Sometimes I feel the need to reaffirm all of it, the whole unhappy territory and all the things loved and unlovable in it, for all of it is part of me.
Ralph Ellison, Invisible Man
Die Idee, einen Schwarzen, von dem nicht gesagt wird, dass er schwarz ist, ja, von dem die meisten Leser wohl annehmen, er sei weiß, oder sich die Frage, ob schwarz oder weiß, gar nicht erst stellen, bevor sie am Ende darauf gestoßen werden, zu einer der Hauptfiguren meines Romans Vier Tage, drei Nächte zu machen, ist mir beim Lesen von Toni Morrisons Essay „Beunruhigende Krankenschwestern und die Freundlichkeit der Haie“ gekommen, abgedruckt in dem Band Im Dunkeln spielen. Darin bezieht sie sich auf eine Figur in Hemingways Roman Haben und Nichthaben, einen Mann, zur Besatzung eines Fischfangbootes gehörig, von dem sie mit der größten Selbstverständlichkeit schreibt, er sei weiß, und als Begründung für diese Feststellung nur angibt: „… und das wissen wir, weil niemand es erwähnt.“ Gleichzeitig beanstandet sie, dass ein anderes Besatzungsmitglied als „Nigger“1 eingeführt wird, „mit all seinen Implikationen von Hautfarbe und Kaste“, ohne dass man über diese Figur jemals viel darüber hinaus erführe, weil damit ohnehin alles klar ist.
Haben und Nichthaben ist im Original bereits 1937 erschienen, in deutscher Übersetzung erst 1951, aber weil die allzu deutlichen Vorausannahmen, wenn wir einer Figur in einem Roman zum ersten Mal begegnen, immer noch zu oft alten Mustern folgen, hat mich das dazu gebracht, damit zu spielen. Mein einziges Bedauern dabei ist, dass die Erkenntnis, was wir alles schon zu wissen glauben und wie sehr wir von festen Erwartungen ausgehen, bis es dann doch vielleicht ganz anders kommt, keine Überraschung mehr sein kann, wenn das Geheimnis erst einmal gelüftet ist. Jedenfalls bin ich so zu der „afrikanischen“ oder vielmehr „afrikanistischen Präsenz“ in meinem Roman gelangt, um noch ein Wort von Toni Morrison aufzugreifen.
Doch auch der viele Schnee, den es in diesem Roman noch verschwenderischer gibt als in meinen anderen Büchern, ist in gewisser Weise ihr geschuldet und ihrer Beobachtung in einem anderen Essay desselben Bandes, „Vom Schatten schwärmen“, dass amerikanische Schriftsteller wenigstens einer bestimmten Epoche die Neigung hätten, in „Darstellungen eines undurchdringlichen Weiß“ zu flüchten, kaum dass sie einmal ein bisschen Schwarz zugelassen haben, Ausweichbewegungen, „die in der amerikanischen Literatur immer dann auftauchen, wenn eine afrikanistische Präsenz im Spiel ist“, geradeso, als wäre sonst die Bedrohung, die Unruhe, vielleicht sogar das schiere Leben, das davon ausgeht, nicht zu ertragen. Ob das statistisch auch wirklich haltbar ist, kann ich nicht beurteilen, aber ich habe mir alle Mühe gegeben, dass Toni Morrisons Befund auch auf mich zutrifft, und ihn gleichzeitig auf den Kopf gestellt und regelrecht geschwelgt in Weiß, allerdings nicht als Reaktion auf den Auftritt eines Schwarzen, sondern als Vorankündigung, als eine Art Teppich, den ich ihm damit auslege.
