Was Sie nie über Sex hören wollten, aber trotzdem lesen könnten*

Norbert Gstreins Kolumne „Writer at Large“

Online seit: 13. April 2017

He stared at ruin. Ruin stared straight back.
He thought they was old friends.
John Berryman

Auf das Risiko hin, dass Leser mir unterstellen, ich spräche von mir, unternehme ich das Wagnis, die Geschichte eines Freundes zu erzählen, der mir dieser Tage wieder einmal mit seinen Sorgen in den Ohren lag. Er war Schriftsteller – wenn Sie wollen, können Sie ihn Norbert nennen, mit einem Sternchen und der Fußnote „Name von der Redaktion geändert“ – und machte alle paar Jahre die Erfahrung, dass ihm jemand sagte, er komme in einem Roman vor, was ihn eigentlich nicht wundern durfte, weil er sich selbst die Freiheit herausnahm, sich mit seinem Schreiben in anderer Leute Leben auf nicht ganz koschere Weise umzutun. Gewöhnlich war er so klug, die Bücher links liegen zu lassen, aber weil er diesmal ein Exemplar in einer Ramschkiste entdeckte, hatte er den Fehler gemacht, es für ein paar Euro zu kaufen. Seine Bestürzung war nun nicht, dass er sich darin fand, sondern dass er sich nicht darin fand und sich fragte, warum ihn sowohl ein Freund aus Wien als dann auch noch seine Schwägerin darauf hingewiesen hatten, eine Lehrerin in Klagenfurt, die brav las, was die österreichischen Gazetten von Woche zu Woche empfahlen und allein schon deshalb nie richtig in die Welt hinauskam und immer nur wieder in den österreichischen Glanz und in das österreichische Elend zurückgeführt wurde, was oft genug ein und dasselbe war. Die längste Zeit wusste mein Freund gar nicht, mit welcher Figur er sich überhaupt identifizieren solle, und er war mit der Lektüre schon mehr als zur Hälfte durch, als er endlich sicher war, dass es natürlich nur die sein konnte, auf deren schwache Schultern die Autorin, mit der ihn eine fast dreißigjährige gegenseitige Abneigung verband, bei jedem Auftreten ihre negativen Projektionen ablud. Was ihn daran offensichtlich kränkte, war aber lediglich, wie sehr sie ihn unterschätzte, wie wenig sie wusste, wie böse, durchtrieben und intrigant er wirklich war, wie so gar nicht sie sich auszumalen vermochte, welche zerstörerische Energie einerseits in ihm pulsierte und wie schwer es ihm andererseits fiel, von Tag zu Tag auch nur den Verstand zu bewahren und nicht schreiend auf die Straße hinauszulaufen und in Ermangelung einer Schusswaffe wild um sich zu schlagen und so die Gespenster, die ihn bedrängten, wohl eher noch mehr anzuziehen als zu verscheuchen, welche Gefahr er also war, für sich selbst und für andere.

Bis dahin war sein Lamentieren nur allzu durchschaubar, und wir hätten es schnell vergessen können, aber es wurde dann doch interessanter, als mein Freund sagte, die Figur, die er sein solle, werde dadurch charakterisiert, dass sie noch nie Analverkehr gehabt habe, exakt in dieser doch etwas stinkigen und gleichzeitig absurd beamtenhaft anmutenden, einen Roman, wenn man nicht sehr vorsichtig sei, jedenfalls schnell verpestenden Formulierung. Er hatte recht, wenn ein Mann sich das erlaubt hätte, würde man ihm allein dafür den Kopf abschlagen. Trotzdem wollte er nicht gleich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen und sich lieber überlegen, wie die Autorin darauf kam und was sie damit wollte außer ihn natürlich mit der Unterstellung eines eklatanten Erfahrungs- und Vitalitätsmangels zu brandmarken.

