Präauer streamt: Gibraltar

Eine Kolumne von Teresa Präauer

Online seit: 18. Februar 2017

Gibraltar: das liegt dort, wo das Mittelmeer mit dem Atlantik verbunden ist und wo sich Europa und Afrika geografisch am nächsten sind. Die Iberische Halbinsel streckt ihre kleine Zunge in den Süden hinunter, berührt aber den nordafrikanischen Hafen Ceuta nicht. Während Gibraltar nicht von Spanien, sondern vom United Kingdom regiert wird und auch nach dem angekündigten „Brexit“ ein Teil Europas bleibt, gilt die Stadt Ceuta als „autonome“ Exklave, die nicht Marokko, sondern Spanien unterstellt ist. So viel vorerst zu Trennung und Zugehörigkeit im geopolitischen Sinne, ohne dabei noch über Abschottungsmaßnahmen gesprochen zu haben wie einen 24 Kilometer langen und sechs Meter hohen Grenzzaun, der Ceuta von Marokko abschirmt. – Nein, Marokko von Ceuta und damit die afrikanische Einwanderung in die Europäische Union. Viel Geschichte steckt in diesem Wort Gibraltar, und sehr viel sogenannte Aktualität.

„Du sagst, du gehst nach Gibraltar“, lautet eine Zeile der Band Bilderbuch in ihrem Song Gibraltar, und ja, ich verliere mich in der Landeskunde und bin schon auf dem halben Weg dorthin. Zweieinhalb Minuten dauert das Vorspiel auf den E-Gitarren, ein x-mal wiederholtes Thema aus einer Abfolge von wenigen Tönen, bis der Sänger, Maurice Ernst, überhaupt zu singen anhebt: „Distanz.“ Und aus Gibraltar, diesem Ort voll tragischer, wirklich tragischer Bedeutung, wird in der zweiten Strophe einfach „Kanada“. Einfach, weil es sich reimt, austauschbar reimt. Weil sich darauf auch die nächste Songzeile reimen lässt: „Du sagst, du gehst nach Kanada. / Dann ist hier keiner da (…).“ Um in der dritten Strophe gleich wieder mit „Gibraltar“ anzutanzen, gefolgt von einem dreisilbigen „Bla, bla, bla“. So lautet nämlich die Antwort, nachdem der geliebte Mensch sich vertschüsst hat: Geh – wohin auch immer. Erzähl mir doch nichts. „Bla, bla, bla“: das ist die verbale Geste des Abtuns und Wegscheuchens.

Es gibt von diesem Song Gibraltar einen circa sechsminütigen Mitschnitt eines Konzertes vom Dezember 2015 im „Docks“ in Hamburg auf YouTube, gefilmt von einem Besucher, der unter dem Nicknamen „Fabjack Nordicjack“ sein Video ins Internet gestellt hat.

Sehen ist eben auch Zusehen, Sich-Raushalten bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit und Anspannung, und was Fabjack Nordicjack uns hier zu sehen gibt, sind zwei junge Männer, die im Gegenlicht des Bühnenscheinwerfers – es ist beinah das Licht der aufgehenden Sonne selbst – auf ihren Gitarren spielen. Rundherum Dunkel. Ein blond gefärbter Mann und einer mit dunklen Zöpfchen. Beide mit leicht gebogenen Nasen im Profil. Beide hübsch, vielleicht nicht zu hübsch. Beide so wahr, wie man es auf einer Bühne sein kann, auf der die Dramaturgie oft genug durchgespielt worden ist, die alten Rituale des Rock ’n’ Roll samt Schweiß und Nebel. Und trotzdem ist etwas daran wirklich wahr oder berührt beim Zusehen: es ist die körperliche Annäherung der beiden, gespielt und nicht gespielt gleichermaßen. Beinah berühren sich ihre Wangen, Maurice legt seinen Kopf an den Hals des Gitarristen mit den dunklen Zöpfchen. Er lacht dabei kurz, ein bisschen so, wie er immer lacht: amüsiert über die Situation, frohlockend, arrogant und ein wenig so, als habe er sich selbst bei einer Geste ertappt, die Zitat ist und doch auch, aktuell und momentan, Berührung. Wieder tropft eine Schweißperle von seinem Gesicht, oder tropft sie vom Gesicht des Zöpfchenmannes?, es ist nicht mehr zu unterscheiden. Sie haben sich ein Handtuch geteilt und wissen: wir alle haben dabei zugesehen.