Auf die Spitze getrieben wird das in dem Bild eines schwarzen Bullen, der in einem frühen Augustschnee steht. Dahinter verbirgt sich eine Kindheitserinnerung meines Erzählers, der darauf sowohl mit Euphorie als auch mit Panik reagiert. Angesichts seines unaufhörlichen Schwärmens für den Schnee muss er sich von seinem Freund sagen lassen: „Hast du dich nie gefragt, was du eigentlich damit zum Ausdruck bringen willst, wenn du voll Inbrunst sagst, es gebe nichts Schöneres für dich, als wenn die ganze Welt weiß sei?“, was an anderer Stelle zu folgendem Dialog führt:
‚Schnee im August?‘
‚Den gibt es dort, wo ich herkomme.‘
‚Schnee auf dem Kilimandscharo?‘
‚Auch den gibt es oder hat es zumindest gegeben.‘
‚Schnee an den Ufern des Nils?‘
‚Ich weiß nicht.‘
‚Schnee in der Hölle?‘
‚Da muss ich endgültig passen‘, sagte ich lachend. ‚Aber du weißt, für mich könnte als Definition für sie durchgehen, dass es in ihr keinen Schnee gibt …'“
Dieser Freund, das ist der Hintergrund, hat einen amerikanischen Vater, und ohne dass ein Leser das am Anfang entschlüsseln könnte, findet sich außer Hinweisen wie diesem kleinen Gespräch, was es bedeute, wenn die ganze Welt weiß sei, die einzige „Markierung“ in seinem Namen. Er heißt eigentlich Karl, nach seinem über alles geliebten deutschen Großvater von der Mutterseite, schreibt sich jedoch mit „C“, seit er als Achtjähriger bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Stuttgart Carl Lewis laufen gesehen hat. Das ist der Hinweis auf sein Anderssein, sofern es da überhaupt Sinn ergibt, von Anderssein zu sprechen.
Der dritte Essay in Toni Morrisons Band, „Schwarze Angelegenheiten“, handelt von der Konstruktion einer amerikanischen Persona als Weißer in der amerikanischen Literatur, die dafür den Schwarzen braucht, sei es als „afrikanistische Präsenz“, sei es in seiner beschwiegenen Abwesenheit. Der Schwarze hat demnach die Funktion, den Weißen überhaupt erst weiß zu machen. Er dient „bis heute diesem Zweck“, wie es in einem anderen Essay von ihr heißt, „die weiße Unterschicht aus der Wahrnehmung zu verdrängen, die Nation und die Gesellschaft dadurch zu homogenisieren und die wahren sozialpolitischen Konfliktlinien unkenntlich zu machen“, weil selbst Weiße ganz unten sich damit zufriedenstellen lassen, dass es immer jemanden gibt, der noch weiter unten ist oder jedenfalls zu sein scheint als sie. Der Weiße ist weiß, weil er nicht schwarz ist, so einfach stellt sich die Rechnung dar, von der viel zu lange übersehen wurde, dass sie nicht aufgeht, und er kann seine Freiheit und Individualität und Männlichkeit und alle anderen amerikanischen Ideale besonders triumphal vor einer möglichst namenlosen, gesichtslosen und geknechteten Masse feiern, die ihm allein durch ihre Existenz seine Größe bescheinigt.
Noch weiter gegangen in diesem Antagonismus ist Frank B. Wilderson III. In seinem Buch Afropessimismus schreibt er, die Weißen brauchten die Schwarzen, um sich ihres eigenen Menschseins zu vergewissern. „Natürlich kann der Mensch sagen: Ich weiß, dass ich auf der Ebene der Identität am Leben bin, weil ich Spanisch oder Französisch oder Englisch spreche, weil ich heterosexuell oder homosexuell bin oder weil ich reich bin oder zur Mittelschicht gehöre“, heißt es darin etwa. „Um jedoch sagen zu können, dass ich auf einer paradigmatischen Ebene lebe, dass ich wirklich und wahrhaftig ein Mensch bin und nicht das andere … das kann nur in jenem Maße gewährleistet werden, in dem man sagen kann: Ich bin nicht Schwarz.“
Zustimmen wird man dem nicht einfach so wollen, aber sollte doch etwas dran sein, wäre der Gedanke, dass es in den USA vorher einen schwarzen Präsidenten gebraucht hat, um möglich zu machen, was darauf folgte, der sich in Ta-Nehisi Coates‘ Essayband We Were Eight Years in Power findet, gar nicht mehr so abgründig, sondern eine Banalität: „Es ist, als hätte sich der Stamm der Weißen zusammengefunden, um zu demonstrieren: Wenn ein schwarzer Mann Präsident werden kann, dann kann auch jeder beliebige weiße Mann – egal wie verkommen – Präsident werden.“ Denn das hieße, dass die Weißen fortan nicht einmal mehr nach dem Besten unter ihnen suchen müssten, weil jeder genügte, und es hat nicht lange gedauert, bis sich diese Prophezeiung erfüllt hat, im Gegenteil, es ist gleich bei der allerersten Gelegenheit geschehen.
