In die Literaturgeschichten über die österreichische Literatur nach 1945 haben sich eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren eingeschrieben, deren damalige Prominenz uns heute in Erstaunen versetzt. Was sie gerade aktuell interessant macht, ist oft nicht ihr Werk, sondern die Bedenkenlosigkeit, mit der sie sich als Repräsentationsfiguren wechselnder politischer Regime zu inszenieren verstanden, völlig unberührt von deren Ideologie und humanitärer wie demokratiepolitischer Performance.
Ein gutes Beispiel dafür ist Max Mell. Geboren am 10. November 1882 in Marburg/Maribor, kam er 1886 mit seiner Familie nach Wien. Seine erste Publikation war 1904 der Band Lateinische Erzählungen mit Geschichten aus dem antiken Rom. 1905 schloss er sein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte ab, noch im selben Jahr, am 9. Juni, besuchte er zum ersten Mal Arthur Schnitzler und brachte ihm als Gastgeschenk dessen Erzählung Der blinde Geronimo und sein Bruder in Blindenschrift mit – Mells Vater war Direktor des Wiener Blindenerziehungsinstituts. Am 28. September verzeichnet Schnitzler einen weiteren Besuch in seinem Tagebuch, und er findet Mell „sympathisch“. Bis 1914 wird Mell dem älteren Kollegen noch eine Reihe von Besuchen abstatten und ihm immer wieder Manuskripte zur Begutachtung übergeben. Schnitzler bescheinigt ihm Talent (13. Oktober 1906), findet ihn „begabt“ (8. November 1909), nennt Mells Barbara Naderers Viehstand eine „sehr gute Novelle“ (2. Mai 1914) und schätzt sein Revolutions-Drama Der Barbier von Berriac aus dem Jahr 1907 (27. März 1920).
Dann kam der Erste Weltkrieg, und da schieden sich die Geister je nach ihrer kriegerischen Begeisterung. Schnitzler war einer der wenigen, die in die öffentliche Euphorie nicht einstimmten, ganz anders etwa als Hugo von Hofmannsthal. Der brachte von 1915 bis 1917 im Insel Verlag 26 Bände der martialisch-patriotischen „Österreichischen Bibliothek“ heraus, unter Mitarbeit von Max Mell, der auch selbst die Bände Nummer 2 und 14: Heldentaten der Deutschmeister 1697–1914 bzw. Die österreichischen Lande im Gedicht beisteuerte.
Schriftsteller dritten Ranges
„Mell hochachtungsvoll frech. Je näher an Hugo – um so feindseliger hämischer die Stimmung gegen mich“, notiert Schnitzler 1918 über die Reaktionen auf die Aufführung seines Professor Bernhardi. „Max Mell, wie immer der gehässigste“, lautet die Notiz über die Kritiken zu Der Ruf des Lebens am 5. Mai 1919, und über jene zu Der grüne Kakadu: „Respektlos natürlich vor allem die Lausbuben […] Max Mell u. dergl.“ (16. März 1920). Am 5. Mai 1919 sucht Schnitzler nach einer Erklärung für Mells Feindseligkeit und klammert dabei die gesellschaftspolitischen Dimensionen aus: „Ein Schriftsteller dritten Ranges, insbesondre, bei techn. Qualitäten dürftige Persönlichkeit jesuitischer Couleur;– noch kein nennenswerther Erfolg;– früher meine Nähe, zum mindesten meine Zustimmung suchend; und von mir fallen gelassen;– und Trabant Hugos – keiner kann sich mir gegenüber mit Sympathie, ja nur objektiv behaupten, der von ihm influenzirt wird.–“
Was das Ausbleiben eines „nennenswerthen“ Erfolgs betrifft, kam um 1920 die Phase des imagemäßigen Umschwungs. Mells Aufstieg begann mit dem Stationendrama Das Wiener Kripperl von 1919, das gleichsam den Weg wies. Er wurde der Autor des sogenannten Mysterienspiels, das der allgemeinen Gottlosigkeit, dem republikanischen ,Chaos‘ und der erstarkten Arbeiterbewegung eine Mixtur aus naiver Gläubigkeit, bäuerlicher Urtümlichkeit und katholischer Weltordnung als Erlösungsvision entgegensetzt. Und der Bedarf an Numinosem war nach den unheiligen Zeiten des Ersten Weltkriegs offenbar enorm. Tatsächlich wollte Max Reinhardt Mells Halleiner Weihnachtsspiel schon 1919 in der Salzburger Franziskanerkirche aufführen, 1925 war Mells Apostelspiel über die Bekehrung zweier Verbrecher durch ein unschuldiges Kind als Gastspiel bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Schier endlos aber ist dann die Liste der Mell-Inszenierungen bei den diversen Festveranstaltungen im Austrofaschismus, vom Katholikentag 1933 bis zum „Großen Bundesappell der Vaterländischen Front 1936“.
