Freilich – es gibt eine Gleim-Gesellschaft, eine Schriftenreihe, einen Gleim-Literaturpreis und beträchtliche germanistische Forschung. Gleim zählte zu den Bedeutenden. Das „Gleimhaus“ in Halberstadt, wo er mehr als fünfzig Jahre lang lebte, war mit seiner Einrichtung 1862 nach den Schiller- und Goethehäusern in Marbach und Weimar erst das vierte deutsche Dichtermuseum. Es wird heute im Blaubuch der deutschen Bundesregierung als „Kultureller Gedächtnisort mit besonderer nationaler Bedeutung“ geführt, weil über den Schreibtisch dieses ungemein emsigen Korrespondenten Briefe der gesamten deutschen Aufklärung gegangen sind, die nun im Gleimhaus liegen. Als Fabeldichter gerühmt, als empfindsamer Briefschreiber noch berühmter, als Poet verehrt, war Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) ein Leitstern der Dichtergeneration zwischen der Epoche Maria Theresias und Friedrich II. in Preußen, in deren Regentschaft seine ersten Wirkungsjahrzehnte fielen, und den Napoleonischen Kriegen um 1800, neben seinem Altersgenossen Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803). Beide überlebten Aufklärung, Revolution und Restauration und starben betagt und berühmt, beide innerhalb weniger Wochen. Gleim war ein Star mit langer Nachwirkung in den poetischen Anthologien bis spät ins 19. Jahrhundert; viele Komponisten haben ihn vertont, von Carl Philipp Emanuel Bach über Telemann und Haydn bis zu Mozart. Aber aus dem Kanon der deutschen Literaturgeschichte ist Gleim schon seit längerer Zeit verschwunden. Man kennt ihn vielleicht zur akademischen Abschlussprüfung Deutsch von der Mitgliederliste der Zweiten Halleschen Dichterschule (aber wer kennt wiederum die?). Wer mit Lessing genauer befasst war, hat auch von seiner Korrespondenz mit Gleim gehört und von der Versifikation seines Trauerspiels Philotas durch Gleim.
Berühmt gemacht hat Gleim die unverbindliche Freundschafts- und Liebesdichtung, heute zu Recht vergessen gemacht seine weitaus verbindlicher auftretende Kriegslyrik. Als repräsentativ wählte das Reclambändchen zur Lyrik der Aufklärung Interpretationen von Gleims Anakreon neben dessen Bei Eröffnung des Feldzuges. 1756 aus. Beides ist Sprechmaske und Sprachspiel, was nun freilich für jeden Liebesdiskurs zutrifft, jedenfalls aber für die Kriegsrhetorik, auch in Gestalt politisch alltäglicher Kampfhandlungen und Wahlkämpfe – oft ist „fokussierte Unintelligenz“ (© Michael Häupl, Wiens Bürgermeister a.D.) der für klangvolle Rollenrede entrichtete Preis.
„Mädchen, seht, wie schön ich liebe!“
Gleim hat die literarische Wirksamkeit der Anakreontik begründet, die zwischen Empfindsamkeit und Klassik den Verseschmieden ein gerne bearbeitetes Betätigungsfeld eröffnete. Bereits Gleims Versuch in Scherzhaften Liedern (1744/1745) vertritt zusammen mit einem Großteil seiner Lyrik insgesamt den Anspruch, Anakreon aus Teos nachzufolgen, dessen humanistische Neuentdeckung nun erst in der Empfindsamkeit breite Mode wird. Das Thema der Vergänglichkeit dient als Argument für die Überredung der Geliebten, für das gesellige Trinken im Freundeskreis, für Sinnenfreude und Ergreifen des Tages. Amor und Bacchus oder An die Schönen lauten die Gedichttitel, der Liebesgott treibt in fröhlicher Frühlingsnatur sein Unwesen, die verehrten Mädchen heißen nicht Jette oder Suse, sondern Phillis, Dorinde oder Ismene. Das Lieben Gleims ist eine literarische Attitüde, eine sprachliche Demonstration, nicht so sehr des brennenden Gefühls als vielmehr der Eleganz einer poetischen Äußerung: „Mädchen, wollt ihr mich nicht lieben? / Seht, hier lieg’ ich in dem Schatten! / Mädchen, seht, wie schön ich liebe!“ (Einladung zur Liebe). Doch auch die Diesseitsmahnung steht im Zeichen der Aufklärung. An Leukon setzt mit dem altbekannten anakreontischen Topos ein, nichts „anbrennen“ zu lassen:
Rosen pflücke, Rosen blühn,
Morgen ist nicht heut’!