Nun bin ich kein Amerikaner und auch kein amerikanischer Schriftsteller, selbst wenn ich manchmal damit kokettiere, es könnte einer an mir verlorengegangen sein, aber weil es in meinen letzten Romanen amerikanische Schauplätze und jeweils einen amerikanischen Strang der erzählten Geschichte gibt, wundert es mich nicht, dass sich auch mir die Frage einer möglichen „afrikanistischen Präsenz“ immer deutlicher gestellt hat, die ich dann zu einer „afrikanischen Präsenz“ machen wollte. Es gibt schwarze Figuren in diesen Romanen, wenn anfangs auch noch ganz an den Rändern, und ein einziges Mal solche, die auch als schwarz beschrieben werden. Ansonsten habe ich darauf vertraut, dass sich das aus den Umständen erschließt und sie nicht über die Hautfarbe charakterisiert, weil mir gerade das als problematisch erschienen wäre, aber ich frage mich, ob ich mich unter dem Blick von Toni Morrison anders entschieden hätte, die in ihrem Essay „Das unausgesprochene Unaussprechliche: Die afroamerikanische Präsenz in der amerikanischen Literatur“ schreibt: „Wenn ich die amerikanische Literatur betrachte, denke ich unwillkürlich, dass die Frage nie hätte lauten sollen: ‚Warum komme ich, eine Afroamerikanerin, darin nicht vor?‘ Das ist eine ohnehin nicht besonders interessante Frage. Die weit interessantere lautet: ‚Welche intellektuellen Anstrengungen haben der Autor oder sein Kritiker unternommen, um mich aus einer Gesellschaft zu löschen, in der es von Menschen wie mir wimmelt, und wie hat sich das auf dieses Buch ausgewirkt?'“
Habe ich intellektuelle Anstrengungen unternommen, die einer solchen Auslöschung zuarbeiten? Ich glaube nicht, eher ist es, unschön genug, „strukturell“ zu erklären und aus einer paradoxen Mischung aus Nachlässigkeit und Vorsicht und einem allzu selbstverständlichen Nichtzuständigkeitsdenken geschehen, dass ich mich so lange daran erst gar nicht herangewagt habe. Doch plötzlich sehe ich allenthalben schwarze Figuren in meinen Romanen, von denen ich mir nicht einen Augenblick überlegt habe, dass sie schwarz sein könnten, und die ich, hätte ich mir das überlegt, wahrscheinlich trotzdem nicht als schwarz bezeichnet hätte.
Wie könnte es in Die kommenden Jahre bei einer Gruppe von internationalen Wissenschaftlern, die sich zu einem Kongress in New York treffen und als Glaziologen zugegeben ganz schön viel symbolisches Weiß repräsentieren, auch anders sein, als dass ein paar von ihnen schwarz sind, aber in der Individualisierung bin ich für meine Erzählung mit einem Wissenschaftler jugoslawischer Abstammung und einer Wissenschaftlerin mexikanischer Abstammung ausgekommen und hätte es als zu gewollt empfunden, hätte ich einen von den anderen auch noch explizit schwarz gemacht. Zudem steht im Zentrum des Romans eine syrische Flüchtlingsfamilie, mit deren Kategorisierung, ob weiß oder schwarz oder was auch immer dazwischen, ich gar nicht erst beginnen wollte, weil ich solche Farbenspiele lieber anderen überlasse. Und es gibt das Haus eines Industriellen nördlich von New York, in das die Wissenschaftler für ein Wochenende eingeladen sind und von dem es heißt, dass von seinen Bediensteten alle bis auf einen schwarz sind. Das zu bemerken scheint mir von Bedeutung, weil in dieser Bemerkung weniger ein Klischee als eine Kritik an den immer noch herrschenden Zuständen steckt, und es ist kein Zufall, dass der Erzähler von dem Haus sagt, er hätte es „eher in den Südstaaten erwartet“: „Zweistöckig, weiß und ganz aus Holz, mit einer rundum laufenden Veranda und ausladenden Balkonen, hatte es etwas von einem gestrandeten und dann in einer Mammutanstrengung über Land geschleppten Mississippi-Dampfer“, und natürlich könnte es in diesem Vergleich nicht irgendein x-beliebiger Dampfer sein.
