markiert. Anzunehmen ist: Noah ist der junge Mann auf dem Foto.

Jetzt kommen die kleinen File-Symbole zum Vorschein, dann die Taskleiste unten, das Zeichen für Google Chrome, der Cursor bewegt sich dorthin und klickt. „You-“ wird ins Adressfeld der aufploppenden Website getippt, die Funktion des automatischen Vervollständigens ergänzt auf „Y-outube“. Doch der Cursor markiert die Adresse, löscht und korrigiert sie auf „Youporn“. Ab hier beginnt, wovor man im englischen Sprachraum mit „NSFW“ warnen würde, Not Safe For Work, besser zu Hause ansehen. Die Kategorie „Amateur“ wird ausgewählt, das Filmchen „A quite night out for the girls“ setzt ein. Währenddessen wird ein zweiter Tab geöffnet, Facebook läuft parallel im zweiten Fenster mit. Spätestens hier wird klar: Noah ist ein Teenager, der sich beim raschen Klicken durchs Internet die Zeit vertreibt.

Im Messenger von Facebook öffnet sich daraufhin ein Chat-Fenster, eine gewisse Amy Schultz textet Noah an: „Hey, are you at home? I need to talk to you“. Das Ganze bewährtermaßen, wie es sich fürs schnelle digitale Schreiben gehört, unter Missachtung korrekter Zeichensetzung und mit ein paar Emoji-Herzen versehen. Emoji-Herzen?! Amy muss Noahs Freundin sein. Das Mädchen mit dem Kaffeebecher. Nebenbei zu hören ist weiterhin die Tonspur von Tab eins, „A quite night out for the girls“. „Skype?“, fragt Noah im Chat-Fenster von Facebook, und ergänzt dann: „I’m online“. „I’m online“, ständig im Netz, immer verfügbar, pausenlos am Suchen, Texten, Schauen, Lesen, Kontakte-Knüpfen und -Halten, könnte auch der Untertitel zu diesem 17-minütigen Filmchen lauten, das 2013 beim Toronto International Film Festival seine Premiere feierte.

Wer sich so durchs Internet bewegt, ständig mehrere Tabs für Websites sichtbar hintereinandergereiht, um auf mehrere Fenster unmittelbar zugreifen zu können, dabei die diversen Messenger-Dienste geöffnet, Facebook, Skype, Chatroulette, außerdem ständig die Google-Suchmaschine angeworfen, um sofort, noch während des Sprechens oder Zuhörens, Namen einzutippen, Begriffe zu recherchieren, der Freundin und dem vermeintlichen Nebenbuhler hinterherzuspionieren, wer also sein Interesse und seine Neugier (oder Langeweile) multitasking füttert, dem wird die Geschwindigkeit dessen, was nun passiert, nicht unbekannt erscheinen. „Was nun passiert, hätte keiner geglaubt“, würde die ködernde Clickbait-Zeile dazu lauten, läse man diesen Text, hic et nunc, nicht ohnehin auf Papier und fragte sich dabei, ob ein Nachdenken über einen Film wie diesen eigentlich auch ohne Anglizismenschleuder auskäme.

So viel sei dennoch verraten: Amy ruft via Skype an, wir sehen erstmals auch Noah auf dem Bildschirm, sein junges Gesicht im Fenster des Videotelefons, hören seine Stimme und hören Amys Stimme. Es entspinnt sich ein Dialog, der auf Missverstehen hinausläuft und jäh unterbrochen wird. Noah lässt sich daraufhin im Netz treiben, knackt Amys Facebook-Profil, tut verlässlich all die Dinge, die das Heranwachsen in digitalen Zeiten wohl zu keinem Zuckerschlecken gemacht haben. Der bittere Zusammenhang von Facebook-Kommentaren eines unbekannten Users, einem Selfie als Profilfoto und dem Ändern des sogenannten Beziehungsstatus muss hier nicht näher ergründet werden. Noah und Amy sind nicht zu beneiden. Dennoch ergibt das einen klugen, schnellen, detailreichen und sehr zeitgenössischen Kurzfilm über Liebe und Freundschaft im sozialen Netz, und für den Hinweis auf diese filmische Kostbarkeit sei meinem, entschuldige den Ausdruck, Facebook-Freund Matthias gedankt.

Youtube, was sonst? Diese Kolumne ist dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet.

Teresa Präauer ist Autorin und bildende Künstlerin in Wien. Sie assistiert der Geburt der Kunst aus dem Müll des Internets. Erich-Fried-Preis 2017.

Quelle: VOLLTEXT 4/2017 (11. Dezember 2017)

Online seit: 18. April 2018