„Das wird mir jetzt auch zu heiß hier, nä?“, hören wir jetzt, bei Minute 1:26 dieses kleinen Videofilmchens, eine Konzertbesucherin blaffen. Sie stört die Aufnahme, aber nicht zu sehr, denn es ist auch ihr nicht zu heiß, es ist auch ihr gerade heiß genug. Die gesamte Bühnenperformanz ist auf dieses Spiel ausgelegt zwischen Nähe und Distanz, es ist eine Koketterie mit homoerotischem Begehren, und es ist ein ganz bewusstes Anteasen des Publikums – sich über sogenannte Geschlechterrollen hinwegsetzend, wie das der Pop schon immer getan hat. Und trotzdem enthält diese Szene auch etwas Intimes, das nur zwischen den beiden stattzufinden scheint, einen zärtlichen Moment von Freundschaft, Mio, mein Mio. Und es gibt auch das Ungelenke, Schüchterne darin, das sich nämlich ein Klopfen auf die nackte Brust, das Hemd bis zur Mitte aufgeknöpft, vorher so lässig ausgemalt hat – aber noch wirkt es peinlich, weil es noch nicht ganz gelungen ist.

All das gefällt mir sehr gut. Es gefällt mir auch deswegen, weil es eben in keinem Moment eindeutig ist. Es ist und ist nicht ironisch, es ist und ist nicht bedeutsam, es sind und sind nicht die Achtziger, es ist und ist nicht neu. Man hält die Spannung. Ich finde, diese Band macht unglaublich gute Musik, die ihre Mittel kennt und verwendet und ausstellt. Glatt geschliffen und dabei mit feiner Klinge, sensibel. Schalkhaft und schlau, manchmal oberschlau oder gar-zu-beredt, und all das gefällt mir sehr und ist mir, zumindest als Zuhörerin und Zuseherin, nah, ja, „rasend nah“, und all das vermittelt sich auch über den matt schimmernden Bildschirm meines Laptops.

Erst etwa ab Minute 2:16 entlädt sich die musikalische Spannung des Vorspiels, die beiden, Maurice und der Zöpfchenmann, er heißt übrigens Michael Krammer, springen auseinander, das blaue Licht weicht einem orange-gelb-gefärbten, auch der gute Fabjack Nordicjack lässt jetzt ab von seinem Zoom und erweitert den filmischen Blick in die Totale der Bühnensituation mit ihren insgesamt vier Protagonisten. Die Konzertbesucherin von Minute 1:26 hält fürderhin still, sie hat sich temperaturtechnisch akklimatisiert, Maurice kann mit dem Gesang beginnen: „Distanz. / Long Distanz. / Du sagst, du gehst nach Gibraltar. // Distanz. / Du sagst, du gehst nach Kanada, / Dann ist hier keiner da, / Der mit mir tanzt. // Distanz. / Fame, Distance. / Du sagst, du gehst nach Gibraltar, / Bla, bla, bla. // Distanz. / Wir waren uns doch so rasend nah. // Du sagst, wir haben Internet. / Ich sage, was ist das – Internet? / Was ist dein Flüstern – ohne seinen Hauch? / Es ist aus, dafür Applaus!“ Bis zum „Applaus“ ist das der sehr knapp getextete Dialog einer Trennung, nein, es ist ein Monolog, der dem anderen die Worte in den Mund legt, wo auch immer der sich nun bereits befinden möge, Gibraltar, Kanada, nicht mehr da. Schlussmachen in digitalen Zeiten mittels der oft und oft gesagten Beschwörungsformel vom Lass-uns-in-Kontakt-Bleiben: „Du sagst, wir haben Internet.“ Die Antwort darauf ist lapidar, wie heiter, wie wahr: „Ich sage, was ist das – Internet?“

Gibraltar, Kanada, austauschbar? Könnte man, indem man über Musik schreibt, auch über Literatur geschrieben haben? Und welch’ Ungewissheit würde das beim professionellen Rezipienten auslösen? Denn wie ließen sich folgende Fragen hinreichend klären: Wer geht hier nach Gibraltar/Kanada/Blablabla? Wie alt ist diese Person? Was ist real, was fiktiv, was autobiografisch? Zugegeben, die Angelegenheit ist, bei gleichzeitig repetitiv strukturierter Einfachheit des vorliegenden Textmaterials, komplex. Verknappung, Ellipse, Dada. Dennoch, es ist den Versuch wert, denn was wäre euer Flüstern – ohne seinen Hauch?

Was ist das – Internet? Diese Kolumne ist dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet.

 

Teresa Präauer, Autorin und bildende Künstlerin, sieht sich, auch im Real Life, gern die Männer an. Aktuell erschienen: Oh Schimmi (Wallstein, 2016).

Quelle: Volltext 3/2016

Online seit: 18. Februar 2017