Auch unter den Air-Base-Leuten, die in Als ich jung war für eine Ferienwoche aus Cheyenne nach Jackson, Wyoming, kommen, sind wahrscheinlich Schwarze, aber sie sind bis auf einen nicht individualisiert und treten nur als Gruppe auf, und ich hätte schon in dem Sheriff oder dem Hilfssheriff des Städtchens mit seiner überwiegend weißen Einwohnerschaft einen Schwarzen haben müssen, aber der ist japanischer Abstammung, weil mir das die Gelegenheit geboten hat, in einem Satz zu erzählen, seine Großeltern seien als Japaner während des Zweiten Weltkriegs in einem Camp nördlich von Cody interniert gewesen. Was ist mit der Gruppe von Schneemobil-Verrückten, die ihr eigenes Wochenende haben und allein durch die Art ihrer Tätigkeit viel Weiß für sich in Anspruch nehmen: Gibt es unter ihnen Schwarze? Nicht weit von Jackson liegt das Wind-River-Reservat, das immer wieder das Ziel von Betrunkenen ist, von denen es unheilvoll heißt, dass sie nach Mitternacht „auf die Idee kamen, den Indianern einen Besuch abzustatten, wie sie sagten“, weil die Phantasien nicht auszurotten sind, „dass dort auf den verlassenen Straßen zwischen den verstreuten Häusern und Trailern Mädchen aus den ärmsten Familien für ein Butterbrot zu haben waren“. Abgesehen davon, dass auch die nicht weiß sind, will man sich unter den unliebsamen nächtlichen Besuchern Schwarze vorstellen? Ich weiß es nicht, doch ich hätte vielleicht in dem Fahrer des Leichenwagens bzw. des zum Leichenwagen umfunktionierten Pick-ups, der auf diesem Gefährt eine Leiche von Jackson, Wyoming, nach Seattle transportiert, einen Schwarzen haben können, hätte mir damit aber wohl nur den Vorwurf eines Klischees eingehandelt. Oder ich hätte es mit einem der beiden Hemingway-Lookalikes versucht, die der Erzähler auf einer Schneeschuhwanderung in die Wildnis führt, und hätte mit dieser Idee bei einer sehr woken Gemeinde womöglich Anklang gefunden, wäre damit jedoch nicht über einen billigen Klamauk und eine Parodie hinausgekommen.
Schließlich ist auch das Filmteam an der mexikanisch-amerikanischen Grenze in El Paso in Der zweite Jakob ohne Zweifel gar nicht denkbar ohne Schwarze, aber ich hatte schon genug mit meinen Mexikanern und meinen Mexikanerinnen zu tun und hätte die Hervorhebung von einem von ihnen als schwarz, wenn es sich nicht aufgedrängt hätte, als allzu geschmeidige Erwartungs- und vielleicht sogar Quotenerfüllung gesehen, weil es natürlich auch keine Hervorhebung von anderen als weiß gibt und es schon Gründe für eine solche Hervorhebung braucht.
