Präauer streamt: Kiss Bang Love

„Vier junge Frauen, als die Hardrock-Band ,Kiss‘ verkleidet, auf einem Kärntner Faschingsgschnas im Jahre 1998. Birgit als Gene Simmons, ich als Ace Frehley.“

Online seit: 28. Januar 2018
Präauer streamt: Kiss Bang Love
Es braucht der Worte nicht viele, sagt ProSieben.

Kiss Bang Love ist der Titel einer sogenannten Datingshow auf ProSieben, deren Folgen, mittlerweile bereits bei Staffel zwei angelangt, man über die Mediathek des Senders streamen kann, sofern man das TV-Gerät aus dem eigenen nicht vorhandenen Wohnzimmer entfernt hat, um sich solchen Mist nicht mehr anzusehen. Aber was soll’s, man liest nichts, guckt stattdessen GNTM – das große Umstyling, viele Tränen, die Mädchen müssen Haare lassen –, und dann geht es übergangslos weiter mit Kiss Bang Love. Man liest nichts. „Rien Nichts“. Und blättert weiter: „UN COUP DE DÉS“ steht da geschrieben.

Ist Liebe, wenn nicht Sünde, eine Sache des Zufalls? Und sind wir noch fähig, angesichts des anbrechenden Frühlings, solche Fragen mit klarem Verstande zu beantworten? Die Wissenschaft, und sie ist in dieser Sendung das behauptete Paradigma, hat festgestellt, dass wir mittels Küssen, im blinden Vertrauen auf Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn, viel mehr über unser Gegenüber erfahren, als würden wir erstmal viele Worte verlieren. Denn es braucht der Worte nicht viele, sagt ProSieben. Kiss Bang Love, das ist in drei Worten bereits die ganze Geschichte einer Liebe, und davon können wir allzu spendablen Worteverlierer uns etwas abschauen. Es ist kein Zufall, sagt der Verstand, es ist die Chemie, und ob sie stimmt zwischen zwei Menschen.

Zwölf Männer treffen auf eine Frau, alle haben die Augen verbunden, nun sind die Kameras auf die beiden gerichtet, sie berühren einander an den Händen, sie rücken näher aneinander, sie schürzen die Lippen, legen die Köpfe schief, sie lächeln kurz, sie zögern kaum, sie öffnen die Münder leicht und pressen sie aneinander, sie strecken die Zungen hinaus und in den anderen Mund hinein, in den fremden Mund, sie küssen einander, die Kameras fangen den blinden Augenblick ein. „(…) [S]eine gähnende Tiefe Rumpf gleichsam / eines Schiffs / gesenkt nach dieser oder jener Seite (…).“ Danach gehen sie auseinander, sehen sich weiterhin nicht, der nächste Kusspartner wartet bereits Backstage, einer tritt ab, einer tritt auf. Zwölf dieser Küsse werden ausgetauscht und man sitzt davor, fassungslos eigentlich, und staunt über das Fernsehen. Wie es stolz sein Ding macht und zeigt, was nicht zu zeigen ist, Geschmack, Geruch, ein Tasten. Wie wenig sich dieses Format für Dramaturgie eignet, ist ja beinah kühn gedacht. Und wie grauenhaft es ist, diesen Menschen beim Knutschen zuzusehen. Unwillkürlich erfasst mich der Fluch des Autobiografischen und ich denke – „Zwangsgedanke“! – an meinen ersten Kusspartner mit 14 oder 15 Jahren, und wie er mich im Foyer des Gymnasiums umarmt und liebkost hat, den Mund voll mit bröseligen Kelly’s Erdnussflips. „MAG / auch / der Abgrund / gebleicht / stillwogend / wütend / unter / verzweifelt / schräggeneigter / Schwinge / der seinen von Anfang an zu schwach für einen Flugversuch / deckend die Gischt / scherend die Sprünge / im Innersten zusammenziehen (…).“

Es blieb bei Kiss, kam nicht zu Bang, und nie zu Love. „Bang“ heißt Peng oder Paff und „to bang“ heißt auch knallen, bumsen, ficken. Es ist schade, dass das, was im Englischen, oder auch im Französischen, so selbstverständlich klingt, alltäglich, mundgerecht, in der deutschen Übersetzung entweder grob wird, nämlich klobig, oder niedlich, kindisch, lächerlich. Gibt es denn brauchbare Wörter dafür im Deutschen? Und wo sind sie zu finden, in welchen literarischen Übersetzungen?

