Denn Sie müssen wissen, sagte sie, es gab einmal eine junge Frau, nennen wir sie Hanna, die Schauspielerin werden wollte und ihre Mutter dazu überredete, ihr eine Schauspielausbildung zu bezahlen. Was nicht leicht war. Ihre Mutter war Gemeindebedienstete in einer Kleinstadt in Oberösterreich, nach ihrer Scheidung alleinstehend und strikt dagegen, dass Hanna, ihr einziges Kind, Schauspielerin werden wollte. Schauspielerinnen gäbe es wie Sand am Meer, sagte sie, die wenigsten landeten oben, die meisten im Abgrund. Und es gäbe nur diese eine Alternative: entweder oben oder Abgrund. Sie solle lieber ein Technikstudium an einer Fachhochschule absolvieren, das einzige Studium mit Aussicht auf einen guten Arbeitsplatz, wie sie aus der Zeitung wüsste, vor allem für Frauen.
Aber Hanna blieb stur. Sie bekam die Ausbildung, spielte eine erste Rolle und wurde als begabt eingestuft. Sie wollte, als das Geld der Mutter ausblieb, die es sich nicht mehr leisten konnte und auch kein Interesse mehr hatte, Hannas Ausbildung zu finanzieren, selbst Geld verdienen, um die Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können und um sich Geld zur Seite zu legen für die Zeit danach, in der sie sicher nicht gleich große Engagements bekommen würde. Sie arbeitete bei einer Musikgruppe und erwies sich sehr schnell als effektive Produktionsassistentin, auf die immer Verlass war, die alles, was für eine Tournee und bei einer Tournee nötig war, zeitgerecht und zufriedenstellend checkte. Sie wollte schauspielen und absolvierte laufend Castings. Aber in der wenigen Zeit, die sie dafür zur Verfügung hatte, konnte sie nicht alle Casting-Termine wahrnehmen und sich nicht immer ausreichend vorbereiten.
Die Realisierung eines Films, bei dem sie die Hauptrolle übernehmen sollte, da sie der Regisseur, einer ihrer Lehrer an der Schauspielschule, für diese Rolle am besten geeignet fand, wurde wegen Finanzierungsschwierigkeiten immer wieder verschoben. Er drehte andere Filme, und Hanna wartete. Sie nahm keine weiteren Angebote an, aus Angst, sie würde genau in dem Moment, in dem die Finanzierung stünde, bei einem anderen Projekt und bei einem anderen Regisseur verpflichtet sein und so diesen einen Regisseur, den sie als ihren Regisseur betrachtete, und diese eine Rolle, die sie als ihre Rolle bezeichnete, verpassen, eine Rolle, die sie unbedingt spielen wollte und die sie als große Chance sah, als Schauspielerin groß herauszukommen.
Als nach etlichen Jahren der Film tatsächlich hätte realisiert werden können, war der Regisseur nicht mehr so überzeugt davon, dass Hanna die beste Besetzung wäre. Er wusste nicht, wie er ihr seine Zweifel, ohne sie zu verletzen, ohne bei ihr eine Depression auszulösen, zu der sie in letzter Zeit verstärkt neigte, erklären sollte. Er befürchtete nämlich, dass sie nicht mehr fähig sei, die Rolle adäquat zu spielen. Die anfangs von ihm beobachtete Mobilität ihres Spiels, die Frische und der Einfallsreichtum, die er bewundert hatte, wären durch ihre stressige Tätigkeit bei der Musikgruppe und aufgrund der Tatsache, dass sie nur selten und nur kleine Rollen gespielt hätte, also ihre schauspielerischen Fähigkeiten kaum hätte trainieren, ausprobieren und entwickeln können, sicherlich weitgehend verloren gegangen. Dazu käme bei ihr, so seine Angst, der Zwang, jetzt, wo es endlich losginge, besonders gut sein zu wollen. Was für gewöhnlich zu nichts anderem führe als zu Verkrampfungen, zu einem Mangel an Übersicht über schauspielerische Möglichkeiten, an Souveränität und Lockerheit, die unbedingt nötig wären, um Möglichkeiten auszuwählen, neue zu erfinden und gezielt einzusetzen. Ihrem Spiel würde man die letztlich erfolglosen Anstrengungen ansehen, über die wenigen Fähigkeiten, die ihr zur Verfügung stünden, hinaus Neues und Entsprechendes zu finden und vorzuführen. Und sie würde jede Anweisung und jede Kritik abblocken, da sie kein Repertoire hätte, um Alternatives anzubieten, und keine Übung darin, mit Anweisungen und Forderungen des Regisseurs umzugehen. Mit der fehlenden Übung und den fehlenden Einfällen wüchse nur ihre Unsicherheit und ihre Angst, nicht zu bestehen und die einzige Chance, die sich nun nach langem böte, nicht nützen zu können, zu versagen und damit für immer verloren zu sein.
Dazu kam der plötzliche Wegfall des Halts, den ihr die Tätigkeit in der Musikgruppe über Jahre hinweg verschafft und an den sie sich gewöhnt hatte: der bestimmte Tagesablauf, das regelmäßige Geld, die Effizienz ihrer Arbeit, die Sicherheit, darin perfekt zu sein und dafür geschätzt zu werden, das spezielle Freizeitleben und vor allem die fehlende Notwenigkeit, schöpferisch mit ihren Fähigkeiten umzugehen und neue Fähigkeiten zu entwickeln, da sie ja alles Nötige hatte und alles konnte. Außerdem war die Arbeitsroutine in der Musikgruppe eine vollkommen andere als die einer Schauspielerin. Etwas ganz anderes hatte Hanna damals, beim Einstieg in die Gruppe, von sich gefordert, um das Managen der Gruppe zu erlernen, was sie jetzt auch beherrschte und ihr Leben geworden war, als das, was sie jetzt als Schauspielerin von sich fordern, erlernen und beherrschen müsste, um es genauso erfolgreich einsetzen zu können, wie es ihr beim Managen einer Musikgruppe seit Jahren gelang. Als Schauspielerin würde sie ein anderes Leben, andere Maßstäbe, andere Gewohnheiten, andere Bezüge zu sich selber entwickeln müssen.
Aber wer schafft das von einem Tag auf den anderen?, sagte sie. Eine Künstlerin kann nur als lebenslange Künstlerin eine Künstlerin sein, finden Sie nicht?
* * *