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Es herrscht derzeit eine Hysterie des Neuen vor, die Literatur soll am besten ab sofort so beschaffen sein wie das Internet, sie soll das Welt-Alles und das Welt-Jetzt total und hypertextuell abbilden. Das Feuilleton, das unter dem beschleunigten Wandel zusammenbricht, überträgt also sein eigenes Gehetztsein auf die Schriftsteller und klagt an: Ihr schreibt zu wenig über den Kapitalismus, ihr schreibt zu wenig über den Nahostkonflikt, ihr schreibt zu wenig über die IS-Milizen. Seid endlich global und hypertextuell und zeitgemäß und schnell, seid endlich das Internet!
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Dabei muss in Wahrheit Ruhe einkehren. Denn die fordernde Haltung des Feuilletons kommt ja aus der Überforderung: Im sekündlich auf SPON live getickerten Weltgeschehen verlieren die Literaturkritiker ihre Liebe zur Literatur, wie das eben üblich ist im Krieg, da die Barbarei zum Normalzustand wird. Die Schriftsteller werden diese Liebe nicht verlieren, sie werden auch nicht ihren Glauben an die Sprache verlieren. Sie werden sich weiterhin Zeit lassen und nach Worten suchen. Sie werden sich erlauben, Jahre, Jahrzehnte abzuwarten, bis überhaupt ein Ort erreicht ist, von dem aus sie überschauen und verstehen, von dem aus sie eine Erzählung vom Menschsein organisieren können. Was kümmert es den Vogel, was der Ornithologe sich von ihm wünscht.
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Der Mensch und sein Menschsein ist das Thema der Literatur, das wird sich nicht ändern. Der Mensch in seiner Geschichtlichkeit (und in seiner Revolte) – etwas, das mit dem Ende des Kalten Krieges vergessen wurde, weil ein windgeschütztes Plateau für das Ende der Geschichte gehalten worden ist – wird wieder in den Fokus rücken. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass Europa sich verändert, dass sich die globalen Herrschaftsgefälle verschieben etc., sondern darum, dass der Einzelne in seiner fundamentalen Kostbarkeit je in der Geschichte steht, und wahrlich: sogar zur Disposition steht. Die Literatur muss die Sprache enthüllen, in der sich dieser Umstand verschleiert durch natürliche Abnutzung der Worte und durch ihr inneres Sterben, im Kapitalismus und der Demokratie genauso wie in anderen totalitären Systemen. Es ist das Wesen der Sprache, schnell ihre Mitteilbarkeit zu verlieren, zu sedimentieren.
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Der Mensch begegnet sich selbst allererst in der Sprache, denn diese ist das Medium allen Menschseins – kein Menschsein gibt es außerhalb einer Erzählung vom Menschsein. Die Sprache wälzt sich durch die Zeit, sie IST in gewisser Weise die Zeit. Die Erinnerungsschweife der Worte müssen den Schriftsteller staunen machen und ihn erschrecken, sonst ist er nur Mitarbeiter an der Verhärtung des Denkens und damit der Zustände. Staunen muss er aber auch über das, was sich in die Worte neu eindrückt, mit jeder Sekunde, mit jedem neuen Weltjetzt. Nur so kann der Schriftsteller Bedeutung und die diese Bedeutung tragenden Narrative täglich retten vor der Sedimentation. Dieses Staunen und dieser Schrecken müssen immer wieder an die Leser weitergegeben werden, der Menschheit zuliebe.
Was kümmert es den Vogel, was der Ornithologe sich von ihm wünscht.
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Das Internet beschleunigt trotz steigender Verfügbarkeit von Information die Massenverdummung, es fördert den Konformismus im Denken (siehe: Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, haben auch… etc.). Was bisher an Reichweite für die Profiteuere der Verdummung möglich war (spezielle Orte der Verdummung: Kino, Wohnzimmer mit Fernseher etc.), wird potenziert durch das Internet und noch mehr durch dessen mobile Variante – wird durch letzteres sogar entortet. So dringt der Konformismus in alle Bereiche des Alltags (es ist ja an allen Orten gleichzeitig und schon immer da) und damit auch in jeden hinterletzten Winkel der Persönlichkeit (wir existieren im Internet, wir beziehen „Wissen“ und unsere Lebensnarrative von dort, wir erfinden uns dort.) Die Aufgabe der Literatur, wenn auch von einem verlorenen Posten aus, muss in Zukunft noch verzweifelter sein, Nuancen der Wahrnehmung zu ermöglichen, Achtsamkeit für Zwischenbereiche des Denkens zu erzwingen, die Sedimente der Alltagssprache täglich wieder aufzubrechen, hinter die Wörter zu blicken, auch zu fragen, welche moralischen Werte eigentlich die Alltagssprache zementiert. (Arbeit an den Worten und ihren luziden Beziehungen zueinander etc.)
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Die Literatur, die ich hier als tägliche Arbeit an der Mitteilbarkeit der Sprache gegen ihre Sedimentation beschreibe, wird es immer geben. Egal ob als E-Book oder als gedrucktes Buch oder als Tweet oder als Blog – die neuen Formen bringen nichts substanziell Neues. Um das zu verstehen, muss man sich eine einfache Frage wie diese hier stellen: Warum berührt mich der eine Blog aus Aleppo, der andere aber nicht? Nicht jeder, der etwas sagt (und im Internet sagen viele etwas, wenn nicht sogar alle alles), sagt es so, dass etwas Lebendiges gesagt ist.
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Zur medialen Repräsentanz des Schriftstellers: Der Zwang zur Selbstauskunft, und dass diese dann im Netz bleibt, für immer. Was ich vor zwei Jahren gesagt habe über mich, stimmt nicht mehr und berührt mich peinlich, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Aber es steht noch aufrecht, und ich kann nur Neues addieren. Es gibt keine Zeitlichkeit im Netz, es steht alles gleichzeitig und gleichwertig da. Muss man sich also schon im Vorfeld hüten und seine Präsenz planen? Oder muss man sich von vornherein verweigern? Aber in schwachen Momenten siegt die Hoffnung in mir jedes Mal von Neuem, dass es meinem Ruhm (und in meinen schwachen Momenten will ich Ruhm!) hilft, auf diesem oder jenem Blog mich zu meinem neuen Buch zu äußern, oder zu irgendeinem Thema. Nur, um präsent zu sein. So stelle ich mir die christliche Hölle vor: Alles und alle aller Zeiten gleichzeitig an ein und demselben Ort, bis in alle Ewigkeit.
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