Riesenkrokodile

Von Margit Schreiner. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXVI

Online seit: 22. Oktober 2021
Margit Schreiner © Patricia Marchart
Margit Schreiner. Foto: Patricia Marchart

Die Wahrheit des Autobiographischen liegt im radikal subjektiven Blick. Ich habe immer schon zur Übertreibung geneigt. Als Kind waren alle Häuser, Wiesen, Berge, Strände und Bäume größer als sie es heute sind.

Am größten war das Krokodil in Meyers Lexikon meines Vaters aus dem Jahr 1929. Das schlammfarbene Tier schnellte aus einem sumpfigen Tümpel, ragte mit weit geöffnetem Maul fast senkrecht aus dem Wasser, um ein am Ufer spielendes Kind zu schnappen. Unter dem Foto stand, dass Krokodile ihre Beute unter Wasser zerren und sie ertränken, bevor sie die Beute in mundgerechte Portionen reißen und verschlucken. Das Kind war ich. Monster lauerten überall.

Später hat mir mein Schwager, der in Südafrika geboren und in Indien aufgewachsen ist, erzählt, dass seine erste Verlobte im Indischen Ozean neben ihm schwimmend von einem Riesenkrokodil gefressen worden ist. (Oder war es ein weißer Hai?) Die Geschichte kostete mich weitere schlaflose Nächte.

Viel später war ich lange Zeit in meinem Freundeskreis berüchtigt für meine Geschichte über Sieben-Meter-Krokodile, die sowohl im Süßwasser als auch ins Meer schwimmen und auf einer kleinen Insel im südchinesischen Meer, auf der sich zwanzig japanische Soldaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges infolge eines durch Kriegshandlungen gesunkenen Schiffes verschanzt hatten, diese Soldaten allesamt aufgefressen hatten. „Die Schreiner und ihre Sieben-Meter-Krokodile“ hieß es, „die zu einer Insel mitten im Meer schwimmen und dort zwanzig Japaner verputzen“. Wie kam ich zu der Geschichte und warum glaubte mir niemand?

Möglicherweise lag es an der falschen Verteilung von Über- und Untertreibung in meiner Geschichte. Die Übertreibung betraf die Sieben-Meter-Krokodile. Die größten Krokodile weltweit sind derzeit die Leistenkrokodile, die höchstens sechs-Meter–und-ein-bisschen groß werden. Ein Leistenkrokodil, das übrigens sowohl in Süß- als auch in Salzwasser schwimmt und das am weitesten verbreitete Krokodil ist, das auch schon öfter tausend Seemeilen vom Land entfernt gesichtet wurde, ist sehr groß. Fürchterlich groß in meiner Vorstellung. Nehme ich jetzt die durchschnittliche Größe eines Leistenkrokodils – die Weibchen sind wesentlich kleiner, etwa 3 bis 3,5 Meter, die Männchen durchschnittlich etwa 4,5 Meter, dann stellt sich der Zuhörer meiner Geschichte ein Krokodil von etwa, sagen wir, vier Meter Länge vor. Lächerlich kleine, vier Meter große Krokodile decken sich aber nicht mit meiner Vorstellung von riesigen Krokodilen. Um den Zuhörer an meine Vorstellung von unbeschreiblich großen Krokodilen heranzuführen, gebe ich eine Länge von sieben Metern an, die er ohnehin, wie meine Erfahrung mit der Geschichte gezeigt hat („Die Schreiner und ihre Sieben-Meter-Krokodile“), nicht glaubt, sondern von der er im vornherein etwa zwei Meter abzieht, woraufhin er auf ein Leistenkrokodil von fünf Meter Länge kommt, was, wenn ich mein Arbeitszimmer von fünf Meter Länge zum Vergleich hernehme, meiner Vorstellung von dem ungeheuer großen Krokodil aus Meyers Lexikon sehr nahe kommt. Und damit dem Schrecken, den dieses Monster mir damals einflößte.

Die Untertreibung lag bei den zwanzig japanischen Soldaten auf einer kleinen Insel, die von Krokodilen gefressen wurden. Ich hatte gelesen, dass 1945 tausend japanische Soldaten im Rahmen des Pazifikkrieges auf der Insel Ramree vor der Südküste Burmas (heute Myanmars) einen Kapitulationsvorschlag der englisch-indischen Kampfgruppen, die die Insel besetzten, abgelehnt hatten und nachts aus der feindlichen Umzingelung ausgebrochen und quer durch Mangrovensümpfe zum offenen Meer hin geflohen sind. Leistenkrokodile, die in den Sümpfen stark verbreitet waren, haben alle japanischen Soldaten bis auf zwanzig aufgefressen. Was mich nicht weiter wunderte, weil Krokodile bis zu einem Jahr ohne Nahrung auskommen. Wenn sie nun in ansonsten nahrungsarmen Mangrovensümpfen plötzlich tausend Soldaten serviert bekommen, werden sie, dachte ich, ordentlich zuschlagen. Manche sagen, dass es sich um einen modernen Mythos handelt. Aber Mythos hin oder her, kein Mensch hätte mir die Geschichte von den neunhundertachtzig von Krokodilen gefressenen japanischen Soldaten geglaubt, nachdem man mir ja nicht einmal sieben Meter große Krokodile glaubte. Also reduzierte ich instinktiv die tausend Soldaten auf die zwanzig, die damals – angeblich – überlebt hatten, und ließ aus Rache, dass ich aus Gründen der Glaubhaftigkeit hatte untertreiben müssen, die zwanzig Überlebenden in meiner Erzählung auch noch auffressen.