Nun hatte es eine Zeitlang, zumindest war das mein Eindruck, kaum einen Roman eines jungen deutschsprachigen Autors oder einer jungen deutschsprachigen Autorin gegeben, in dem es nicht früher oder später – bleiben wir bei dem Wort – zum Analverkehr gekommen wäre, und ich hatte mich schon gefragt, was das für eine Epidemie ist, was die Leute einem damit sagen wollten, ob sie das für das wilde Leben hielten, von dem sie alle träumten, ob es entsprechende Hildesheimer oder Leipziger Vorschriften für eine neue Art des dirty realism gab oder ob es einfach nur eine Wiederkehr der siebziger Jahre war mit dieser besonders traurigen Abteilung der Literatur, in der sich der Grad der Authentizität danach bemaß, dass man alle paar Seiten einmal das Wort „Schwanz“ oder das Wort „Fotze“ verwendete und die Weltrevolutionäre und edlen Kämpfer für das Gute nach Herzenslust bumsen, pudern oder vielleicht auch nur vögeln und dabei möglichst kräftig ihren Schweiß verströmen und ihren Alkoholdunst ausatmen ließ. Mensch, der man war, durfte man noch Tier sein und sich dem anderen in seiner ganzen Animalität zumuten. Was man heute Welthaltigkeit nennt, waren seinerzeit die Körpersäfte und die Ausdünstungen des inneren Schweinehunds mit seinem dauerbenebelten und dogmenverseuchten Hirn und seinen langsam vermodernden Eingeweiden gewesen. Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie häufig ich in Büchern jener literarisch so finsteren Epoche die Wendung „Dann drang er in sie ein“ fand, aber sollte ein Analverkehr auch damals schon Pflicht gewesen sein, ist mir das entgangen, und genaugenommen haben mich die Analverkehre – sofern das der Plural ist – in der deutschsprachigen Literatur nur in Maßen interessiert, als Forderung an einen Autor klingen sie wie ein lachhaftes Echo auf die auch schon blinde Forderung einer anderen Zeit, ein Schriftsteller müsse im Krieg gewesen sein, sonst würde er nie etwas Richtiges schreiben. Die internationale Literatur, soweit ich sie kenne, hat nie ein solches Gedöns darum gemacht, und aus dem Stand fallen mir auch nur zwei Stellen dazu ein, eine bei Hugo Claus, wo der Analverkehr in einer bestimmten Community eine nur allzu naheliegende (und tatsächlich auch nahe liegende) Methode ist, seine ach so geheiligte Jungfräulichkeit zu bewahren, eine andere bei dem sonst von mir geliebten V.S. Naipaul, der in einem Essay auf fast selbst schon perverse Art über diese angeblich perverse Unart wettert.

Aber ich will ja keine Diplom- oder Doktorarbeit schreiben und sie dann womöglich an der Universität Innsbruck einreichen unter dem Titel „Der Analverkehr in der deutschsprachigen Literatur unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von …“. Ich will die Geschichte meines Freundes weitererzählen, der sich längst so weit hineingesteigert hatte, dass er seine Zurechnungsfähigkeit mehr und mehr verlor. Er erinnerte mich jetzt an den neuen amerikanischen Präsidenten, den im Wahlkampf das Gerede von seinen zu kurzen Fingern und was daraus folge so sehr in Rage gebracht hatte, dass er kurz davor war, vor laufenden Kameras seinen Hosenstall aufzuknöpfen und sein Riesending oder, politisch korrekter, wenn auch für den Weltfrieden vielleicht problematischer, sein noch nicht einmal angelobtes Würmchen hervorzuholen … Ich weiß nicht … Mein Freund, das will ich damit sagen, hätte am liebsten ehemalige Freundinnen und Freunde als Kronzeuginnen und Kronzeugen aufgeboten, und ich fragte ihn, ob er verrückt sei, ich fragte ihn, wie er sich das vorstelle, ich fragte ihn, Kronzeuginnen und Kronzeugen wofür, ob er sie anrufen wolle und sie bitten, ihm auf amtlichem Papier oder unter Eid zu bestätigen, dass sie mit ihm … Wenn die Geschichte stimmte, dass Hemingway und Scott Fitzgerald aufs Pissoir gegangen waren und dort aneinander Maß genommen hatten, um es möglichst unverfänglich auszudrücken, war das etwas anderes als die aberwitzigen Fantasien, die meinen Freund jetzt überfielen. Er konnte doch nicht mit einer Frau in diesen Wettstreit eintreten und sie auffordern, ihre Hosen oder ihren Rock herunterzulassen und zu zeigen, was sie vorzuweisen habe, wie viele Zentimeter, wenn sie sich schon gebärdete wie eine Rasende, die alles flachlegte – obwohl die Männer, in ihrem Roman wohlgemerkt, mit denen sie es zu tun hatte, in der Regel alte Säufer waren, die ihre Pimmelchen nicht mehr hochbekamen und wahrscheinlich allein schon mit dem Pinkeln alle Hände voll zu tun hatten, sodass von Analverkehr wohl keine Rede sein konnte.

