Vor kurzem wurde mein Theaterstück Schluss mit André in einer neuen Inszenierung gezeigt. Die Komödie handelt von drei sich liebenden, aber rivalisierenden Frauen, zwei Schwestern und ihrer Freundin. Die meiner Meinung nach schnell zu sprechende, das ganze Stück etablierende erste Auseinandersetzung zwischen den beiden Schwestern, die gesamte erste Szene mit ihren Beziehungs-Abgründen und Pointen war gestrichen. Der Regisseur zeigte die beiden Schwestern beim Spiel Himmel und Hölle, in Österreich besser bekannt als Tempelhüpfen, also bei diesem gymnastischen Kinderspiel, bei dem man gewisse Felder treffen, andere vermeiden muss. Als ich den jungen, genialisch wirkenden Mann fragte, ob er denn wahnsinnig geworden sei, gab er mir zur Antwort, es sei für ihn als Regisseur künstlerisch uninteressant, die im Text dargestellten Konflikte zwischen den beiden Frauen einfach so vom Blatt zu spielen. Er habe versucht, das gesamte Konfliktpotenzial auf der nonverbalen Ebene zu etablieren. Konfliktpotenzial. Nonverbal. Etablieren. Hat er gesagt.
Als ich aufwachte, musste ich lachen. So sehen also die Alpträume eines Autors aus, der momentan ein etwas gestörtes Verhältnis zum Schreiben hat. Nein, keine Schreibblockade oder so, eine Ermüdung eigentlich, die gleichzeitig einen heilsamen Schutz gegen das ewige Funktionieren, Produzieren, den Markt beliefern darstellt. Schicken Sie uns 5000 Zeichen zum Thema XY, unbedingt bis übermorgen, zahlen können wir nichts, aber wir werden versuchen, Ihr neues Buch zu bewerben. Schreiben Sie uns ein neues Theaterstück, mal sehen, ob wir es dann auch spielen können, aber neu muss es sein. Immer neu, immer schnell, lustig und tiefsinnig, unterhaltsam und intellektuell, die Menschen wollen lachen und weinen, verstehen Sie, Emotionen, aber auch Reflexionen, natürlich Kritik, Kritik an der Globalisierung und an Kriegen und an der Klimakrise, ganz egal, Kritik verkauft sich sehr gut, wenn sie unterhaltsam vorgetragen wird. Na sicher. Sie machen das schon. Das wichtigste sind Figuren, die wirklich leben. Figuren, die man niemals vergisst. Ich schweige, bevor ich mich vergesse.
Schreibmüdigkeit. Eigentlich sollte ich mich angesichts von allem, was wir über die Zukunft des Planeten wissen, auf eine Straße kleben. Das mache ich aber nicht, vielmehr fahre ich über die Straße zu gelegentlichen Lesungen. Das Protestieren überlasse ich den Jungen, obwohl die es nach und nach aufgeben, weil sie von den Älteren im Stich gelassen werden. Ergibt es einen Sinn, gegen „das System“ anzuschreiben? Natürlich, aufgeben darf man nie, aber müde darf man manchmal sein. Neben der Schreibmüdigkeit laboriere ich übrigens auch an einer Leseblockade. Ich lese die Bücher meiner Kolleginnen und Kollegen und denke mir: So viel Mühe haben sie sich gegeben! Warum bloß? Was sagt es uns? Wird es uns retten?
Schreibmüdigkeit. Sie hängt sicher mit den aktuellen Ereignissen zusammen. In „Mein Vater, der Deserteur“ hatte ich im Jahr 2014 tatsächlich die Hoffnung gehegt, es würde zumindest auf unserem Kontinent keine großen Kriege mehr geben, weil alle Beteiligten aus den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs gelernt hätten. Weil Nationalismus verschwinden würde und die Vereinigten Staaten von Europa mit allen Balkanstaaten bald Realität wären. Weil Frankreich und Deutschland für immer Freunde bleiben würden. Und jetzt, keine zehn Jahre später? Ukraine-Krieg, Nationaldiktatoren mitten in der EU, eine Faschistin an der Spitze Italiens, aufstrebende europafeindliche Rechte in Frankreich. Das ist das eine. Das andere: Seit ich einen Vortrag des Klimaforschers Dr. Georg Kaser in unserem netten Dorfgasthaus besucht habe, also endlich aus erster Hand hörte, dass wir ganz knapp davor stehen, unsere Lebensräume durch unbremsbare, von der Erderwärmung ausgelöste Kettenreaktionen zu verlieren, scheint mir alles Literarische … nun was? Nein, nicht bedeutungslos. Aber unbedeutend.
