Als das Kind noch Kind war, wusste das Kind nicht, dass es Kind war. (Frei nach Peter Handke)
Like all the boys I knew, I had a gun, and used it, from the age of eight or nine. We shot at anything that moved; we killed everything not domesticated or protected. (Wallace Stegner)
Im Foyer des Grand Hotels Wiesler in Graz hängt ein überlebensgroßes Porträt von Jochen Rindt – mit seinem Gladiatorengesicht wie für einen Helm gemacht, als hätte es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben und den Zweiten nicht, und die Welt wäre noch jung, und man könnte allen Ernstes aussehen wie ein strahlender Sieger. Jedes Mal, wenn ich zum Vorlesen in der Stadt bin und vom Literaturhaus dort einquartiert werde und daran vorbeikomme, geht mir der gleiche Gedanke durch den Kopf: Dass ich nie hatte Schriftsteller werden wollen, sondern immer nur Autorennfahrer, und dass ich die ersten Geschichten als Schüler in der Vorstellung geschrieben habe, damit viel Geld zu verdienen und mich in die Formel III einzukaufen und von dort in die Formel II und in die Formel I aufzusteigen und Weltmeister zu werden, selbstverständlich in einem feuerwehr- oder eher feuerroten Ferrari. Als Kind musste ich bei unseren Spielen im Dorf immer meinem älteren Bruder den Vortritt lassen und durfte selbst nie Jochen Rindt sein, ich war Jacky Ickx, gewann selten, lief, wenn ich gewann, Gefahr, von meinem Bruder verprügelt zu werden, einem notorischen schlechten Verlierer, und war auf den zweiten Platz gebucht vor meinem Cousin, der Jack Brabham oder Bruce McLaren war und mit dem dritten Platz vorliebnehmen musste. Ebenso war mein Bruder Neil Armstrong, der erste Mann auf dem Mond, ich war Edwin „Buzz“ Aldrin, der zweite, und mein Cousin, eigentlich stärker als ich, aber zu schwach, um sich gegen mich durchzusetzen, war Michael Collins. Er hat bei unserer Apollo-11-Mission den Mond überhaupt nie betreten und kreist wahrscheinlich immer noch in der Raumkapsel auf seinen Umlaufbahnen. In der Meistermannschaft von Wacker Innsbruck fiel mir, der ich nicht viel mehr als der buchstäbliche Strich in der Landschaft war, die Rolle des übergewichtigen Buffy Ettmayer zu – ich hatte den Spitznamen Schmule, keiner wusste, warum, und hasste es, wenn ich damit gerufen wurde –, während mein Bruder Kurt Jara, mein Cousin Franz Wolny war, aber beim Skifahren gab es keinen Ersten, Zweiten, Dritten, wir waren alle drei Karl Schranz, wenn wir mit unseren Kneissl-Brettern die Hänge rund um das Dorf herunterschossen. Die Skier hatten einen fünfzackigen Stern als Logo und hießen White Star, Black Star, Red Star, Blue Star und später sogar Superstar mit winzigen Nebelscheinwerfern bei den Spitzenmodellen – oder bilde ich mir das nur ein? Die silberfarbenen und gefährlich aussehenden Kneissl SS, tatsächlich mit den beiden Buchstaben, als wären es nur zwei harmlose Doppelschwünge im Schnee. Oder bilde ich mir auch das nur ein, ein von niemandem beanstandetes SS, eisengrau auf eisengrauen Skiern? Die Skier meines Vaters, die später noch lange ungenutzt im Keller herumstanden, waren schwarz, keine Kneissl nach all den Kneissl all der Jahre, sondern Head, zwei Meter dreiundzwanzig lang, mit einem winzigen weißen Punkt an ihren Kopfenden und eingraviertem Namen gleich oberhalb der Bindung, sein Name, der auch mein Name war, Vorname und Nachname. Oder bilde ich mir das nur ein? Mein Bruder war der erste Mann auf dem Dhaulagiri, ich auf dem Nanga Parbat, mein Cousin auf der Annapurna. Wir wussten nichts von Vietnam, aber hinter den Bergen lag Amerika, und wir waren die Piloten, die mit ihren Hubschraubern am Sommeranfang die Schutzhütten auf dem Weg zu den Gletschern belieferten und beim Anflug auf das Dorf direkt aus der Sonne herauskamen und die Turbine hochtourig aufheulen ließen, als würden wir einen Angriff fliegen und jeden Augenblick mit unseren Bordkanonen die ganze Welt kurz und klein schießen. Es waren die späten sechziger, die frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und bei der Nachricht von Jochen Rindts Unfalltod beim Training für den Grand Prix von Monza im Jahre 1970 war eine ganze Schar Kinder in der Stube des Kaufladens versammelt, wo sich zu der Zeit einer der beiden Fernseher im Dorf befand. Wir waren wie so oft dorthin gegangen, als gingen wir ins Kino, und es war zuerst mucksmäuschenstill, und dann war plötzlich ein Weinen zu hören gewesen, und als ich mich kurz umdrehte, sah ich, dass es der Sir war, der weinte. Er war der einzige Erwachsene, der in der Kinderschar saß, und er war der erste Erwachsene, den ich je weinen gesehen hatte. Der Sir glich Jackie Stewart, hieß wegen seiner vornehmen britischen Umgangsformen Sir und hatte damals schon angefangen zu trinken, aber noch nicht, grundsätzlich englisch zu sprechen, wie in seinen späteren Jahren, wenn er betrunken war und sich immer mehr wie ein Eton-Absolvent gab, je weiter er sich aus der engen Welt des Dorfes hinausgetrunken hatte. Er war ein paar Jahre bei den Jesuiten in Feldkirch zur Schule gegangen, was ihm den Ruf eines Intellektuellen verschaffte, fuhr jeden Sommer nach Monaco, weil dort der Motorsport am hellsten strahlte, und besaß selbst einen auffrisierten Mini Cooper, mit dem er an Flughafenrennen teilnahm, und jetzt mischte sich in mein Entsetzen über die Nachricht vom Tod Jochen Rindts das Entsetzen über das Weinen des Sirs, der ganz hinten seinen Platz hatte und, ohne sich die Hände vors Gesicht zu halten, seinen Tränen freien Lauf ließ, während wir Kinder in mehreren Reihen vor ihm hockten und nach einem ersten Blick nicht mehr wagten, uns nach ihm umzuwenden. Wenn wir es davor nicht gewusst hatten, wussten wir von dem Tag an, dass in der Welt Dinge geschahen, die eigentlich nicht geschehen durften. Daran denke ich, wenn ich zum Vorlesen im Literaturhaus in Graz bin und im Grand Hotel Wiesler an dem Porträtbild von Jochen Rindt vorbeigehe: Dass das ein Sturz, einer der vielen Stürze aus der Kindheit war, und dass der Tod von Jochen Rindt am Ende einer der Gründe gewesen sein könnte, warum ich später mit dem Schreiben begonnen habe, mit dem immer zum Scheitern verurteilten Versuch, die Kindheit wiederzugewinnen oder sich überhaupt erst eine zu erobern oder zu erschaffen, wenn man nie eine gehabt hat. Dass sich zudem in der Biografie von Jochen Rindt ein furchtbares Paradox verbarg, verstand ich erst Jahre danach. Denn Jochen Rindt war als Toter Weltmeister geworden, wie vor ihm nur Jesus oder vielleicht Winnetou, er hatte vor seinem Unfall so viele Rennen gewonnen, dass ihn in der Gesamtwertung keiner seiner Konkurrenten mehr einzuholen vermochte, was sich in der Statistik mit einer einzigen Ausnahme als Auflistung von lauter Siegen und Ausfällen liest, entweder Erster oder DNF, „did not finish“ – bis hin zu dem finalen DNS, „did not start“, das für den Tod stand. Karl Jochen Rindt, geboren am 18. April 1942 in Mainz, weiß Wikipedia, gestorben am 5. September 1970 in Monza, Automobilrennfahrer, wuchs als Waise bei seinen Großeltern in Graz auf. Wie konnte ein Toter Weltmeister werden? Aber auch ein lebender Weltmeister, mein Gott, ein lebender Weltmeister … ist in Wirklichkeit natürlich nur ein Im-Kreis-Fahrer, und die Literatur – auch die Literatur, die sich so viel darauf zugutehält, dass sie es weniger mit den Siegen und den Siegern als mit den Niederlagen und den Verlierern hat, ist selbst nicht gegen das Im-Kreis-Fahren gefeit, weil als ewige Wahrheit auch für die meisten Schriftsteller gilt: Sie fahren im Kreis, bis sie irgendwann aus der Kurve fliegen, und das war’s – oder sie fliegen nicht einmal aus der Kurve, weil sie nie mutig genug waren, mit Vollgas in die Kurve zu fahren, es verreckt ihnen einfach der Motor, und sie retten sich gerade noch in die Box oder rollen im Leerlauf in einer Wiese aus, deren Schönheit sie erst entdecken, wenn für Naturgedichte keine Zeit mehr ist oder wenn die Zeiten für Naturgedichte vorbei sind.