Die Geschichte von den sieben Meter großen Krokodilen und den zwanzig von ebendiesen gefressenen japanischen Soldaten vertiefte sich noch durch Umstände in meinem Leben.

Ich habe drei Jahre in Japan gelebt. In der englischsprachigen Ausgabe der japanischen Zeitung Asahi Shimbun las ich von dem letzten japanischen Soldaten, der 1974 nach Japan zurückgekommen ist. Er hatte sich 1945 geweigert, die Kapitulation Japans im Pazifikkrieg anzuerkennen, und im philippinischen Dschungel fast dreißig Jahre lang einen privaten Guerillakrieg geführt. Erst nachdem man seinen ehemaligen Vorgesetzten im hohen Alter von sechsundachtzig Jahren ausfindig machen und, bekleidet mit der ehemaligen Uniform, vor Ort schaffen konnte, wo er persönlich den Befehl zur Kapitulation aussprach, gab der Mann auf. Jemand, der fast dreißig Jahre lang im Urwald undercover lebt, hätte genauso gut auf einer kleinen Insel vor Myanmar landen und dort von sieben Meter großen Krokodilen gefressen werden können.

Das größte Krokodil auf der Crocodile farm in Thailand war 6,13 Meter. Alle anderen Krokodile waren wesentlich kleiner. Die meisten der dort gezüchteten Tiere waren zwischen zehn Zentimeter und drei Meter groß und harrten reglos in der Hitze ihrer Verarbeitung zu Krokodilledertaschen entgegen, die in der Verkaufshalle der Farm angeboten wurden. 6,13 Meter Länge ist der Beweis, dass auch sieben Meter Länge möglich wären.

In der Asahi Shimbun las ich auch, dass es im südchinesischen Meer vor riesigen Krokodilen nur so wimmelte. (Oder waren es Haie?)

Während einer stürmischen Schiffsüberfahrt auf den Philippinen von Manila nach Zamboanga, als ich im südchinesischen Meer auf einem verrosteten Transportschiff in einen Sturm geriet und in der einzigen Kabine des Schiffes aus dem Bett und in der Kabine hin- und hergeschleudert wurde, sind mir die zwanzig schiffbrüchigen Soldaten, die auf eine Insel flüchteten und dort von Krokodilen gefressen werden, plötzlich ganz deutlich vor Augen gestanden. Meine Angst während der Überfahrt hat sie mir eingestanzt. Bis heute. Die sieben Meter großen Krokodile und die zwanzig von ihnen gefressenen japanischen Soldaten gehören zu meiner ganz persönlichen Erinnerung.

Ich kann heute, als sehr Erwachsene mit siebenundsechzig Jahren die Geschichte von den Sieben–Meter–Krokodilen und den zwanzig schiffbrüchigen Soldaten, die auf einer kleinen Insel ratzekahl von diesen aufgefressen wurden, nicht mehr so erzählen, wie sie in meiner Erinnerung für immer als wahr gespeichert ist. Aber ich kann, wie ich gerade versucht habe zu zeigen, erzählen, wie es zu dieser Erinnerung kam. Das ist für mich das Wunder der autobiographischen Literatur, die den Blick des Kindes, den unschuldigen Blick, mit dem des a priori schuldigen Erwachsenen verbindet. Die Wahrheit des Autobiographischen liegt im radikal subjektiven Blick.

Jetzt, nachdem ich die Geschichte der japanischen Soldaten, die von sieben Meter großen Krokodilen gefressen wurden, erzählt habe und auch, wie sie entstanden ist und wie sie sich verändert hat, ist sie nicht einmal mehr symbolisch wahr. Es ist die Geschichte einer notorischen Lügnerin, eines alt gewordenen Kindes, dem niemand zuhört, wenn es nicht übertreibt. Das ist wahr.

* * *

Margit Schreiner, geboren in Linz, Studium in Salzburg, einige Jahre in Tokio, Paris, Berlin und bei Rom, lebt heute im Waldviertel. Letzte Veröffentlichungen im Schöffling Verlag: Sind Sie eigentlich fit genug? Essays (2019) und Vater, Mutter, Kind. Kriegserklärungen. Über das Private 1.Band, Roman 2021. Im Frühjahr 2022 erscheint Mütter, Väter, Männer. Klassenkämpfe. Über das Private 2. Band. Zahlreiche Preise, darunter Österreichischer Würdigungspreis (2009) und Anton-Wildgans–Preis (2016).

* * *

„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.