Hinzu kommt: Mir wird immer bewusster, dass der Kulturbetrieb nach genau jenen Regeln funktioniert, die schon den Planeten in den Ruin treiben. Ein Betrieb, der, wie wir nicht erst seit Brecht, Horkheimer und Adorno wissen, den Gesetzen des Kapitalismus gehorcht, auch wenn er diese kritisiert. Das kapitalistische System schafft es, und das ist durchaus genial, die Kritik einfach zu schlucken und als Ware wieder auszuspucken. Während linke und rechte Diktaturen die Kritiker in Konzentrationslager und Gulags stecken, foltern und ermorden, wird die Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus verkauft. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bekomme lieber mein kleines Salär für meinen kleinen kritischen Artikel oder mein Buch oder mein Stück und nehme gerne in Kauf, dass diese Veröffentlichungen keine Auswirkungen auf unser ökonomisches und gesellschaftliches System haben, an dem gerade die Welt zugrunde geht. Es ist doch allemal besser, ignoriert zu werden, als die Stasi oder die Gestapo vor der Tür stehen zu haben.
Ich bin Teil dieses Kulturbetriebs, weil es anders gar nicht möglich ist, vom Schreiben zu leben. Ich beklage mich nicht. Ich konnte irgendwie immer vom Schreiben leben, auch wenn in manchen Jahren meine verstorbene Frau, die einem „normalen“ Beruf nachging, wesentlich mehr zum gemeinsamen Haushaltsetat beigesteuert hat.
Ich beklage mich nicht, aber ich beklage viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Perlen in ihren Schreibtischladen liegen haben, die nicht veröffentlicht werden. Oder diese Veröffentlichung findet quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: Das Verfehlen der Quote als selbsterfüllende Prophezeiung für alle weiteren Werke.
Auch im Kulturbetrieb gibt es mittlerweile Rating-Agenturen, die über Existenzen entscheiden. Sie heißen zum Beispiel Amazon-Ranking oder Auslastung. (Bei der „Auslastung“ der Theater hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass sich diese durch radikale Reduktion der Sitzplätze am leichtesten steigern lässt, aber das nur nebenbei.)
Erfolg generiert Erfolg, Pleite zieht Pleite nach sich. So sind die einfachen Regeln des Systems, in dem mitzuspielen auch für die erfolgreichen Kolleginnen und Kollegen zunehmend anstrengend wird. Das Rangeln um das Ranking und die Überlastung durch die Auslastung führt zur Erschöpfung. Ein künstlerisches Fatigue-Syndrom macht sich breit. Ausgebranntsein. Mehr No-burn als Burnout.
Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst auch im Kulturbetrieb. Die Pandemie hat diesen Effekt verstärkt. Ich höre, dass „Erfolgsproduktionen“ noch immer erfolgreich sind, während man sich dem Sperrigen versperrt und alles Schwierige es schwer hat. Mir wurde von Leuten, die sich in der Branche gut auskennen, berichtet, dass jene Autorinnen und Autoren, deren Bücher sich immer gut verkauft haben, noch immer gut verkaufen, während der „Mittelstand“ und die „Unterschicht“ wegbrechen. Soll jemand sagen, die Kunst hätte nichts mit dem Leben zu tun.
