Homeschooling

Von Gabriele Kögl.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XIX

Online seit: 25. Juni 2020
Gabriele Kögl © Feuersänger / Picus
Gabriele Kögl. Foto: Feuersänger / Picus

Ein Minus auf die Revision. Gleich auf die erste. Sie hatten zwei Tage geübt. Die Mutter war zuversichtlich gewesen. Nun holte sie sich einen blutigen Kopf, einen Herzinfarkt, einen Magendurchbruch. Sie lag am Boden, obwohl sie auf einem Sessel saß.
Sie musste in die Sprechstunde. Vielleicht konnte sie dort noch etwas retten. Und er saß ihr gegenüber, nett und fett, freundlich und überlegen. Sie lächelte ergeben, versteckte den Hass hinter der grinsenden Maske. Er diktierte Schweigen, stundenlanges Schweigen. Er schlug das Heft auf, blätterte, stundenlang, auch wenn es auf der Uhr nur Minuten waren. Der hallende Gang war ihr Besprechungszimmer. Ein hoher Raum. Der Gerichtssaal für gepeinigte Eltern, sie mussten öffentlich auf dem Gang für alle sichtbar und hörbar ihren Urteilsspruch erleben. „Eine schwache Schülerin.“ Er sprach in Zeitlupe, er nickte in Zeitlupe, die dichten Haare fielen ihm wie eine Kapuze in die Stirn.
„Eine sehr schwache Schülerin“, blubberte es aus seinem Fischmaul. Sie lächelte. Eisig, und mit an den Zähnen festgefrorenen Lippen, ihre Finger waren seiner Gurgel ganz nah. Sie musste ihre Handflächen unter das Gesäß schieben, sonst hätte sie zugedrückt. Aber drückte man einem Fisch die Gurgel zu? Erschlug man ihn nicht eher mit einem Fischbeil? Kalte Augen, nach unten gestülpter Mund. Am ehesten ein fetter Karpfen, dachte sie. Ein fetter Karpfen, der alle fraß, die nicht schnell genug waren. Frieda war nicht schnell genug, nicht gewandt genug, nicht extrovertiert genug. Er redete von einer neuerlichen Misserfolgserwartung im Zweitsprachenerwerb, wenn sich nicht schnell etwas ändere. Für ihn zählte es nicht, was sie sonst noch konnte. Er nahm Friedas soziale Kompetenz nicht wahr, wenn sie sich für die Freundin einsetzte, weil sie von den Buben gehänselt wurde. Es zählte auch nicht das Einfühlungsvermögen Friedas, wenn sie in der Mittagspause auf ein Mädchen aufmerksam wurde. Es ernährte sich ausschließlich von Süßigkeiten, weil es nicht genügend Geld für ein warmes Mittagessen von zu Hause bekam. Es zählte nur die korrekte „Ing-Form“ in Englisch, deren richtige Anwendung die Mutter selber nie kapiert hatte, es zählte die Verwendung des Wortes „got“ bei Kopfschmerzen, die man plötzlich hat, genauso wie beim Zuwachs der Münzsammlung, aber keinesfalls für die Tante, die in Amerika lebt. Weiß der Himmel wieso, sie wusste es nicht, ihre Freunde und Bekannten wussten es nicht und im Grammatikbuch ihrer Tochter konnte sie auch keine Regel dafür finden.
Frieda spürte die Enttäuschung der Mutter schon am Telefon. „Bist du mir böse“, fragte sie kleinlaut. Nein, böse war ihr die Mutter nicht. Frieda konnte nichts dafür, dass sie nicht besser war, sie konnte nichts dafür, dass sie ihrer Mutter keine schulischen Ehren einbrachte, sie konnte nichts dafür, dass die Lehrer von der klugen Tochter nicht auf die kluge Mutter schließen konnten. Sie war ihr nicht böse, sie war nur wieder einmal schrecklich enttäuscht.

Dabei war ihr die Spezies der Gymnasiallehrer nicht mehr aufgefallen. Nach Absolvierung ihrer eigenen Schulzeit waren sie aus ihrem Leben verschwunden, ausgestorben oder abgetaucht, einsam und unbeachtet von der Gesellschaft. Sie meinte, Eltern und Elternvertreter bestimmten den Schulalltag, Lehrer wären dafür da, Wünsche von Eltern und Schülern geradewegs umzusetzen. Sie hatte sich geirrt. Nichts war anders geworden. Alles an der Schule war wie damals. Der gleiche Stoff, die gleiche Langeweile. Lehrerliebchen und Sargnägel. Furcht und Schreckensverbreiterei bei den Eltern.

