Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Als Instrument der Aufklärung soll sie frei nach Horaz nützen und unterhalten. Es gilt mehr denn je, das Interesse an Literatur zu wecken und wachzuhalten und auf Bücher gerade auch jenseits des Mainstreams hinzuweisen. Zwingend sind der Respekt vor der kreativen Leistung des Autors/der Autorin und der eigene Qualitätsanspruch. Je länger ich diesen Beruf ausübe, desto wichtiger wird mir der Einsatz für literaturgeschichtliche Neu- und Wiederentdeckungen, gerade auch innerhalb der romanischen Belletristik sowie der nach wie vor marginalisierten Literaturen Ost- und Südosteuropas. So macht es mir großen Spaß, meine Entdeckerfreude an einem poète maudit wie dem Polen Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki oder einer experimentellen Prosaautorin wie Sophie Divry aus Lyon zu vermitteln.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Sie muss sich gegen ihren Bedeutungsverlust bis hin zur drohenden Abschaffung aufbäumen. In den elektronischen Medien – wann sah man zuletzt ein literarisches Fernsehfeature im Langformat? – flüchtet sie zunehmend in Diskussionen und wird damit ephemerer und beliebiger. Als gelernte Zeitungsredakteurin beobachte ich aber vor allem mit Sorge den rachitischen Platzschwund der gedruckten Literaturkritik, von einigen heroischen Ausnahmen wie dem Tagesspiegel abgesehen. Das Internet mit seinen unübersichtlichen Special-Interest-Sektionen scheint mir dafür kein adäquater Ersatz zu sein. Der schwindende Raum erlaubt irgendwann nur noch „Tipps“. Dadurch entledigt sich die professionelle Literaturkritik, die ja laut Alfred Kerr eine eigene Kunstform sein sollte, ihrer Argumentation. Als bessere Inhaltsangabe jedoch verliert sie ihre Legitimation, die sie bislang von Laien-„Rezensionen“ auf Internet-Verkaufsplattformen unterschieden hat. Für freiberufliche Rezensenten ist diese Entwicklung natürlich wirtschaftlich verheerend. Dahinter verbirgt sich meines Erachtens neben ökonomischen Zwängen ein wachsendes diffuses Ressentiment gegen Bildung und geistige Anstrengung und damit gegen die Instanz der Kritik an sich. Auch der exemplarische, mit Lust an der Polemik argumentierende Verriss, einst die Königsdisziplin unserer Branche, wird seltener. Als Konsequenz droht ein wohlfeiles Miniaturfeuilleton mit Servicecharakter.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit?
Im Studium habe ich so manche strukturalistische Trainingseinheit durchlaufen, darunter ein nach Geschlechtern getrenntes Wochenendseminar an der Nordsee. Aber mir scheint der hermeneutische Ansatz praktikabler, der stets versucht, die Kriterien zur Analyse eines Textes aus diesem selbst zu gewinnen und dem literarischen Kunstwerk gerecht zu werden, frei nach Goethe: „Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten, dir wird die Welt, du wirst ihr nie veralten.“ Für sehr wichtig und hilfreich erachte ich eine solide Kenntnis der Literaturgeschichte.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Ohne die mitreißende Begeisterung für die Sache und das Zutrauen, das mir im Sommer 1990 bei einer Hospitanz in der FAZ-Literaturredaktion durch Frank Schirrmacher, Jochen Hieber und Jens Jessen vermittelt wurde, hätte ich diesen Beruf wohl nicht ergriffen. Ansteckenden Enthusiasmus für historische Trouvaillen habe ich bei Charles Linsmayer vom Berner Bund erlebt. In jenen Jahren galt Literaturkritiker oder auch Journalist im Allgemeinen als Traumberuf, jetzt fühlt man sich im Printbereich mitunter wie ein Kumpel kurz vor der Zechenschließung. Umso mehr schätze ich jede Kollegin und jeden Kollegen, der mit Sachverstand, Esprit und Idealismus unverdrossen im Textgebirge weitergräbt, um Diamanten von Geröll zu trennen.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können?
Wahrscheinlich sind es nie genug, andererseits hat dieses Desiderat aber auch etwas Beruhigendes.
Wie viele haben Sie gelesen?
Das kann ich beim besten Willen nicht sagen.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Schätzungsweise zwischen dreißig und vierzig. Sie gilt es aus den halbjährlich eintreffenden Stößen an Verlagsvorschauen herauszukeltern, die zum Leidwesen der Briefträger nach wie vor in Papierform eintreffen. In diesem Punkt bin ich unbedingt für die Digitalisierung.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Von Lewis Carroll und Karl May bin ich damals zu Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns und der emblematischen Romaneröffnung gekommen: „Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam.“ Generell liegen mir sowohl die Realisten als auch die verstiegenen Fabulierer, oft mit alpinem Hintergrund oder aus der ehemaligen DDR. Einige (Schul-)Lektüren haben meinen Geschmack entscheidend geprägt: Arthur Rimbaud, Brechts Lehrstücke, Wilhelm Raabes See- und Mordgeschichte Stopfkuchen und Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob. Immer wieder lese ich: Gottfried Benn, Hermann Burger, Alfred Döblin, Helga M. Novak und Wolfgang Hilbig. Zeitgenossen, auf deren Neuerscheinungen ich besonders gespannt bin, sind unter anderen: Marcel Beyer, Olga Flor, Norbert Gstrein, Thomas Hettche, Elfriede Jelinek, Ulrich Peltzer, Marion Poschmann und Linda Stift.
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Alles Gedruckte zieht mich an und lässt mich manchmal die Welt um mich herum vergessen. Ansonsten verfolge ich aber ebenso gerne Hörspiele (Ror Wolf!) oder lasse mir im Kino Geschichten erzählen.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritikerin je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Vielleicht habe ich das eine oder andere Debüt zu positiv aufgenommen, und die Erwartungen haben sich bei den folgenden Werken des Autors/der Autorin nicht erfüllt: das bekannte Dilemma des zweiten Buches.