Ein Mann sein

Von Norbert Gstrein. Aus dem kommenden Roman Vier Tage, drei Nächte.

Online seit: 14. August 2022
Norbert Gstrein © Gustav Eckart
Norbert Gstrein. Foto: Gustav Eckart

Natürlich habe ich irgendwann einmal auch Freundinnen gehabt, noch als Schüler, wenn man auf dieses „gehabt“ nicht zuviel Gewicht legt, zwei Mitschülerinnen, mit denen ich jeweils ein paar Wochen zusammengewesen war, aber die einschneidendste Erfahrung hatte ich schon damals mit einem Mann gemacht, gegenüber der mir alles andere wie Kinderkram vorkommt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht jedoch nicht, dass es mit einem doppelten Fehlschlag bei einem Mädchen begann, und es war nicht irgendein Mädchen, es war Mieke, mit der ich mir auch ein paar glücklichste Augenblicke meines Lebens hätte vorstellen können. Sie war in den Osterferien mit ihren Eltern in unserem Hotel gewesen, gerade vierzehn, ein milchig verträumtes Gesicht und schlaksige Glieder, und allein ihre Sprache hatte gereicht, um mich aus dem Lot zu bringen, das Holländisch, das mir von da an von allen Sprachen die liebste war, mit seinem ewigen Reiz, etwas zuerst anscheinend zu verstehen und im nächsten Augenblick zu begreifen, es doch nicht richtig verstanden zu haben. Wir hatten keine Woche gebraucht, um uns ohne alles Getänzel und Gepluster, sondern eher zielgerichtet aufeinanderzu zu bewegen, Mieke und ich, und waren schließlich spät am Abend vor ihrer Abreise am nächsten Morgen oder genaugenommen lange nach Mitternacht in der Hotelhalle gelandet. Sie hatte kein eigenes Zimmer, schlief auf einem Zustellbett bei ihren Eltern, und ich hatte meines an Stammgäste abtreten müssen, weil mein Vater wieder einmal überbelegt hatte. Deshalb war das Foyer der einzige Ort, an dem wir einigermaßen ungestört sein konnten, und wir hatten uns gerade erst in der dunkelsten Ecke aneinandergedrückt und begonnen, uns gegenseitig die noch kalten Hände unter die Pullover zu schieben, als die Drehtür auf- und zuging und polternd ein anderes Paar hereingestolpert kam.

Um es klar zu sagen, was wir dann in der nächsten halben Stunde erlebten, war eine Vergewaltigung. Die beiden hatten sich am anderen Ende der Hotelhalle plaziert, und es war so dunkel, dass weder wir sie noch sie uns zu sehen vermochten, nicht einmal die Silhouetten oder nur kurz, als sie sich vor den Fenstern abzeichneten, aber während wir sofort still wurden, glaubten sie sich allein, und wir konnten sie hören. Die paar Augenblicke, in denen wir uns noch zu erkennen hätten geben können, waren schnell vorüber, und schon folgte eines auf das andere, ein Gekicher, die schmatzenden und saugenden Geräusche ihrer Küsse, Geflüster, ihre Stimmen betrunken, wieder Gekicher, und es dauerte nicht lange, bis das erste „Nein!“ der Frau zu hören war über dem Kratzen eines Reißverschlusses, dem Klingeln einer Gürtelschnalle, dem Geraschel von Kleidung, das erste „Was machst du da?“, das erste „Bitte nicht!“ und das unwillige, drängende „Aber ich tu doch gar nichts!“ des Mannes, sein „Ich passe schon auf!“, das er alle paar Augenblicke wiederholte, und schließlich sein „Was glaubst du, worum es hier geht?“, sein „Wir sind doch keine Kinder, verdammt!“, sein „Bildest du dir ein, du kannst mich den ganzen Abend zum Narren halten?“, auf das nur mehr ihr Wimmern und ein trauriges Schlappen und Klatschen von Fleisch gegen Fleisch folgte.

Ich war erst seit wenigen Tagen sechzehn, und doch hätte ich aufspringen müssen und etwas sagen, aber ich saß nur da und spürte, wie Mieke ihre Hand unter meinem Pullover hervorzog und meine unter ihrem herausnestelte und sie mir zurückgab wie eine abgefallene Prothese, als fröstelte es sie nur vom Gedanken an eine weitere Berührung, während sie von mir abrückte und nach einer viel zu langen Stille endlich die Stimme der Frau zu hören war.