In dem Buch gab es ein Alter Ego von ihr, eine Frau, die nach langen Behandlungen im Krankenhaus, wenn sie nach Hause kam, dem dort verfügbaren Mann die Kleider vom Leib riss und ihn zu Boden zerrte, kaum dass sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. Es war eine traurige Geschichte, nicht wegen des Sexual- und Vitalitätsgeprotzes, das man sonst eher von Männern kannte, traurig in ihrem unmäßigen Anspruch, dem Tod und also dem Leben näher zu sein als andere – we just don’t know –, und als mein Freund sie mir erzählte, musste ich an den Kaufmann Otto aus meinem Heimatdorf denken, der nach vielen Jahren der Not von einem Balken im Dach seines Stalls in das Seil und in den Tod gesprungen war. Wir hatten ihn so genannt, weil er den kleinen Laden betrieben hatte, in dem wir als Kinder unsere Süßigkeiten kauften, und er war immer von Neuem für Wochen oder Monate auf Entziehungskur gewesen, wenn es mit dem Trinken gar nicht mehr ging, und saß dann bald wieder im Café und bald auch wieder vor einem Glas Wein und gab seine Schnurren zum Besten, wie er im Sanatorium aus dem Schlaf erwacht war und als erstes die Frau des Primars gesehen hatte, die neben seinem Bett stand und sich sofort über ihn hermachte, kaum dass er die Augen aufschlug, sofort seinen treuen Gefährten in die Hand nahm, wie er sich ausdrückte, und hingebungsvoll daran herumnuckelte. Der Kaufmann Otto, groß und gebeugt, war vom jahrzehntelangen Trinken dürr und hager wie ein Strichmännchen geworden. Er schaute einen mit verschwimmenden Augen hinter seinen dicken Brillengläsern an und sah manchmal weiße Mäuse, bestand aber darauf, dass man ihm in den wirklich wichtigen Dingen immer noch aufs Wort glauben konnte.

Die Geschichte meines Freundes war indessen auch die Geschichte eines großen Missverständnisses. Er hatte mir schon mindestens ein halbes Dutzend Mal erzählt, wie es zum endgültigen Bruch gekommen war, nachdem sie sich jahrelang so ineinander verzahnt hatten, er und diese Autorin, dass man nur ihren Namen erwähnen musste, damit er sich bedroht fühlte wie als Kind in den Bergen, wo man die größte Unbill immer von den Allernächsten zu erwarten hatte und sich deshalb in seinen Häusern gegen Freund und Feind verbarrikadierte. Sie hieß Marianne, und ich wusste nie, ob ich ihm glauben konnte, wenn er mir sein Schlüsselerlebnis mit ihr erzählte, weil es für mich wie die reinste Männerfantasie klang, ja, tatsächlich wie etwas, das der Kaufmann Otto in seinen besten Zeiten von sich gegeben haben könnte. Angeblich war es auf einer Tagung gewesen, sie hatten zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander gesprochen und waren eines Abends noch als letzte Gäste in der Hotelbar gesessen, als mein Freund den Fehler begangen hatte, mit dem Satz „Gehen wir schlafen“ zum Aufbruch zu drängen.