Keine Stunde laß entfliehn,
Flüchtig ist die Zeit!
Trinke, küsse! Sieh’, es ist
Heut’ Gelegenheit!
Weißt du, wo du morgen bist?
Flüchtig ist die Zeit!
Aber in der dritten, der Schlussstrophe, wird’s eben doch moralisch und daher nützlich:
Aufschub einer guten That
Hat schon oft gereut!
Hurtig leben ist mein Rath,
Flüchtig ist die Zeit!
Thematisch ging das in Ordnung, stilistisch bisweilen daneben („Liebe! Allerliebste Liebe, / Segne mich mit deinem Triebe!“ An die Liebe).
Empfindsamkeit
Die literarische Affektbeschreibung der heute so missverständlichen „Empfindsamkeit“ ist wesentlicher Teil der Aufklärung, weil sie die neue Selbstwahrnehmung der Leserschaft als einer Gruppe fühlender und kommunizierender Subjekte stärkte und als kultivierten Austausch über ihre Gemütslage literarisch inszenierte. Die ungemein große Rolle des Briefschreibens im 18. Jahrhundert hat die gleiche Ursache. Was für eine Verheißung, dass eines Tages das Gefühl regieren würde! Wie neu, wie umfassend war der Wert, den jeder Einzelne erhielt – und jede Einzelne (denn gerade das weibliche Lesepublikum kennzeichnet die Epoche, in der Gefolgschaft Gellerts, Klopstocks und eben Gleims)! Darin steht auch die Liebes- und Gefühlspoesie Gleims. Vielleicht klingt das alles weltfremd, aber es ist uns nah, wenn es festlich zugeht. Die Europa-Ode An die Freude oder vielmehr: deren literarisches Substrat in der Fassung Schillers ist ein waschechter anakreontischer Text, der Wein, Weib und Gesang in geselliger Runde verherrlicht. Da hat bereits Gleim vorgearbeitet, wenn er in seinem schlicht gehaltenen Lied An die Freude diesen schönen Affekt wieder „in’s Erdgetümmel“ locken möchte, um die Welt zu verbessern, „die Erde voll von Buben, / Voll von Trug und Hinterlist, / Voll von Mord und Mördergruben!“ Hier solle die Freude „in jedes Menschenherz“ kommen und für eine bessere Zukunft sorgen. Gleim schließt:
Kind des Himmels, Freude, komm’,
Komm’ herab und mach’ auf Erden
Alle böse Menschen fromm,
Daß sie wieder fröhlich werden!
In Schillers Pathos ist das dann auf stilistische Maximalflughöhe getrimmt mit himmelsspritzenden Berauschungsgetränken und weinenden Verstoßenen und „Männerstolz vor Königsthronen“, jedenfalls Männern im Männerbund, die, wenn sie Glück haben, ein „holdes Weib“ erringen. Weiblichkeit bleibt bei Schiller im Wortsinn abstrakt, denn die Freude ist weiblich, und immerhin hat die Natur lebensspendende weibliche Brüste. Bei Gleim war es noch der alte Maßstab der Antike, an der man selbst gemessen werden musste und der es unter aufklärerischen Prämissen gerecht zu werden galt.
