Gedichte

Von Michael Stavaric. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XLII

Online seit: 3. Dezember 2021
Michael Stavaric © Yves Noir
Michael Stavaric. Foto: Yves Noir

1.

Wir haben eine Jukebox zum Strand getragen und Muschelgeld eingeworfen, Pfahlmuscheln schienen dafür am Wenigsten geeignet. Die Gischt ließ schon bald

alle Anzeigen verschwimmen, während wir herumliefen, um möglichst runde Muscheln aufzuheben, Flachschnecken, wie du sie riefst. Aus der Ferne sahst du

wie eine der Möwen aus, die im Rhythmus der Brandung auf das Meer zu und von ihm weg lief. Wir summten Lieder, die wir eigentlich der Jukebox hätten entlocken

wollen. Wir nahmen an, dass bei Ebbe ganz automatisch etwas Flaute herrscht in den Kassen des Ozeans. Das Leuchtfeuer der nahen Landzunge beschwor ein

hypnotisches Schauspiel. Alle Insekten der Gegend waren Party. Du stolpertest über ein altes Schrapnellgeschoss, das wie ein Einsiedlerkrebs aus

seinem Bau lugte. Später lasen wir, dass solche Artilleriegranaten mit Metallkugeln gefüllt wären. Für die Jukebox wäre das unerheblich, doch hätten

wir den Flipperautomaten füttern können. Die leeren, nach den Kugelwolken einschlagenden Schrapnellhülsen werden auch Hohlbläser genannt,

es blieb unser Satz des Monats Mai. Wir fanden schließlich eine alte Münze voller Seepocken, sie passte gerade so durch den Schlitz. Die Luft wimmelte nur vor

Anzüglichkeiten.

2.

Dein Atem roch nach Tequila und einer anderen Sache, bei der ich mir freilich nicht sicher war. Zeitgenössische Kunst schien mir noch die passendste

Zuschreibung darzustellen. Den Alkohol hattest du mit Zimt garniert, mit einem Biss in ein Orangenstück besiegelt. Beschwipst hast du herumposaunt, ich sei

eine Ameise, die gleich über den Mund einer Göttin krabbelt. Aus dem Wasserhahn im Zimmer nebenan strömte der Ozean. Ich dürfe niemals vergessen,

ihn ordentlich zuzudrehen, sonst wäre es mit dem geregelten Leben in dieser Stadt schlagartig vorbei. Einmal nur hättest du es verabsäumt, wärst in der

Badewanne eingepennt. Bis dich die ersten Wellen aufschreckten. Seltsam anmutende Fische schwammen zwischen deinen Beinen, kleine Flundern und

noch kleinere Zackenbarsche. Ein Krakenarm schoss plötzlich aus dem Abfluss hervor und saugte sich an einem der Unterschenkel fest. Du hättest aufgelacht,

weil es kitzelte. Du hörtest Geräusche in den Wänden, als würden sich Riffhaie durch die alten Rohre zwängen, im Haus wurden unverzüglich Rufe nach

Installateuren laut.

3.

Ich fuhr mehrmals im Monat an die Küste, um nach einer Wohnung mit Meerblick Ausschau zu halten. Die Straßenschilder waren unlesbar, löchrig, sie verdeckten

nicht den kleinsten Teil des Himmels. Man konnte den Flugrost förmlich schmecken, das Salz macht keine Gefangenen. Kam etwas in Frage, band ich eine

Nylonschnur an die erstbeste Klinke, Fischerknoten, von Nylonschnüren hatte ich reichlich. 0,50 Millimeter geflochtenen Nylons für die richtig großen Fische,

Häuser zählen dazu. Ich lief mit einer dicken Spule los, die Schnur zog ab, als hätte ich einen Marlin gehakt. Ich musste an Hemingway denken, der alte Mann sei jetzt

endgültig und eindeutig salao, was die schlimmste Form von Glücklosigkeit
darstelle. Es blieb unser Satz des Monats Juni. Natürlich konnte ich

mir kein solches Haus leisten, es würde schon bald wieder mit dem Strand aus meinem Leben verschwinden. Ich beeilte mich, als hätte ich nicht bloß eine Tür

(die an einem Haus festhing) an der Leine, vielmehr und eigentlich den Ozean. Ich band die Schnur schließlich um einen der Eckpfeiler deiner Veranda, malte mir

aus, dass fortan keiner von uns, selbst in den stärksten Stürmen, vom Weg abkäme. Alle hundert Meter würde ich ein Glöckchen anleinen, damit du mich

auch in finsterster Nacht an meiner neuen Adresse aufsuchen könntest. In den Gedanken schepperte es melodisch, wenn auflandiger Wind durch die Straßen

tollte, Kurgästen wurde dieser sogar zur Heilung empfohlen.

5.

Mit dem Tod ließ das Gedächtnis nach, wir unterhielten uns nur noch über die naheliegendsten Dinge. Die Abwasch. Den Einkauf. Das Gefüge (was alles sein

konnte). Wir zweigten Wasser im Bach hinter deinem Haus ab, und ließen die darin enthaltene Strömung unsere Teller spülen. Das schlaff gewordene Wasser

entsorgten wir durch die Toilette. Wir verließen uns auf Ameisenkolonnen, um unsere Nahrung herbeizuschaffen, zum Glück hielten sie uns beide für ihre

Mütter. Ich habe keine Bücher mehr gelesen, du hast keinen Wein mehr getrunken, wir haben einander nicht mehr in die Augen gesehen. Staubmilben

bewegten sich mit größter Selbstverständlichkeit durch die Flure. Ich wollte Unkraut jäten, hatte aber den Unterschied vergessen, wie man dieses von Blumen

unterschied. Der Bach mündete gleich hinter der nächsten Anhöhe in einen Fluss, der sich nordwärts ins Landesinnere aufmachte. Absurd. Der Ozean lag in

südlicher Richtung, man hätte ihn auch für eine Autobahn halten können.

(das vollständige Projekt wird 2023 im Limbus-Verlag erscheinen)

 

Michael Stavaric wurde 1972 in Brno (CSSR) geboren, er lebt heute als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studium der Bohemistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminare an den Universitäten Bamberg, Wien, München, Prag, Ollmütz, Ostrau, Brünn, Braunschweig, Würzburg, New York u.a. Preise: Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, Hohenemser Literaturpreis, Literaturpreis Wartholz, Adelbert-von-Chamisso-Preis u.a. Publikationen, zuletzt: Fremdes Licht. Luchterhand, München 2020, Balthasar Blutberg. Luftschacht, Wien 2020, zu brechen bleibt die See. Czernin Verlag, Wien 2021, Faszination Krake. Leykam-Verlag, Wien 2021.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.