Helgard Haug: All right. Good night (Rowohlt Verlag)
Das dürfte für mich die größte Entdeckung bisher in diesem Jahr sein. Helgard Haug schreibt auf wirklich aufsehenerregende Weise über das Phänomen des „ambiguous loss“, also den „mehrdeutigen Verlust“, zum einen über die schleichende Demenzerkrankung ihres Vaters, zum anderen über das Verschwinden des Flugzeugs MH370, das 2014 beim Flug von Kuala Lumpur nach Peking von den Radars verschwand. Haug erzählt formal und dramaturgisch grandios den Rückzug des Vaters, geht den Geschichten der Hinterbliebenen des verschwundenen Flugzeugs nach und macht dieses Spiel von An- und Abwesenheit, Verlieren und Festhalten so eindringlich, dass mir der ziemlich kurze Roman auch Wochen nach der Lektüre noch ganz fest im Kopf und im Körper sitzt.
Patricia Görg: Der Sturz aus dem Schneckenhaus (Schirmer Verlag)
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine zeitgenössische Schriftstellerin schöner und klüger und anregender über Bildende Kunst schreiben kann als Patricia Görg. Sie weiß eine Menge über Kunst und das Entstehen von Kunst, und dann ist ihr unbestechlicher Blick auch noch so geduldig, dass sich ihr in den Bildern Dinge zeigen, die allen anderen entgehen. Man wünscht sich, mit Patricia Görg gemeinsam durchs Museum zu streifen, hier und dort stehenzubleiben und anhand von Details plötzlich die ganze Welt zu verstehen.
Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio, übersetzt von Mirko Bonné, Verlag Schöffling & Co.
Manchmal schleicht man Jahre um einen Autor herum, von dem man eigentlich schon weiß, dass er einem gefallen wird. Irgendwann dann macht man sich endlich an die Lektüre. Und Winesburg, Ohio, veröffentlicht 1919, ist noch besser, als ich dachte. Ein Erzählreigen (die liebe ich eh), der mich an Johannes V. Jensens kurz vorher entstandene Himmerlandsgeschichten erinnert hat, geschrieben mit großer Liebe zum ländlichen Alltagsamerika, voller Zuneigung für Kauzigkeiten, Umwege, Menschlichkeiten. Zum Glück habe ich jetzt noch einige Bücher Sherwood Andersons vor mir!
Hanna Engelmeier: Trost. Vier Übungen, Matthes & Seitz Berlin
Für kluge, unberechenbare Essaybände habe ich eine Schwäche. Und Trost von Hanna Engelmeier ist noch ein bisschen klüger und unberechenbarer, als die meisten. Was Adorno mit Eiscreme zu tun hat, warum auch Gebete ohne intellektuelle Unterforderung tröstlich sein können, all das steht in diesem Buch. Tröstende Autoren und Autorinnen, wie Eileen Myles und David Foster Wallace, kommen auch vor. Der größte Trost für uns Leser ist am Ende natürlich, dass es dieses Buch überhaupt gibt und wir es lesen können.
Stefan Moster: Bin das noch ich, Mare
Bisher habe ich vor allem Stefan Mosters großartigen Übersetzungen aus dem Finnischen (besonders gern: Volter Kilpi: Im Saal von Alastalo) gelesen. Doch es lohnt sich auch, seine Romane zu lesen. Bin das noch ich erzählt von einem Geiger, dessen Körper plötzlich streikt. Er kann nicht mehr geigen, und so stürzt er, verständlich, in eine Sinnkrise, zieht sich auf eine einsame finnische Schäreninsel zurück, beginnt, die Musik der Natur zu erkennen und dringt, bis auf die Knochen von seiner gesellschaftlichen Rolle befreit, an die Wurzeln der eigenen künstlerischen Identität.
Jakob Wassermann: Caspar Hauser, S. Fischer Verlage
Klassiker lesen und veröffentlichen ist mein Beruf. Aber Klassiker lesen ist auch nach wie vor eine meiner größten Freuden. Caspar Hauser erzählt, in Fraktur gedruckt, die fesselnde Geschichte von Caspar Hauser, diesem irritierenden, plötzlich in der Welt stehenden Menschen, dessen Rätsel bis heute nicht gelöst sind. Jakob Wassermann hat in seinem 1908 erschienenen Roman die Fragezeichen auch nicht auflösen können, aber mir stockte beim Lesen der Atem, wenn er die Menschlichkeit Caspar Hausers und die Unmenschlichkeit und Verdorbenheit der Gesellschaft zeichnet. Wir alle sind Caspar Hauser.
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