„Ist es das?“ sagte sie in ihrem Deutsch, das nicht von hier war, und es klang verwaschen, wie aus einem anderen Raum und als wäre sie nicht recht bei Bewusstsein, und tatsächlich bemühte sie sich zu lachen, ein hilfloser Reflex. „Das …?“

Stattdessen weinte sie plötzlich, ein lautloses Weinen, das in der Stille trotzdem zu hören war, weil es ihren Atem beschleunigte und sie wie in einem Schluckauf nach Luft ringen ließ.

„Hast du wenigstens …?“

Der Mann unterbrach sie brüsk.

„Ich habe dir doch gesagt …“

„Das …?“ sagte die Frau wieder.

„Das …? Ist es wirklich das, was du gewollt hast? Das …?“

Den Lauten zufolge schlug sie jetzt auf ihn ein, aber wenn es überhaupt ein Schlagen war, so eines, das vor Kraftlosigkeit und Vergeblichkeit sofort in sich zusammenbrach.

„Und dann hast du nicht einmal aufgepasst!“

„Ich habe dir doch gesagt …“

„Aber ich spüre es! Du kannst mir sagen, was du willst, du rücksichtsloses Schwein! Ich spüre es!“

„Es wird ja nicht gleich etwas passiert sein.“

„Hau ab!“ sagte sie, ihre Stimme ganz brüchig. „Nicht gleich etwas passiert! Ich höre mir deinen Schwachsinn nicht an. Hau sofort ab, oder ich schreie, du Schwein! Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht geht! Du weißt genau, was passiert ist!“

Die Frau weinte jetzt laut, und immer wenn der Mann noch mehr zu sagen versuchte, fiel sie ihm ins Wort, er solle abhauen oder sie schreie, aber sie schrie nicht, und gleich darauf konnten wir hören, wie er aufstand und sich davonmachte, ein wütendes Tischerücken, und für ein paar Augenblicke tauchte sein Schatten wieder vor den Fenstern auf, riesig und schwarz und fast zum Greifen nah. Er war ein Einheimischer, jedoch nicht aus dem Dorf, der Sprachfärbung nach von irgendwo zwei oder drei Dörfer weiter, und ich war froh, dass ich ihn nicht an seiner Stimme erkannt hatte. Ich bildete es mir sicher nur ein, der Raum war viel zu groß dafür, aber ich glaubte plötzlich seinen Geruch aufgeschnappt zu haben, etwas muffig Abgestandenes, süßlich verpappt und vermischt mit Schweiß und einem Eau de toilette, das die Ausdünstung eher verstärkte als übertönte, und wenn ich Mieke schon nicht die Ohren bedeckt hatte, hätte ich ihr jetzt am liebsten wenigstens die Nase zugedrückt. Während die Drehtür sich wieder bewegte, tastete ich nach ihrer Hand, aber sie zog sie zurück, und als ich es noch einmal versuchte, entfernte sie sich nur weiter von mir, und dann lauschten wir, bis die Frau aufstand und ging, und ich hatte das Gefühl, dass auch sie lauschte und mit ihrem Lauschen der Stille immer noch etwas entzog und sie dadurch immer unheimlicher machte.

Danach wollte Mieke bloß noch ins Bett. Ich weiß nicht, ob sie mir nicht verzieh, dass ich nicht versucht hatte einzuschreiten, ob sie von der Sache selbst so abgestoßen war oder ob sie in mir einfach nur einen Mann sah, einen Vertreter des Geschlechts, das imstande war, so etwas zu tun, aber wir wechselten nur mehr ein paar Worte, bis sie sich verabschiedete, und als ich sie fünf Monate später in Amsterdam besuchte und sie mir im letzten Augenblick mitteilen ließ, sie wolle mich nicht sehen, wurde ich den Gedanken nicht los, dass sie mich damit bestrafte. Wir hatten uns ein paarmal geschrieben, doch an ihrer Adresse öffnete niemand, und als ich von einer Telefonzelle aus anrief, war ihr Vater dran und sagte, sie könne gerade nicht, es tue ihm leid, sie könne auch morgen und übermorgen nicht, was klang, als gälte das genauso für alle anderen Tage ihres Lebens, und ich stand da wie in Erwartung dessen, was in Wirklichkeit bereits geschehen war.