Es gibt, in der klassischen Ökonomie sowie in jener der Aufmerksamkeit, eine winzige Oberschicht, eine immer kleiner werdende Mittelschicht und eine riesige Unterschicht. Das ist auch ein Phänomen der öffentlichen Wahrnehmung: Es werden meist die Lieder derselben Interpretinnen und Interpreten gespielt oder die Bücher der gleichen Autorinnen oder Autoren besprochen. Ein verschwindend kleiner Teil der österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller verdient gut, während der Großteil mit den Einkünften aus künstlerischer Tätigkeit weit unter der Armutsgrenze liegt. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen kennen beides. Es gibt Jahre, da werden drei Hörspiele gesendet und ein neues Buch erscheint, ein paar Lesungen und Zeitungsartikel kommen dazu, und so findet man mit dem Einkommen sein Auskommen. Dann aber sollte man unbedingt sparen, weil es im Jahr darauf ganz anders sein kann; und man muss sich warm anziehen, weil der Wind einem in Form von SVA-Forderungen und Steuernachzahlungen rauer entgegenweht.
Nun fehlt sowohl der Kulturpolitik als auch dem Kulturjournalismus als auch dem Kulturmanagement entweder der Mut oder der gute Wille, dieses Selektionsprinzip zu hinterfragen, geschweige denn zu durchbrechen. Für die Politik ist es auf jeden Fall attraktiver, dem Erfolgsautor oder der Erfolgsautorin einen Orden zu überreichen, weil Bilder gemeinsam mit der oder dem Erfolgreichen der Karriere förderlich sind. Jener des Politikers oder der Politikerin. Im Feuilleton sagt man, man müsse das neue Erfolgsbuch einfach besprechen, weil das die Leserinnen und Leser erwarten. Und die Theaterdirektion spielt natürlich eine Dramatisierung des Erfolgsromans, auch wenn sich das Thema dieses Erfolgsromans für das Theater überhaupt nicht eignet. Aber die Theaterdirektion möchte auf Nummer sicher gehen: Sie hat etwas Neues und doch schon Erfolgreiches an Land gezogen, das kommt beim Feuilleton gut an, wo ja auch das Erfolgsbuch schon sehr wohlwollend besprochen wurde, und die für die Vertragsverlängerung der Theaterdirektion zuständige Politik liebt den Erfolgsautor oder die Erfolgsautorin sowieso, da kann jetzt eigentlich für niemanden mehr etwas schiefgehen.
Wie in den amerikanischen Lebensratgeberbüchern beschworen, bewahrheitet sich das Prinzip: Erfolg zieht Erfolg an. So kommt der Bestseller auf die Bühne, der Bühnenerfolg wird verfilmt, aus dem Kinohit wird wiederum das Buch zum Film, und so schließt sich der Erfolgskreislauf, bis zum nächsten Mal. Die meisten kulturell tätigen Menschen sehen mit Abscheu auf grausame Castingshows wie „Starmania“ herab. Dabei ist der Kulturbetrieb längst nach demselben Prinzip aufgebaut: Alle, die hier auftreten, können ein bisschen was. Die, die weiterkommen, werden entweder von einem hysterischen Publikum vorangetrieben oder von der Kritik unterstützt, wobei es letztendlich nicht um Zustimmung oder Ablehnung geht, sondern um den Wert, den man in der Aufmerksamkeitsökonomie zugewiesen bekommt.
Interessanterweise attackieren Klimaaktivistinnen und -aktivisten in letzter Zeit gerne Kunstwerke, Star-Kunstwerke natürlich, um maximale Aufmerksamkeit zu bekommen. Das geschieht uns möglicherweise recht. Denn die Aufmerksamkeit sollte sich darauf richten, wogegen anzuschreiben immer sinnloser scheint, wogegen anzukämpfen unsere Kinder oder Enkel aufzugeben beginnen, dass nämlich die Menschheit den Klimakollaps nicht oder nur schwer überleben wird.
Wird es gelingen, das tödliche System zu verändern? Ist es möglich, dagegen anzuschreiben? Vielleicht hatte der Regisseur aus meinem Alptraum ja recht damit, dass wir mit der Sprache nicht weiterkommen. Was aber sollen wir tun? Vielleicht ein paar Runden Himmel und Hölle spielen.
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