Und, bei „Kiss“ bleibend, nun aber bereits wieder verflucht, fällt mir noch eine Anekdote aus meinem Leben ein, my Life, ma Vie, diesmal aus der Studienzeit. Vier junge Frauen, als die Hardrock-Band „Kiss“ verkleidet, auf einem Kärntner Faschingsgschnas im Jahre 1998. Birgit als Gene Simmons, ich als Ace Frehley. Immer aufs Neue müssen wir den Leuten dort erklären, wer wir sind. Jetzt weiß ich nicht, ob es wirklich so gewesen ist, denn die Macht der Fiktion ist wieder mit mir, aber ich denke mir, wir haben dort wohl ein paar Kärntner Jungs aufgegabelt, und am Ende des Abends sind unsere vormals schwarz-weiß-bepinselten Gesichter grauverschmiert gewesen. Und statt Lei-lei hat der meinige mir etwas zugetuschelt, ein „ (…) Flüsterwort bloß / in der Stille mit Ironie umwickelt / oder / das Geheimnis / hervorgestürzt / hinausgeheult (…)“.

In Kiss Bang Love küsst nun aber die Janine den Hannes, sie küsst Marlon, Philip, Peter, Stefan, Chris, Can, Sahand und Helmut, sie küsst Alessandro, Sven und Mariano. In Runde zwei darf sie sich entscheiden und fünf Männer auswählen, die sie ein zweites Mal im sogenannten „Kissing Room“ küssen will. Nachdem die Augenbinde nun gelöst worden ist, macht Mariano, für den Janine sich entschieden hat, einen Rückzieher, „bitterer Prinz der Klippe“. Es tut beim Zusehen weh. „NICHTS“, sage ich unter Schmerzen, „von der denkwürdigen Krise / wenn anders / das Geschehen erfüllt ward im Hinblick auf die ganze Nichtigkeit / des Menschen (…)“.

Am Ende finden doch alle eine Liebe oder zwei in dieser Sendung. Sie reisen dann zu einem romantischen Date nach Frankreich oder nach Südengland oder nach Kärnten. Es kommt zur Entscheidung. „EINE KONSTELLATION“! Es ist Liebe, und sie wird in Zukunft nicht an der Chemie gescheitert sein, sondern schlicht an der alten Geografie. Im Meta-Format Red! desselben Senders müssen wir erfahren, dass Janine und Hannes oder Lara und Niko nach der Aufzeichnung doch kein Paar geworden sind: wegen der Distanz, wegen der „(…) Richtung / das muss sein / der Siebenstern auch Nord“. Wieder nichts. Aber wir! Am Ende werden wir alle eine Liebe finden, es wird nämlich Frühling.

„Jeder Gedanke zeugt einen Würfelwurf.“ Diese Kolumne ist dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet.

 

Teresa Präauer hat die Übersetzung des „Coup de dés“ von Wilhelm Richard Berger übernommen und verehrt die Buchgestaltung von Klaus Detjen. Für die unsachgemäße Anverwandlung entschuldigt sie sich außerdem bei einem ungleich berufeneren Autor dieser Zeitschrift. Ihr aktuelles Buch Oh Schimmi (Wallstein, 2016) bleibt derweil unübersetzbar.

Quelle: VOLLTEXT 1/2017

Online seit: 28. Januar 2018