Ich hatte kein Hotel, aber eine knappe Stunde danach fand ich mich im Rotlichtviertel wieder und beobachtete dort lange von einem Poller an einer Gracht aus ein Mädchen in seiner Auslage. Sie war vielleicht Anfang zwanzig, trug einen lachsfarbenen Bikini, der sich hell auf ihrer Haut abzeichnete, saß auf einem Barhocker und drehte an einem Zauberwürfel herum, ruckelte manchmal an ihrer Brille, die sie von Zeit zu Zeit abnahm und betrachtete, als könnte sie nicht glauben, was sich ihr durch die Gläser darbot, und manchmal legte sie den Würfel beiseite, trat ganz vor in das Schaufenster und spreizte Arme und Beine zu perfekten Diagonalen, die sich über ihrer Vulva exakt in ihrem Bauchnabel schnitten, mehr eine Art gelangweilter Gymnastik als eine Zurschaustellung. Ich konnte sehen, wie sie die Muskeln ihrer Oberschenkel und ihre Bizepse anspannte, ich konnte ihre Bauchmuskeln sehen, und dann schlenkerte sie ihre Glieder aus und tänzelte leichtfüßig vor und zurück, bevor sie sich wieder hinsetzte und von neuem ihrer Beschäftigung nachging. Zwischendurch tat ich ein paar Schritte, und wenn ich wieder meinen Platz einnahm, schenkte sie mir mitunter einen Blick, einmal ein Lächeln, einmal ein Kopfschütteln. Um zu ihr zu gelangen, mussten die Männer eine kleine Treppe hinaufsteigen, und ich hoffte jedesmal, sie würde sie abweisen, und wenn doch einer eintrat und sie den Vorhang zuzog und er nach einer Viertelstunde wieder herauskam, stellte ich mir vor, wie ich hinter ihm hergehen und ihn im Schutz der Dunkelheit in die Gracht schubsen und ihm davor noch ein Messer in den Rücken stoßen würde.

Es war halb drei Uhr am Morgen, als ich selbst die Treppe hinaufstieg, viele von den benachbarten Auslagen schon dunkel und nur mehr wenige Passanten unterwegs. Ich hatte die oberste Stufe erreicht, als sie aus dem Fenster trat und mir die Tür öffnete. Es war kälter geworden, und sie hatte sich einen Kimono übergezogen, ein großes, blaues Blättermuster auf weißem Grund, nahm die Brille ab, wie um mich besser ins Auge zu fassen, setzte sie wieder auf, nahm sie gleich danach aber von neuem ab und legte sie auf das Fenstersims. Über ihre Schulter sah ich in das Innere des kleinen Raums, den fast zur Gänze ein großes, mit einer buntscheckigen Decke überzogenes Bett ausfüllte, auf dem ein weißer Teddybär in XXL-Größe lag, wie man sie an den Schießbuden von Jahrmärkten als Hauptgewinn bekam, und davor auf dem Boden eine leere Weinflasche und ein Tablett mit schmutzigem Geschirr.

„Du scheinst dir das ja sehr gründlich überlegt zu haben“, sagte sie und wischte ihre Handflächen aneinander, die Finger so abgespreizt, dass sie sich nicht berührten. „Brauchst du für alles andere auch so lange? Du bist volle fünf Stunden auf dem Poller gesessen. An deiner Ausdauer scheint es nicht zu hapern. Was willst du machen?“

Ich sagte nichts, und als sie lächelte, sah ich, dass ihr ein Eckzahn fehlte, was ihrem Gesicht sofort einen härteren Ausdruck verlieh.

„Die ganze Nacht hast du nicht Zeit. Ich will gleich schließen. Also denk nicht lange nach und sag schon.“

Ihre Stimme klang gereizt, und als ich sie fragte, wie sie heiße, erwiderte sie, ich sei wohl ein Romantiker und ginge wahrscheinlich noch zur Schule.

„Such dir einen Namen aus, aber beeil dich.“

Ich hatte kaum „Mieke“ gesagt, als sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich und dann wieder vortrat. Dabei sah sie mich an, als versuchte sie zu ergründen, ob sie mich schon einmal irgendwo gesehen hatte, und erkundigte sich, woher ich käme, fasste aber nicht nach, als ich nicht antwortete. Erst darauf sagte sie, das sei der einzige Name, der nicht in Frage komme, und als ich wissen wollte, warum, hatte ich einen Augenblick den Eindruck, dass sie das wütend machte.