Deutschnationaler Konsens
Bereits 1920 war Mells Erzählung Hans Hochgedacht und sein Weib erschienen. Sie liefert ein gutes Zeitbild, auch für den breiten Konsens deutschnationalen Gedankengutes, und sie zeigt, dass sich Mell nicht erst „Anfang der 1930er Jahre zusehends dem deutschnationalen bzw. völk. Lager“ zugewandt hat, wie es im Killy Literaturlexikon heißt und sinngemäß ähnlich im Wikipedia-Eintrag. In der Eröffnungsszene feiern nationale Burschenschafter am Bahnhof in Mürzzuschlag und der Bauer Hans Hochgedacht singt eifrig mit. Als ihn daraufhin der Pfarrer aufsucht, erwartet er eine Zurechtweisung, doch der Pfarrer steht den Deutschnationalen durchaus mit Wohlwollen gegenüber, es geht ihm um etwas ganz anderes. Der bärenstarke Geistliche, über dessen reichlich aktives Sexualleben das ganze Dorf Bescheid weiß, und der trotzdem tobt, wenn ordinäre Lieder gesungen werden, aber eben nicht, wenn es ‚nationale‘ sind, will Hans Hochgedachts Frau Liesl zur Geliebten und erpresst ihn mit dem kirchlichen Wasserrecht auf den Hof-Brunnen. Hans will, dass seine Frau dem Pfarrer willfährig ist, doch die wehrt sich lange gegen diesen prostitutiven Schacher der beiden Herren. Als sie nachgibt und zum Pfarrer geht, hat er die Lust verloren und wirft ihr das Papier über das Wasserrecht im Wortsinn nach. Liesl verlässt zunächst ihren Mann, am Ende finden die beiden aber wieder zusammen; ein schlechtes Gewissen hat nicht Hans und nicht der Pfarrer, sondern Liesl, die irgendwie als eigentlich dubiose Figur der Geschichte gezeichnet ist. Die verlogene Moral dieser Novelle könnte der Hintergrund für Schnitzlers Empörung über die Kritik zur Uraufführung von Casanova oder die Schwestern von Spa gewesen sein: „Der frechste und verlogenste (ganz wie erwartet) Max Mell“ (27. März 1920).
Mysterienspiele
Was sich im Rückblick nur mehr schwer nachvollziehen lässt, ist die allgemeine Begeisterung für Mells heute kaum mehr konsumierbare Mysterienspiele. Raoul Auernheimer nannte in der Neuen Freien Presse vom 1. Juli 1928 Mells Nachfolge Christi-Spiel einen der beiden Höhepunkte der Burgtheater-Saison. Schon die Premiere dieses „dramatischen Altarbilds“ aus der Zeit der Bauernaufstände hatte er am 22. Jänner 1928 ausführlich gewürdigt, auch wenn er die antisemitischen Spitzen sehr wohl registrierte. Das tat auch Alfred Polgar in der Weltbühne vom 31. Januar 1928 – „Fräulein Wilke als hochprozentige Jüdin, bei deren Anblick das Kreuz eigentlich einen Haken machen müßte“, –, bescheinigt aber dem Stück, das „seinem Dichter verdiente Ehren“ brachte, eine starke Wirkung. „Dichtkunst reinsten – ja modernen Geistes“, fand Soma Morgenstern in der Frankfurter Zeitung vom 14. März 1928. Schnitzler war bei der Generalprobe im Burgtheater und urteilte differenzierter: „Begabt und mir widerwärtig. […] Welch ein trauriger Gott wird von dieser Art Legendendichtung aufgestellt … Ein böser Troll, der probirt und ,prüft‘ – und foltert und nach Laune waltet (sie nennens ,Gnade‘) – und zum Schluss ,zaubert‘ er (wie Jupiter donnert oder ein Theaterarbeiter ans Becken schlägt – es ist keine Kunst für sie) – und alles ist wieder in Ordnung.–“ (20. Januar 1928)
Tiefgläubiger Moralist
Dass Mell, der sich mit seinen Mysterienspielen das Image eines feinsinnigen, tiefgläubigen Moralisten erschrieben hatte, nach dem ,Anschluss‘ Österreichs 1938 mit seinem Beitrag zum Bekenntnisbuch österreichischer Dichter mehr leistete als bloße Anpassung, schockierte viele seiner einstigen Bewunderer. „Gewaltiger Mann, wie können wir dir danken? / Wenn wir von nun an eins sind ohne Wanken“, dichtet er in seinem Hymnus auf Hitler mit dem Titel Am Tage der Abstimmung – 10. April 1938.
