Alabaster mit Kratzern

Emanuel Geibel war einer der berühmtesten Dichter des 19. Jahrhunderts, im späteren 20. Jahrhundert wurde er weitgehend vergessen. Aus herkömmlichen Lyrik-Anthologien verdrängt, kehren seine Verse im Internet in ungeahnter Weise wieder. Teil IV der Serie „Zu Recht vergessen“

Online seit: 11. Mail 2019
Emanuel Geibel
Emanuel Geibel: „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“

 

Als der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm, schenkte er ihr zur Verlobung ein Buch. Er entschied sich für Dichtergrüße. Neuere deutsche Lyrik, ausgewählt von Elise Polko, erschienen in zwölfter Auflage in C. F. Amelangs Verlag, Leipzig. Auf das Vorsatzblatt seines Exemplars schrieb er in akkurater Kurrentschrift die Widmung: „Meiner Milly zur freundlichen Erinnerung an den Pfingstfeiertag 1885.“ Was an diesem Tage geschehen sein mag, verrät der Schreiber nicht in eigenen Worten, sondern lässt den Dichter sprechen. Heinrich Heines „Im wunderschönen Monat Mai“, das auf Seite 207 des Buches gedruckt steht, hat er noch einmal eigenhändig abgeschrieben und seiner Widmung einverleibt. Das zweistrophige Gedicht endet mit den Zeilen: „da hab ich ihr gestanden / mein Sehnen und Verlangen.“ So sprach man damals durch die poetische Blume über Liebesdinge.

Heute hält der Urenkel dieses Erbstück in Händen. So viele Namen, die nichts mehr bedeuten, so viele Verse, die niemand mehr kennt. Warum der Bräutigam Carl seiner künftigen Gattin Emilie, genannt Milly, gerade diese Anthologie verehrt hat? Wahrscheinlich steht die Antwort in Elise Polkos „Vorwort zur zweiten Auflage“: „Kaum ein Jahr ist verflossen, seit die ‚Dichtergrüße‘ an die Frauen- und Mädchenherzen zu klopfen wagten, und so viele zarte Hände haben sich nach dem kleinen Buche ausgestreckt, daß ich so glücklich bin, jetzt schon die zweite Auflage darbringen zu können.“ Der Urgroßvater hat die zwölfte Auflage verschenkt, also war das „kleine Buch“, immerhin 616 Seiten stark und reich illustriert, ein Bestseller seiner Zeit. Das war den Leserinnen zu verdanken, denen die Anthologie ausdrücklich zugedacht war. Wer aber jetzt ein frühes Dokument des Emanzipationswillens erwartet, wird enttäuscht sein. Hier findet sich anderer Denk- und Gefühlsstoff für schwärmerische Mädchen und Ehefrauen in spe. Natürlich werden Liebesfreud und Liebesleid von vielen Dichtern und nicht wenigen Dichterinnen immer wieder neu besungen, aber es gibt auch historisierende Balladen, gewichtige Gedankenlyrik, Schlichtes im Volkston, schließlich patriotische und religiöse Erbauung. Aber alles im bürgerlich-biederen Rahmen. Wäre es anders, hätte der Urgroßvater, angehender Pharmazeut, das Buch bestimmt nicht verschenkt.

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Sucht man nach den Dichtern, die in der Anthologie am häufigsten aufscheinen, stößt man auf Heinrich Heine und Emanuel Geibel. Sie sind der Herausgeberin besonders lieb, von beiden hat sie jeweils 33 Gedichte in ihre Sammlung aufgenommen (zum Vergleich: Der Band enthält 23 Gedichte von Goethe, neun von Schiller, zwei von Annette von Droste-Hülshoff und nur ein einziges von Hölderlin). Der Anthologie ist ein ausführlicher Anhang mit „biographisch-kritischen Bemerkungen“ beigegeben, der nicht von der Herausgeberin verfasst wurde, sondern von Männerhand: Heinrich von Wedell schreibt dort, Heine habe mit seinem Buch der Lieder „dem deutschen Volke einen kostbaren Schatz von unvergänglichem Zauber hinterlassen“. Und über den zweiten Favoriten liest man: „Geibel überragt die Mehrzahl der zeitgenössischen Lyriker nicht bloß durch den unerschöpflichen Reichtum seiner Produktivität: er handhabt die Sprache mit seltener Meisterschaft, die wunderbare Reinheit und bezaubernde Anmut des Ausdrucks, verbunden mit einer mustergültigen Behandlung des Verses, verleihen seinen Dichtungen ein klassisches Gepräge.“

Liest man die 33 Geibel-Gedichte im Kontext der alten Anthologie, wird das positive Urteil über den Dichter durchaus verständlich. Offensichtlich war Geibel ein poetischer Virtuose, der sämtliche Genres seiner Zeit zu bedienen verstand. Nota bene: So reden wir Heutigen. Geibels Zeitgenossen dachten nicht, dass ein großer Dichter lyrische Genres „bediene“, sie bewunderten ihn dafür, dass er die Verskunst „beherrsche“. Das ist ein