„Auch stimm ich hohen Schlachtgesang mit seinen Helden an!“
Gleim war aber auch Kriegsdichter mit fester Orientierung an Friedrich II. und fester Überzeugung von der Rechtmäßigkeit von Preußens Kriegen. Dies unterstreichen die Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Mit Melodien (Berlin 1758), aber auch noch spätere Dichtungen. Auch hier steht Gleim in seiner Zeit. Man entdeckte die alten Skalden, Barden und Druiden und wollte deren vermeintliche Rolle als von Herrscher und Volk geachtete Poeten spielen, man schrieb „vaterländische“ Dichtungen. Es ging um die gesellschaftliche Rolle des Dichtens und der Dichter, also um die soziale Relevanz und aufklärerische Nützlichkeit. Die galt im neuen Konzept des Staatsbürgers und verstärkte sich in der Kriegssituation des Siebenjährigen Krieges zwischen Preußen mit Friedrich II. und Österreich unter Maria Theresia (1756–1763). Dieser Krieg, der in Nordamerika zur Neuaufteilung des Kontinents zwischen England und Frankreich führte, war in Mitteleuropa auch ein Krieg um kulturelle Hegemonie zwischen Berlin und Wien. Gleim schreibt als Kriegsbarde, etwa Bei Eröffnung des Feldzuges 1756:
Auch stimm ich hohen Schlachtgesang
Mit seinen Helden an
Bei Pauken- und Trompetenklang,
Im Lärm von Roß und Mann;
Und streit, ein tapfrer Grenadier,
Von Friedrichs Mut erfüllt!
Was acht ich es, wenn über mir
Kanonendonner brüllt?
Gleim schreibt, und zwar zu Hause, anonyme Rollenrede, wie (ebenfalls anonym) Lessing im Vorbericht ausführt: „Der Verfasser ist ein gemeiner Soldat, dem eben soviel Heldenmuth als poetisches Genie zu Theil geworden“; er frönt dem kriegerischen Heldentum: „Und dieser Heroismus ist die ganze Begeisterung unsers Dichters“, der förmlich als Kriegsberichterstatter „die wahre Ordnung der Begebenheiten zu der Ordnung ihrer Empfindungen und Bilder macht“. Gleims Kriegslieder sind auf Untertanenbegeisterung und nationale Identitätsbildung aus. Sein Lied vom Tode für’s Vaterland, das ganz barock-religiös mit der Allmacht
des Todes anhebt, schließt mit der Bekräftigung:
Sterbt, alle Menschen! ist Gebot,
In aller Welt bekannt!
Ich wüßte keinen schönern Tod,
Als den für’s Vaterland!
Der Dichter selbst hatte keinen so schönen Tod wie sein lyrisches Sprecherego, er ist im Bett gestorben und nicht im Feld, er wurde nicht eingescharrt, sondern wunschgemäß in seinem Garten beigesetzt.
„Krieg ist mein Lied!“
Das Thema des Soldatentodes war in der Kriegssituation um 1760 heiß diskutiert, von Thomas Abbt etwa (Vom Tode für das Vaterland, Berlin 1761), aber auch im Zusammenhang mit Lessings Kriegstragödie Philotas. Die Hingabe des eigenen Lebens für die Gesellschaft stand dabei zur Debatte, ebenso die Frage des Vaterlandes selbst (Joseph von Sonnenfels, Über die Liebe des Vaterlandes, Wien 1771), das es im nationalen Sinne im zerstückelten Heiligen Römischen Reich ja noch nicht gab, ein damals utopisches Konstrukt also, an dessen Errichtung auch Gleim mitarbeitete.
Schon Klopstock, der friedliche Sänger des Messias und der Oden, hatte 1749 ein Kriegslied auf Friedrich II. fabriziert, mit der Zeile „Willkommen, Tod fürs Vaterland!“ Als Lessing ohne Verfassernennung sein „kleines Trauerspiel“ Philotas übersendet (18. 3. 1759), das den kriegerischen Heldentod als juvenile Verirrung in Frage stellt, macht sich Gleim daran, dieses Prosadrama „in des Grenadiers Verse“ umzuschmieden (an Lessing, 25. 3. 1759), was Lessing als wahrer Verfasser nicht ganz goutiert.
Hier nun vergreift sich Gleim, der in der affektiven Intensität seiner poetischen Kriegsdarstellung offenkundig vergisst, was er damit eigentlich schreibt. Der Schlachtgesang bei Eröffnung des Feldzuges 1757 motiviert einleitend die eigene Truppe: „Auf, Brüder, Friedrich, unser Held, / … winkt uns in das Feld, / Wo Ruhm zu holen ist.“ Unmissverständlich verklammert das gehäufte Personalpronomen „wir“ die Kämpfer mit den Lesern. Im „ungerechten Krieg“ setzte es Niederlagen, während „unser“ Sieg bei Lobositz (1. 10. 1756) vom Gotteszeichen des Donners metaphorisch legitimiert ist, wie die Schlussstrophen ausführen:
Was helfen Waffen und Geschütz
Im ungerechten Krieg?