Das war freilich nicht eigentlich eine Kehrtwende, sondern hatte sich durchaus abgezeichnet. Mell war 1936 Präsident des neu gegründeten „Bundes deutscher Schriftsteller Österreichs“ geworden, der die Machtübernahme der Nationalsozialisten unter den Literaten vorbereitete und 1938 eben das Bekenntnisbuch herausgab. Der Lohn blieb nicht aus: Mell konnte in der NS-Zeit ungestört publizieren, wurde gespielt und ausgezeichnet: 1940 mit dem Grillparzer-Preis, 1941 mit dem Ehrenring der Stadt Wien.
Nach 1945 switchte Mell völlig unbeschadet zurück in sein im Austrofaschismus erworbenes katholisch-treuherziges Image und fügte sich damit nahtlos in den Grundkonsens der kulturpolitischen Restauration ein. Die katholische Zeitschrift Der Turm hatte schon Anfang 1946 keine Bedenken, den ,Anschluss‘-Hymniker Mell zum Thema Was ist österreichisch? zu befragen. Scharf reagierte Otto Basil in Heft 10/1946 des Plan auf diese Chuzpe. „Herr Mell, der vor acht Jahren und später in allen braunen Tinten des ,Anschlusses‘ schillerte und sich heute auf sein angestammtes (soigniertes) Schwarz zurückziehen möchte, das schon einmal die Leichenträger der Republik kleidete, ist ohne Zweifel der berufene Anwalt für alles Österreichische“, schrieb Basil und zitierte aus Mells 1939 erschienenem Bändchen Stimme Österreichs, in dem er „die Zusammengehörigkeit des österreichischen Stammes mit den andern deutschen Stämmen“ beschworen hatte, und dafür, so Basil, werde er nun im gleichen Heft des Turm „von einem ahnungslosen Emigranten [Felix Braun] lyrisch angestrudelt“.
Final rehabilitiert wurde Mell vom Wiener Burgtheater. Im Jänner 1951 inszenierte Adolf Rott, von 1954 bis 1959 dann Direktor der Burg, Teil zwei von Mells Nibelungen-Projekt Kriemhilds Rache. Teil eins, Der Nibelungen Not, war 1944 ebenfalls am Burgtheater uraufgeführt worden. In der Werkausgabe von 1962 heißen die beiden Stücke dann auch ungeniert Der Nibelungen Not I und II. Publizistische Proteste gegen diese aufführungspraktische Traditionslinie kamen nur von Medien im Umfeld der sowjetischen Besatzungsmacht. Unsere liebe Not – und kein Ende übertitelte das Tagebuch am 20. Januar 1951 einen kritischen Kommentar von Elisabeth Freundlich; Völkischer Vorstoß im Burgtheater schrieb die Volksstimme am 9. Januar 1951. Im Programmheft findet sich eine Hommage auf das Stück und seinen Verfasser, geschrieben von Oskar Maurus Fontana, der schon 1944 Teil eins der „Dramatisierung unseres Nationalepos“ in der Oberdonau-Zeitung Tages-Post begeistert besprochen hatte und nach 1945, unbeschadet dieser Tätigkeit als Theaterkritiker im Dienste des NS-Kulturbetriebs, seine Karriere fortsetzen konnte.
Max Mell aber erhielt noch im selben Jahr – 1951 – den Peter-Rosegger-Literaturpreis des Landes Steiermark. 1954 sah das offizielle Österreich kein Problem mehr darin, NS-belastete Autoren auch mit der höchsten Auszeichnung zu würdigen, und Mell erhielt den Österreichischen Staatspreis. In der Folge wird er eine zentrale Figur des mit größtmöglicher personeller Kontinuität restaurierten offiziellen Kulturbetriebs. Zur Lage der Kunst nennt er seine Ansprache bei der gründenden Festversammlung des österreichischen Kunstsenats im Dezember 1954, und er ist der Festredner bei offiziellen Feierstunden im Burgtheater, sei es zum 150. Todestag Schillers 1955 oder zum 100. Geburtstag von Josef Kainz 1958. Zu runden Geburtstagen werden ihm selbst Feiern ausgerichtet, bei denen alte Weggefährten der NS-Zeit wie Heinz Kindermann ihrerseits eifrig Reden halten.
