Telefon! Sicher Marion. Aber Arthur ging nicht ran. Wegen der Service-Männer, die gerade dabei waren, seine nagelneue Einbauküche unter Wasser zu setzen. Der Ältere der beiden meinte, offenbar hätten sie beim Anschließen des Geschirrspülers, statt eines Aquastopp, einen Aquago eingebaut. Die Ansage ertönte schon, und er glaubte zu sehen, wie die Service-Männer die Ohren spitzten.
»Schatz, bist du da?«, fragte Marion. Aus der Küche Lachen. Er suchte den Ausschaltknopf des Anrufbeantworters. »Schatz, bist du da? Wenn du da bist, Schatzi, dann geh doch bitte, bitte ran!«
Die Schatzihasssoße kochte wieder hoch. Bei Schatzi dachte er weniger an Liebe als an Mord. Auch bei Hasi, Mausi, Bärchen, Wuffi, Schnuffi, Arthurlein und so weiter. Da hatte erst Marion kommen müssen, um ihn von seinem Schatzihass zu kurieren. Und jetzt, im Beisein der angeblichen Service-Männer, der allerbrutalste Schatzihassrückfall. Da, endlich, die Rettung, er zog den Stecker des Anrufbeantworters. Was heißt ziehen, er riss so kräftig am Stecker, dass Anrufbeantworter und Telefon vom Telefontischchen fielen. Er flüchtete ins Badezimmer und wählte Marions Handynummer, aber es meldete sich nur die Mailbox. Erneutes Wählen, erneut die Mailbox. Ein Handyhassrückfall kündigte sich an. Sein letzter Handyhassrückfall lag sechs Monate zurück.
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Oktobernachmittag, Marion hatte kurzfristig Zeit, ihn in einem Café am Winterfeldtplatz zu treffen. Es war das erste Mal, dass sie sich in der Öffentlichkeit bei Tageslicht küssten. Und das erste Mal, dass Marion ankündigte, ihren Mann verlassen zu wollen. Mein Gott, er traute seinen Ohren nicht! Wie oft hatte er in den drei Jahren Marion vor die Wahl gestellt – ich oder dein Mann! Und jedes Mal hatte ihr Mann gewonnen. Denn zwanzig Ehejahre zählten. Die Kinder zählten. Die gemeinsamen, auf Fotos, Dias und Videos festgehaltenen Erinnerungen zählten. Den Namen des Mannes hatte Arthur bis heute nicht in den Mund genommen. War es unumgänglich, von ihm zu reden, nannte er ihn Audifahrer. Mitten hinein in Marions Ankündigung meldete sich ihr Handy. Und Marion ignorierte es nicht, sondern sprach. Nein, quatschte. Fünf Minuten Quatschen mit ihrer Freundin Susanne in Ingolstadt. Wie er auf einmal Susanne hasste. Und Ingolstadt. Das Handy an sich und Marions Handy als solches.
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Ein dritter Versuch, wieder die Mailbox. Plötzlich die Panik, sie könnte die Affäre beenden. Aber warum Panik, wollte er die Affäre nicht längst beenden und sollte er jetzt nicht eigentlich erleichtert sein, dass sie das tat, wozu er die Kraft nicht hatte? Wie oft hatte er sonntagmorgens dagesessen und gedacht, wäre doch jetzt schön, mit Marion zu frühstücken. Und nach dem Frühstück mit Marion durch den Treptower Park zu spazieren. Mit Marion mal ein Wochenende zu verreisen. Überhaupt dieses lächerliche, demütigende Versteckspiel. Weil sie ihre Familie nicht zerstören wollte. Wie oft hatte er sich schon den ganzen Tag auf die ein, zwei Stunden mit Marion gefreut – und dann plötzlich die Absage. Was dazwischen gekommen. Hausaufgabenproblem bei Sohnemann Thomas, Streit mit Töchterlein Zoe, Operneinladung vom Audifahrer.
Der Handyhassrückfall war abgeflaut. Er sah ein, dass ohne ihr Handy die Geschichte zwischen ihnen viel komplizierter wäre. Sie war kompliziert genug. Er durfte sie ja nicht auf dem Festnetz anrufen. Trotzdem wählte er jetzt die Nummer.
»Ja«, sagte Marion.
»Ich bin’s«, sagte Arthur.
»Sie haben sich offenbar verwählt«, sagte Marion.
Arthur sagte nichts mehr. Dafür seine Atmung. Die mal wieder zu schnell und zu flach war. Was, wie er nur allzu gut wusste, zu einem Überangebot an Sauerstoff im Körper führte und damit das Gleichgewicht zwischen Sauerstoff und Kohlendioxid störte. Mit der Konsequenz, dass sich die Blutgefäße zusammenzogen. Hyperventilation nannte man das. Die Sauerstoffzufuhr im Blut wurde zwar erhöht, die Sauerstoffabgabe an die Körperzellen aber verringert. Wodurch es zu Schwindelgefühl, Sehstörungen, feuchten Händen, Taubheitsgefühl in den Gliedmaßen, Erstickungsgefühlen, Gefühlen von Unwirklichkeit und noch mindestens zwanzig anderen Symptomen kommen konnte. Das wusste Arthur, weil er seit acht Wochen an der Volkshochschule einen Abendkurs besuchte, um das richtige Atmen zu lernen. Bisher hatte sich der Kurs mit dem richtigen Atmen in Alltagssituationen beschäftigt. Das hier war eindeutig eine Stresssituation. Er hechelte wie ein alter Hund, der die Treppe hochgejagt wird. Wo er doch wie eine Schildkröte atmen sollte – ruhig und tief. Hunde, hatte der Kursleiter gesagt, werden fünfzehn Jahre alt, Schildkröten dagegen dreihundert.
Es klopfte, die Service-Männer. Sie waren fertig. Die Küche stand noch. Er begleitete sie zur Tür. Sie blieben länger im Türrahmen stehen als für die Verabschiedung nötig. Arthur erblickte darin eine aggressive Trinkgelderwartung und gab nichts.
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