Das Eichhörnchen hat ein Problem

Über die Anfänge und Enden der Netzliteratur, kollektives Schreiben und die Schwierigkeiten, das Neue zu erkennen, während es geschieht. Von Kathrin Passig

Online seit: 8. April 2019

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Zehn Zitate aus dem Beitrag:

1) Ich vermute weiterhin, dass man die eigentlich interessanten Veränderungen nicht in Literaturhäusern oder in „Vorlesungen zur Kunst des Schreibens“ ausfindig machen wird – auch nicht, wenn man ich ist.

2) Autoren sind nicht unempfänglich für Veränderungen ihrer wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie wenden sich einer Textgattung oder einem Format zu, wenn dort Geld oder Anerkennung zu holen ist.

3) Das fünfte Ende der Netzliteratur wird um 2012 herum ausgerufen, als Facebook und Twitter auch in Deutschland Fuß gefasst haben und das Bloggen zumindest in seinen bis dahin etablierten Formen zurückgeht.

4) Warum sollte es beim Herstellen eines Romans nicht möglich sein, dass es viele Schreibende gibt und eine Person, die lediglich die Fäden in der Hand hält?

5) Ungeklärt bleibt die Frage, warum Franzen nicht einfach sagt: „Ich leide unter Arbeitsstörungen wie viele Autoren und muss mich deshalb vorsichtig von Twitter, Facebook und dergleichen fernhalten.“ Es gibt Interviews mit ihm, in denen er erklärt, dass er den Computer, an dem er schreibt, komplett vom Netz getrennt habe, alle mit dem Betriebssystem mitgelieferten Spiele gelöscht, in die Buchse für das Ethernetkabel einen Stecker geklebt und das Kabel abgeschnitten habe. WLAN gibt es gar nicht erst. Manchmal schreibe er blind mit einer Schlafmaske und Kopfhörern, aus denen Rauschen kommt.

6) Ich treffe bis heute bei fast allem, woran ich arbeite, eine Entscheidung zwischen „möglicherweise innovativ, aber unbezahlt“ und „bezahlt, aber in einem ganz traditionellen Format, und im Netz nur in Ausnahmefällen verfügbar“.

7) Veranstalter, Förderinstitutionen, Jurys haben das Problem, dass das von ihnen Geförderte halbwegs respektabel aussehen muss. Das tut das Neue selten.

8) Wenn die vorhandenen Fachleute Respekt vor dem Neuen haben, ist das ein Zeichen dafür, dass es sich wahrscheinlich nur um das Altbekannte handelt.

9) Nachdem das Ende der textförmigen Pornografie bei jedem Auftauchen eines neuen Bildmediums aufs Neue verkündet wurde, floriert sie in den letzten Jahren wieder im E-Book.

10) Dabei sind Bestseller wie die Fifty Shades-Serie, unerwartete neue Nischen wie Yeti-Pornografie, lesbischer Dinosaurier-Porno und Phänomene wie der Erfolg von Chuck Tingle (Space Raptor Butt Invasion, Billionaire Elons Mugg Takes the Handsome Planet Mars in his Butt) entstanden.

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Quelle: VOLLTEXT 1/2019 – 25. März 2019

Aus: Kathrin Passig: Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kritik.
Droschl, Graz 2019. 120 Seiten, € 15.