In dem Roman kommt eine Tote am Straßenrand irgendwo in der Wüste von New Mexico vor, und zwischen dem Erzähler und seinem Freund Stephen entspinnt sich ein unangenehmes, kleines Gespräch über ihren Namen. Sie heißt Calisa Cole, und diese Information allein soll genug sein für die Frage, ob sie schwarz gewesen sein könnte. Ein Leser kann das natürlich nicht wissen, aber für meine Privatmythologie war es beim Schreiben der Stelle von einiger Wichtigkeit, dass ich in der Wirklichkeit einmal eine Frau dieses Namens gekannt habe, die weiß war, so dass ich vor mir selbst gar nicht in den Verdacht kommen konnte, ich dächte vielleicht ähnlich verquer wie Stephen, der es partout wissen will, nachdem der Erzähler ihn zur Rede stellt:
„‚Warum sollte sie schwarz gewesen sein?‘
‚Na ja“, sagte er. ‚Wer heißt Calisa Cole?‘
‚Sie war weiß wie …‘
Mir fiel kein passender Vergleich ein, aber ich hätte am liebsten gesagt: ‚Sie war weiß wie Scheiße‘, weil ich eine solche Frage von Stephen nicht erwartet hätte.
‚Ich muss es wissen‘, sagte ich stattdessen nur. ‚Ich habe ihr lange genug ins Gesicht gesehen. Das Wort dafür ist ‚leichenblass‘, wenn du verstehst, was ich meine. Außerdem ändert es nichts an unserem Problem. Eine Tote ist eine Tote, nehme ich an, egal, welches Leben und welche Hautfarbe sie gehabt hat.'“
In einer Verfilmung wäre es anders, man würde bei einer Gruppe gar nicht umhinkommen, ihre einzelnen Mitglieder auch nach äußeren Kriterien zu besetzen, aber in der Literatur kann vieles unbestimmt bleiben, und jede Charakterisierung einer Figur sollte implizit eine Rechtfertigung für diese Charakterisierung mitenthalten. Anders gesagt, in einem Film sieht man, ob darin Schwarze vorkommen oder nicht, in einem Buch können sie vorkommen, ohne dass es gesagt wird, und es gilt vor allem unsere Phantasie zu schulen, dass wir am Ende so weit sind, nicht mit automatischen Festlegungen zu reagieren, wo es diese Festlegungen nicht gibt, also nicht per se schon anzunehmen, eine Figur sei weiß, nur weil nichts weiter über sie gesagt wird, sie sei heterosexuell, sie sei entweder ein Mann oder eine Frau und nicht irgendein Drittes, und meinetwegen auch nicht, sie sei ein Mensch und nicht eine Maschine, die nur so tut, als wäre sie einer.
Ausreden, Zurechterklärungen und womöglich der falsche Stolz auf die eigene Farbenblindheit oder auch nur auf die eigene vermeintliche Farbenblindheit, der man nicht so leicht trauen sollte und gegen die Toni Morrison sich in ihren Essays an mehreren Stellen verwahrt, die sie aber dann doch an einer anderen Stelle als Möglichkeit in der Literatur sieht?
Weiße Teddybären, die ich beim Herumblättern in meinen Romanen finde, ein weißer Teddybär, der ausgerechnet den Namen eines amerikanischen Präsidenten trägt, ein anderer in XXL-Größe in der Kammer einer wahrscheinlich schwarzen Prostituierten in Amsterdam, das Edelweißabzeichen eines staatlich geprüften Skilehrers, ein Bildband mit Fotografien von Schneeflocken, hier „ein rosiges Jungengesicht mit blonden, wie gefrosteten Härchen auf den Wangen“, dort ein Mädchen mit einem „Husky-Blick, eisig und starr“, das natürlich auch blond ist und zu allem Überfluss „Flocke“ genannt wird, und Schnee, Schnee, Schnee, wohin man auch blickt, oder die Sehnsucht nach Schnee, wenn es irgendwo einmal keinen gibt.