„Darum“, sagte sie dann möglichst ruhig, aber mit einer Bestimmtheit, die unmissverständlich war. „Vielleicht, weil ich so heiße. Vielleicht, weil du in dieser Woche bereits der Dritte bist, der mich Mieke nennen will, und ich diese Phantasielosigkeit nicht aushalte. Vielleicht, weil ich den Namen nicht mag.“

„Oder vielleicht, weil du ihn magst?“

„Du hältst dich wohl für besonders schlau“, sagte sie. „Hör auf, herumzureden, und komm zur Sache. Ich bin nicht dafür da, dir Nachhilfe zu erteilen. Sag endlich, was du machen willst.“

„Du hältst dich wohl für besonders schlau“, sagte sie. „Hör auf, herumzureden, und komm zur Sache. Ich bin nicht dafür da, dir Nachhilfe zu erteilen. Sag endlich, was du machen willst.“

„Wir könnten spazierengehen.“

„Ich habe keine Ahnung, was du für einer bist, aber langsam beginnst du mich zu langweilen“, sagte sie. „Willst du mich verarschen? Ich soll herauskommen und mitten in der Nacht mit dir spazierengehen. Bist du blöd, oder was?“

„Wir könnten …“

„Ich werde dir sagen, was wir könnten! Weißt du überhaupt, worum es hier geht? Wir könnten genau das machen, wofür du hier heraufgekommen bist, und wenn du spazierengehen willst, musst du dir eine andere suchen!“

Mein nächstes „Wir könnten …“ unterbrach sie damit, dass sie sagte, wenn ich mit meinen Perversionen nicht aufhörte, rufe sie die Polizei, um mir gleich darauf die Tür vor der Nase zuzuschlagen und den Vorhang vor ihr Fenster zu ziehen. Ich blieb stehen und schaute zu dem Poller hinunter, auf dem ich den ganzen Abend gesessen war, und als hätte es das gebraucht, wurde mir bewusst, was für eine Figur ich all die Stunden für sie abgegeben haben musste. Es konnten keine zwei Minuten vergangen sein, seit ich die Treppe zu ihr hinaufgestiegen war, und doch schien ein Riss in der Welt zu sein, als ich sie jetzt wieder hinunterstieg und in dem Moment der Lichtschein, der trotz des Vorhangs aus ihrem Fenster gefallen war, erlosch und ich so auf das plötzlich schwarze Pflaster trat, als wäre es nicht mehr fest und ich könnte in ihm versinken.

Ich ließ mich treiben, und es wurde längst hell, als ich ein Café betrat, das gerade aufmachte, mich an die Theke setzte und über kurz mit dem Kellner ins Gespräch kam, und so begann die Woche mit meinem ersten Mann. Es war noch nicht zehn, als er mir ein Bier hinstellte, und natürlich blieb es nicht bei dem einen, er wechselte immer ein paar Worte mit mir, wenn er nichts zu tun hatte, und zapfte mir ein neues, und nach seinem Dienstschluss um zwei zogen wir durch die Lokale, und ich vermochte kaum mehr die Augen offen zu halten, als wir bei Einbruch der Dunkelheit in seinem mit Büchern vollgestellten Mansardenzimmer landeten. Er war Student, aber als ich dann auf seinem einzigen Stuhl saß und er mir auf dem Boden sitzend seine Gedichte vorlas, wusste ich augenblicklich, dass es das war, was ihn umtrieb. Zwischendurch schaute er manchmal hoch, und ich versuchte seinen Blick aufzufangen, hatte aber nicht den Eindruck, dass er mich sah. Danach saß er verlegen da, und als ich nichts sagte, drehte er sein Gesicht weg und fragte, ob ich es mir auch mit einem Mann vorstellen könne, und ich fragte zurück, was er mit „es“ meine, und er sagte: „Liebe“, er sagte: „Na ja“, er sagte: „Ich will es nicht Sex nennen“, und weil ich mochte, wie er mich ansah, und von ihm so angesehen werden wollte, wie ich das Mädchen in seinem Schaufenster angesehen hatte, sagte ich, was ich gar nicht zu sagen vorgehabt hatte, ich sagte die Wahrheit, ich sagte, ich müsste es erst versuchen, ich wisse es nicht, und er zog meinen Kopf auf das Kissen und küsste mich.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus Norbert Gstreins kommendem Roman Vier Tage, drei Nächte, der am 22. August bei Hanser erscheint.

© 2022 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

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Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt erschienen die Romane Als ich jung war (Hanser, 2019) und Der zweite Jakob (Hanser, 2021).

Norbert Gstrein: Vier Tage, Drei Nächte
Roman. Hanser, München 2022.
352 Seiten, € 26 (D) / € 26,80 (A).
Erscheinungstermin: 22.08.2022