Präauer streamt: „Der Club der toten Dichter“ im Flugzeug der Lufthansa

O Captain! Mein Captain!, kann mich das noch rühren?

Online seit: 25. April 2019
Der Club der toten Dichter
O Captain! Mein Captain!, kann mich das noch rühren?
Foto: Der Club der toten Dichter

Im Dunkel leuchtet der Monitor und zeichnet mit einer gestrichelten Linie den Weg von Japan nach Deutschland vor. Wir haben bereits ein Drittel der Strecke hinter uns gebracht, als die Stewardess der Lufthansa meinem Sitznachbarn Baileys auf Eis serviert, und der süße Duft einer fast vergangenen Zeit mir in die von der Aircondition trocken gewordenen Nasenschleimhäute fährt. Ich tippe mit der Fingerkuppe auf die Oberfläche des Bildschirms und berühre eine Stadt in Russland. Ein Fenster öffnet sich unmittelbar, sein Name ist: Movies.

Die Filme, die die Lufthansa unter dieser Rubrik versammelt, reichen von Die Brücken am Fluss über 2001: Odyssee im Weltraum bis zu Asterix oder Mamma Mia. Gäbe es die Umgebung nicht, ließe sich so im Zeichen der Cineastik eine schöne Party feiern. Wären da nicht die hustenden Mitreisenden, der Platzmangel, die schlechte Luft, der Lärm der Motoren, die lästigen Durchsagen, Aufrufe, Mahnungen, die sogenannten Nahrungsmittel und diese ganze, dem vorübergehenden Ausgeliefertsein geschuldete Infantilisierung und Hospitalisierung des Fluggastes. Es ließe sich noch lange ausladend schimpfen, wäre – wir drehen uns weiter in der gedanklichen Schleife und katapultieren uns bald unfreiwillig aus dem Verkehrsmittel – ein Klagen über die Zustände nicht als ein Beklagen von Luxusproblemen per se ab-zu-leh-nen.

Ist es schön oder befremdlich, einen Film nach fast dreißig Jahren wieder zu sehen? Ist es der falsche Film zur rechten Zeit oder umgekehrt? Es ist beides, nämlich tatsächlich schön und gleichermaßen befremdlich, zum Beispiel, wie jetzt, im Flugzeug sitzend, sich den Film Dead Poets Society, auf Deutsch Der Club der toten Dichter, anzusehen und sich daran zu erinnern, wie man als vielleicht elfjähriges Kind, oder vielleicht als zwölf- oder dreizehnjähriges, am Ende des Films das elterliche Wohnzimmer wortlos verlassen hat, um sich im Badezimmer einzusperren und jämmerlich zu schluchzen.

Was ist denn nochmal so traurig gewesen an diesem Film? Doch nicht die sanften Augen und das milde Lächeln von Robin Williams. Doch nicht dieser charismatische Pädagoge, den er mimt, der, um seine Unangepasstheit zu demonstrieren, auf den Katheder steigt und Gedichte rezitiert! Doch nicht dieses „O Captain! Mein Captain!“, mit dem die Schüler ihren Lehrer ansprechen, das sein Urheber Walt Whitman vielmehr dem verstorbenen Staatsmann Abraham Lincoln zugedacht hatte. Diese Wörter und Sätze, die sich mittlerweile zu Sprachbausteinen verfestigt haben, die heute eine homogene Twittermauer bauen aus den ewig gleichen Verbalreflexen auf den Auslöser Verlust oder die Aufforderung zur Ehrerbietung: O Captain! Mein Captain!, kann mich das noch rühren?