Ein paar Sätze wieder von Toni Morrison: „Eine farbenblinde, rassenneutrale Umgebung sehe ich weder voraus, noch will ich sie. Die Zeit dafür war das neunzehnte Jahrhundert“, schreibt sie an einer Stelle, und an einer anderen: „Ich fand schon immer, dass dieselben Leute, die eine Rassenhierarchie erfunden haben, als sie ihnen nützlich war, nicht diejenigen sein sollten, die dieses Konzept jetzt, da es ihnen nicht mehr zweckdienlich erscheint, wegerklären.“ Und an einer wieder anderen: „Verschärft wird die Situation dadurch, dass Gespräche über ‚Rasse‘ angstbesetzt sind – dies umso mehr, als es als angemessen, liberal, ja großherzig gilt, die ethnische Zugehörigkeit zu ignorieren … Folgt man dieser Logik, spricht jeder wohlerzogene Instinkt gegen das Registrieren der Differenz und verhindert eine erwachsene Debatte.“
Wohin also mit der eigenen Farbenblindheit oder vermeintlichen Farbenblindheit oder auch nur dem Wunsch nach ihr, die Ta-Nehisi Coates in seinen Essays im übrigen mehrfach bei Barack Obama feststellt, von dem er sagt, er habe sich inszeniert als „das Symbol einer Gesellschaft, die die denkfaulen Einteilungen in Rassen hinter sich gelassen hat“, und den er bei aller Bewunderung kritisiert „für sein Beharren auf ‚farbenblinder Politik‘ und für seine Neigung, Schwarzen wegen ihrer angeblichen Defizite die Leviten zu lesen“? Sich ausgerechnet bei dem grundsätzlich nie nach einem Ausgleich suchenden Frank B. Wilderson III nach einer Antwort oder vielleicht auch nur nach Exkulpation umsehen, der schreibt: „Kurzum, das Bewusste eines radikalen Menschen sagt: ‚Ich sehe Farbe nicht‘, während das Unbewusste ’sagt‘ (und zwar in Formen, die aufs Seltenste lesbar sind): ‚Ich lebe in Angst vor einem Schwarzen Planeten'“? Oder doch noch einmal Toni Morrison hinzuziehen, die nach dem Lesen von J.M. Coetzees Leben und Zeit des Michael K. ihren eigenen Plädoyers gegen Farbenblindheit zu widersprechen scheint?
„Ich bin nicht allein damit, dass ich mich auf ‚Rasse‘ als Nicht-Signifikanten konzentriere“, schreibt sie. „John Coetzee hat das … ziemlich gekonnt gemacht. In diesem Buch treffen wir augenblicklich Annahmen, ausgehend davon, dass es in Südafrika spielt, dass die Hauptfigur ein armer Lohn-, manchmal auch Wanderarbeiter ist; dass die Leute in aller Regel vor ihm zurückschrecken. Aber er hat eine schlimme Hasenscharte, die vielleicht der Grund für sein Pech ist. Nirgendwo in dem Buch wird Michaels Rasse erwähnt. Als Leser nehmen wir etwas an, oder wir tun es nicht. Was, wenn wir die unsichtbare Tinte in dem Buch läsen und feststellten, dass es anders ist – wenn wir es als Drangsale eines armen weißen Südafrikaners läsen (die Legion sind)?“
Natürlich kann einem das Unbewusste jeden Streich spielen, und vielleicht sollte man besonders vorsichtig sein, wenn einem das eigene Bewusstsein signalisiert, man sei auf der sicheren Seite, aber warum nicht beides, solange man nicht mehr weiß, „eine erwachsene Debatte“, bei der über „Rasse“ nicht ebenso verschämt wie unbehaglich geschwiegen wird, und trotzdem „‚Rasse‘ als Nicht-Signifikant“? Denn selbst wenn man dem Gespräch gern auswiche, muss dann ja doch darüber gesprochen werden, spätestens wenn andere es zum Problem machen. Man kommt mit seiner eigenen Farbenblindheit oder auch nur seiner eigenen vermeintlichen Farbenblindheit nur so lange durch, bis man es mit Leuten zu tun hat, die nicht bloß Farben sehen, sondern darauf bestehen, Farben zu sehen und einen Unterschied zu machen, ob in kämpferischer, ob in wohlwollender, wohlmeinender oder auch nur gönnerhafter, ob in rassistischer Absicht, wobei die Grenzen zwischen dem, was das eine ist und was das andere, nicht immer ganz klar verlaufen.
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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um den Anfang eines Essays, der im Frühjahr 2023 in dem Band Mehr als nur ein Fremder bei Hanser erscheinen wird.
1) Die N-Wörter sind aus den Originaltexten bzw. aus den Übersetzungen der Originaltexte zitiert.
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