Ehrengrab garantiert
Eine besondere Form staatspolitischer Kanonisierung ereilt Mell 1967: Zum österreichischen Nationalfeiertag, der in diesem Jahr erst zum dritten Mal begangen wurde, ließ Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević Mells 1962 im Amandus Verlag erschienene Werkausgabe in vier Bänden an alle Allgemeinbildenden Höheren Schulen und Musisch-Pädagogischen Realgymnasien verschenken. Bei Mells Tod am 12. Dezember 1971 war ein Ehrengrab am Zentralfriedhof garantiert.
Die an ,klassischen‘ Mustern orientierte Formensprache, die Mell wie viele Erfolgsautoren und -autorinnen der Zeit mit mehr oder weniger Geschick pflegte, war den Zeitgenossen ein hohes Gut. Die mühsam sauber gehaltene Oberfläche der Nachkriegsordnung war verletzlich und besonders anfällig für Verstöße gegen die Sprachregelungen, mit denen man die Schründe der Historie notdürftig gekittet hatte. Das machte die Arbeit am Sprachmaterial so provokant. Wer – wie die Autoren der ,Wiener Gruppe‘ – daran kratzte, kratzte an mehr als an der Sprache. Wer sich an geltenden Sprach- oder Benimmregeln vergriff, dem war nichts heilig, also alles zuzutrauen. Und wer die totale Entmenschlichung erlebt – oder auch praktiziert – hat, traut schließlich jedem alles zu.
Das alles kann man mittlerweile natürlich mit einiger Gelassenheit sehen. Eine Wiederbelebung von Mells Werk ist schwer vorstellbar – so schien es zumindest bis vor Kurzem. Andreas Mölzers Postille Zur Zeit ließ es sich im Dezember 2001 in einem mit „Helge Morgengrauen“ gezeichneten Artikel jedoch nicht nehmen, den „Verkünder des Unzerstörbaren“ zu seinem 30. Todestag zu würdigen als einen „jener Dichter, die vom linkslastigen Literaturestablishment totgeschwiegen werden, weil sie sich den traditionellen europäischen Humanitätsidealen verpflichtet fühlten und mit dem linken Zeit(un)geist nichts auf dem [!] Hut hatten.“
Trotzdem, man soll die Toten ruhen lassen, und sei es in einem unverdienten Ehrengrab. Das Problem ist nur: Die (Literatur-)Geschichte kann nicht einfach umgeschrieben werden. Die Akteure der autoritären Regime des Austrofaschismus und Nationalsozialismus haben sich mit ihrer Ehrungs- und Förderpolitik tief und nachhaltig in die Annalen eingeschrieben. Und die kulturpolitische Dominanz der Täter oder doch sehr aktiven Mitläufer des NS-Regimes wie Max Mell ergab zugleich ein effektives Netzwerk der Exklusion. Zum Beispiel all jener Autorinnen und Autoren, die von eben jenem Regime verfolgt, vertrieben oder ermordet worden waren.
Unerwünschte Konkurrenz
„Kulturämter des Staates und der Gemeinde haben weiterhin den Großen der Naziliteratur bis zu deren Tod Beistand geleistet und für die Ermordeten […] kein Interesse gezeigt“, schrieb Oskar Jan Tauschinski 1992 über seine jahrelangen und meist vergeblichen Versuche, das Werk Alma Johanna Koenigs zu platzieren, die am 1. Juni 1942 im KZ Maly Trostinec ermordet worden war. Das hatte nicht nur ideologische Gründe, sondern, abgesehen von Fragen unerwünschter Konkurrenz, zum Beispiel um Fördermittel, oft auch persönliche. Mell etwa konnte kaum ein Interesse daran haben, Koenigs Werk zu fördern. In ihrem Roman Der jugendliche Gott, an dem sie noch in den Tagen unmittelbar vor ihrer Deportation gearbeitet hat, setzt sie ihm in der Figur des feinsinnigen Seneca, der für Ruhm und Geld Neros Unrechtsregime bereitwillig zur Legitimität verhilft, ein unrühmliches Denkmal.