Für ihn war es unmissverständlich, weil nichts, was sie davor gesagt oder getan hatten, eine andere Deutung zuließ, als dass jeder jetzt in sein Bett ging, aber als der Lift im dritten Stock hielt und er ihr eine gute Nacht wünschte, begriff er, was er angestellt hatte, oder vielmehr, was ihm da unterlaufen war. Er war gerade in sein Zimmer gekommen, hatte abgesperrt, sein Nachthemd angezogen und den Teppich für das Abendgebet ausgerollt, als sie klopfte. Sicher hätte sich alles noch aufklären lassen, wenn er geöffnet hätte, aber er entschied sich, so zu tun, als würde er nichts hören. Er putzte sich die Zähne, wusch sich und legte sich hin, aber das Klopfen wollte nicht aufhören. Zudem klingelte jetzt auch noch das Telefon, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, er begann erst mittdendrin zu zählen und kam doch bis zwanzig, bevor es verstummte, aber schon piepte sein Handy, und er hatte eine SMS, „Warum machst du nicht auf?“, gefolgt von fünf wütenden Fragezeichen, und gleich darauf eine andere, „Mach doch auf, du Vollidiot, du schwuler!“, und aus den Fragezeichen waren Ausrufezeichen geworden.

Ich musste lachen, als er erzählte, dass es erst endete, als er sich im Badezimmer einschloss, beide Hähne aufdrehte, Wasser in die Wanne prasseln ließ, sich direkt neben der Toilette auf den Boden setzte und, seine Fäuste gegen die Ohren gepresst, eine geschlagene Stunde vergehen ließ. Zu der Zeit richtete er sich an den Gedichten von John Berryman auf, den er erst kürzlich entdeckt hatte, und er sagte, seine Rettung war, dass er laut ein paar Verse deklamierte, die er im Kopf hatte. Dass ich ihn dennoch für verloren hielt, verschwieg ich ihm. Sich von den harmlosesten weiblichen Avancen so ins Bockshorn oder vielmehr in den Abort jagen zu lassen, musste ihm in Mark und Bein gehen, dass er danach nie mehr derselbe war. Er war ohnehin ein ängstlicher Zeitgenosse, der viel zu oft nein zum Leben sagte, wenn das Leben es gut mit ihm meinte und ja zu ihm sagte und ihm vielleicht sogar Wonnen anbot, von denen er nichts ahnte. Das konnte ich ihm natürlich nicht sagen, aber wenn ich ihn mir in dem Badezimmer neben der Toilette sitzend vorstellte, dachte ich manchmal, dass die Beschreibung – so dämlich sie sein mochte – am Ende womöglich doch auf ihn zutraf und dass er vielleicht wirklich noch nie Analverkehr gehabt hatte, um gar nicht davon zu reden, ob aktiv oder passiv, eine Wahl, die er als Mann immerhin hätte, sollte der Vollzug selbst „alternativlos“ sein, und dass genau das sein Problem war und er nur deshalb so verloren und allein auf der Welt wirkte, als wartete er darauf, erst noch geboren zu werden.

(*) Der ursprüngliche Titel „Arschpudern“ oder gut wienerisch und nicht nur naturgemäß, sondern auch traditionsgemäß viel tiefer „Oaschpudan“ wurde vom Herausgeber in Absprache mit dem Autor verworfen. Die englische Übersetzung der Erzählung, geplant für The Atlantic, vormals The Atlantic Monthly, wird mit „Sexual Harassment“ überschrieben sein. In Frankreich will die Libération den Text in gekürzter Form abdrucken, und dort soll er – vielleicht am treffendsten – „Amour fou“ heißen.

Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Hanser Verlag die Romane Die ganze Wahrheit (2010), Eine Ahnung vom Anfang (2013) sowie In der freien Welt (2016).

Quelle: Volltext 1/2017

Online seit: 13. April 2017