Man stößt im Verlauf der Handlung auf unterschiedlichste Lektüreerlebnisse, auch eigene, die man damit abgleicht, indem man sie versuchsweise vom Englischen ins Deutsche transportiert. E.E. Cummings’ dive for dreams ist darunter: „tauche nach träumen / sonst könnte ein schlagwort dich stürzen / (bäume sind ihre wurzeln / und wind ist wind) // traue deinem herzen / wenn die meere feuer fangen / (und lebe von liebe / auch wenn die sterne rückwärts gehen) // ehre die vergangenheit / aber heiße die zukunft willkommen / (und tanze deinen tod / weg auf dieser hochzeit) // mach dir nichts aus der welt / mit ihren bösewichten oder helden / (denn gott liebt mädchen / und morgen und die erde).“ Tauche nach Träumen, fliege weiter, ruft Robin Williams – noch einmal ist auch er wieder lebendig – als Lehrer John Keating aus den krachenden Kopfhörern, die die Lufthansa ihren Fluggästen vorübergehend zur Verfügung gestellt hat. Das Gedicht von E.E. Cummings zum Beispiel musste mir beim ersten Sehen des Films als Kind entgehen, jetzt aber höre ich diese Zeilen, schreibe sie nieder, ein Schlagwort könnte mich stürzen.

Die Flugstrecke ist vorgegeben, sie führt bis nach München, wo der Anschlussflug Richtung Wien erwartet wird. Robert Frost wird derweil zu Rate gezogen, wörtlich übersetzt sagt er in etwa: „Zwei Wege verzweigten sich in einem Wald, und ich – / Ich nahm den weniger abgetretenen, / Und das hat all den Unterschied ergeben“, das hat alles verändert, das hat viel bedeutet. Den Schülern, den Mitgliedern dieses Clubs der toten Dichter, bedeuten diese Sätze so etwas wie ein Vademecum, das sie auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden begleitet. An einer der Gabelungen entscheidet sich der Schüler Neil Perry für seine Neigung, das Theaterspielen, und gegen die Pflicht, die vom Vater vorgesehene militärische Ausbildung. Das Lesen, das Sprechen, das Schreien von Gedichten, diese Weigerung, sie gemäß dem Lehrbuch zu interpretieren, diese Möglichkeit, die Texte anzuwenden und sie ein andermal auch ins Leere der wolkenlosen Atmosphäre laufen zu lassen … Denn nicht für die Schule, sondern für das Leben lesen wir, und wir lesen, um zu überleben: den Drill, die Strenge, die Hierarchie, die Stumpfsinnigkeit des Schüleralltags. Die Erinnerung daran wird wach und schmerzt mitunter als Gegenwart.

Jetzt möchte ich auch ein Glas Baileys bestellen. Denn mir fällt doch auf einmal wieder ein, was nun folgt, und was so unendlich traurig gewesen ist an diesem Film. Die Schüler, die am Ende auf die Tische steigen, die ihrem Lehrer ein „O Captain! Mein Captain!“ nachrufen, die sehnsuchtsvolle Ahnung von einem anderen Leben. Plötzlich gilt alles das wieder, plötzlich versteht man es, zehntausend Meter über dem Boden, auch wenn der Film mittlerweile peinlich geworden ist, oder es schon immer war. Wahr ist er wieder, stimmt auch heute noch, und gleichzeitig duftet etwas zu süß aus der Vergangenheit herüber, das schmeckt wie das alkoholische Getränk, das man als Jugendlicher im Schrank der Eltern gefunden hat.

Noch vier Stunden sind es bis München, o Flugkapitän, und man will vor Ungeduld auf die Tische springen. Trotzdem ist manch einer zu müde, sich nach der Ankunft gleich aufzuraffen und zielgerichtet weiterzustapfen. Es gibt halt so viele Wege, so viele Verzweigungen und so viele Schleusen zwischen den Zeiten.

Dive for dreams, watch thy film. Diese Kolumne ist dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet und während Lang­streckenflügen gewidmet.

Teresa Präauer ist Autorin in Wien. Aktuell ist im Wallstein Verlag der erzählende Großessay Tier werden erschienen.

Quelle: VOLLTEXT 4/2018 – 10. Dezember 2018

Online seit: 25. April 2019