Gott donnerte bei Loboschitz
Und unser war der Sieg!
Und böt uns in der achten Schlacht
Franzos und Russe Trutz;
So lachten wir doch ihrer Macht,
Denn Gott ist unser Schutz!
Doch adressiert das Lied auch die feindlichen slawischen und ungarischen Truppenteile:
Was soll, o Tolpatsch und Pandur,
Was soll die träge Rast?
Auf, und erfahre, daß du nur
Den Tod verspätet hast.
Aus deinem Schedel trinken wir
Bald deinen süßen Wein,
Du Ungar! Unser Feldpanier
soll solche Flasche sein.
Der Gedanke, Feindesschädel als Feldflaschen zu gebrauchen, verfehlt bei weitem aufklärerische Humanität und literarischen Geschmack. Die geradezu kannibalische Vereinnahmung der besiegten Körper ist eine jener poetischen Wendungen, die uns von Gleim kategorisch trennen. Sein literarischer Gestus blieb in der Gattung der Schlachtenlyrik freilich auch forthin der gleiche. Wie der biedere Domsekretär Gleim sich zu Halberstadt in die Rolle des Grenadiers hineinschrieb, so behauptet der Priester Ottokar Kernstock in seinem Lied über die Schlacht bei Tannenberg (1914) im 1916 publizierten Steirischen Waffensegen: „Wer hat dies neue Lied erdacht? / Ein deutscher Spielmann hat’s gemacht / Beim tapfern Pokulieren / Mit Reitern und Musketieren.“ Und in den Kriegssprüchen formuliert er dort in der Rollenrede der Truppenanfeuerung die bereits von Karl Kraus (Die letzten Tage der Menschheit, III/32) exponierten schrecklichen Verse:
Steirische Holzer, holzt mir gut
Mit Büchsenkolben die Serbenbrut!
Steirische Jäger, trefft mir glatt
Den russischen Zottelbären aufs Blatt!
Steirische Winzer, preßt mir fein
Aus Welschlandfrüchtchen blutroten Wein!
Zu Recht ist Gleims Kriegslyrik vergessen. In Erinnerung wird und soll bleiben, dass man literarisch auch anders mit Krieg und Kriegsbegeisterung umgehen kann. Sehr bald distanziert sich Lessing, für den die Kriegsthematik zumindest literarischer Dezenz unterliegen sollte, von Gleims Grenadierprodukten, er kritisiert die „Verwünschungen“, „die Flüche des Grenadiers“ und seinen „übertriebenen Patriotismus“ (Brief an Gleim, 14. 2. 1759). Berühmt ist seine Formulierung: „Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr, und noch dazu ein soldatischer Patriot, der sich auf Beschuldigungen stützet, die nichts weniger als erwiesen sind!“ (16. 12. 1758). Als sein eigenes Kriegsdrama unter der Presse liegt, schreibt er an Gleim: „Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mir leid, daß ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheinet mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre“ (14. 2. 1759)
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ZU RECHT VERGESSEN
Die Serie Zu Recht vergessen – die besten schlechten Dichter aller Zeiten widmet sich dem Phänomen der Berühmtheit zu Lebzeiten, die durch keinerlei ästhetische oder poetologische Qualität gerechtfertigt ist. Der zu Recht vergessene, einst aber bekannte und gefeierte Autor ist mentalitätsgeschichtlich grundsätzlich interessanter als das zu Lebzeiten verkannte Genie, das „seiner Zeit voraus“ war. Im Unterschied zum „allzeit gültigen“ Werk des Klassikers stellt sich am Beispiel der Produktion des schlechten Autors oder der schlechten Autorin die Frage nach der historischen Kontingenz ästhetischer Werte und Wertungen.
Daniela Strigl, Karin S. Wozonig