Endlich Erfolg. Erfolg. Erfolg. Erfolg. Beim Deutschlehrer. Ihm hatte Friedas Aufsatz gefallen. Frieda durfte vorlesen. Es war höchste Zeit gewesen, man musste ihm etwas bieten. Eine Charakterbeschreibung der Mutter.
„Du musst meine schlechten Eigenschaften herausarbeiten, sonst wird es niemals gut“, hatte sie zu Frieda gesagt. „Das Gute will niemand lesen. Das Gute ist langweilig, nur das Schlechte macht die Spannung aus!“
Frieda sollte einen Aufsatz über ihre Schiferien schreiben. Frieda fragte die Mutter: Wer fährt besser Schi. Ich oder Marie?“ Die Mutter sagte, dass ihre Freundin etwas besser auf den Schiern sei. Das hatte genügt. Frieda redete kein Wort mehr mit ihr. Nun fragte Frieda ihren Vater, wer denn die bessere Schifahrerin sei. Der Vater war immer blind für die Mängel seiner Tochter und sagte, dass sie besser fahre. Das hatte genügt für einen wütenden Text über die Mutter: „Meine Mama behauptet, dass meine Freundin besser Schi fährt als ich. Was natürlich nicht stimmt. Mein Vater hingegen sagt, dass ich besser fahre, was natürlich richtig ist. Meine Mutter behauptet immer, dass alle anderen immer alles besser könnten als ich. Und immer hat sie etwas an mir auszusetzen. Und immer findet sie an den anderen Kindern alles toll, während mein Vater fast alles toll findet, was ich tue…“
Frieda las es der Mutter vor und schaute, wie sie reagiere.
„Wunderbar“, rief die Mutter, als Frieda schon dabei war, das Blatt aus dem Heft zu fetzen. Sie hielt mit dem Reißen inne.
„Du bist nicht beleidigt?“, fragte Frieda.
„Doch“, sagte die Mutter, „beleidigt bin ich schon. Aber es ist trotzdem gut. Es ist das Beste, das du je geschrieben hast. Weiter“, trieb die Mutter Frieda an, „schreib weiter so, du wirst sehen, das kann ein guter Text werden!“
„Du meinst, das geht? Darf man so über seine Mutter schreiben?“
„Wenn man einen guten Text möchte, muss man so über seine Mutter schreiben“, sagte die Mutter.
„Aber du bist beleidigt!“
Die Mutter zuckte mit den Schultern. „Du musst entscheiden, ob du es ertragen kannst, wenn du dafür eine gute Arbeit schreibst!“
Frieda hatte schnell entschieden und schrieb weiter. Nach einer halben Stunde sagte sie: „Mama, ich glaube, jetzt habe ich einen wirklich guten Text!“

Später erzählte Frieda der Mutter von der Reaktion des Deutschlehrers. Er habe beim Lesen laut auflachen müssen. Und er wollte von Frieda wissen: „Ist deine Mutter wirklich so?“
„Und was hast du geantwortet?“, wollte die Mutter wissen.
„Sie ist noch viel schlimmer“, sagte Frieda.

Wie viel sie doch gelernt hatten. Sogar auf den Schiurlaub hatten sie die Englischbücher mitgenommen. Die Mutter war erstaunt, was Frieda noch alles konnte. Wie viel sie sich von den einzelnen Lektionen gemerkt hatte. Sie selbst hatte das alles längst vergessen. Es fehlten nur Kleinigkeiten. Hier ein „s“ in der dritten Person, dort ein „ing“, es war ein „don’t“ zu viel, wenn „got“ bei einem „have“ stand, aber sonst gab es kaum etwas auszusetzen. In aller Früh weckte Frieda die Mutter und bat, sie möge noch einmal den Stoff mit ihr durchgehen.
„Entschuldige Mami“, sagte sie, „dass ich dich schon in aller Früh belästige!“
Die Mutter strich ihr zärtlich über das Haar: „Dafür bin ich doch da, mein Schatz!“ Und Frieda umarmte sie und sagte: „Danke, Mami!“
Als Frieda wegging, war sie fröhlich, und die Mutter war zuversichtlich.

Sie lauerte am Telefon. Beim ersten Läuten griff sie danach. Sie wollte durchatmen, bevor sie etwas sagte. Aber es schoss aus ihr heraus: „Was ist passiert?“
„Mama? Bist du mir böse?“
Die Mutter atmete tief durch, nahm sich zurück. „Nein, ich bin dir nicht böse!“
„Danke Mami!“
Sie setzte sich erst nach dem Telefonat hin und schmollte. Warum war nichts Besseres möglich als ein Vierer? Frieda hatte sich doch sosehr einen Einser gewünscht. Sie hatte dafür gelernt, mehr, als die Mutter je für irgendetwas gelernt hatte. Warum konnte Frieda nicht mit Fleiß und Ehrgeiz erreichen, was ihr durch fehlendes Talent verwehrt war?
Der Mutter fiel das Experiment mit den Ratten ein, die immer einen Stromschlag bekommen hatten, wenn sie an ihren Futterplatz gingen. Irgendwann bewegten sie sich nicht mehr von der Stelle, egal, wie man sie zu motivieren versuchte, und selbst wenn man das Futter neben sie stellte, fanden sie den Weg nicht. Erst als man sie am Genick packte und vor das Futter setzte, waren sie wieder in der Lage zu fressen. „Die erlernte Hilflosigkeit“, heißt das in der Sprache der Psychologen.

Sie übten für die Revision und wurden müde. Frieda hatte am Nachmittag zwei Stunden Förderunterricht in Englisch und danach zwei Stunden Spanisch. Und dann noch Vorbereitung für die Revision. Komplizierte Wörter wie generous, suddenly oder having a shower. Es war keine fehlerfreie Arbeit geworden. Gleich in einem einzigen Satz fand Mr. Englisch zwei Fehler. In der Übersetzung von „Ich mag kein Cola“ hatte Frieda geschrieben: „I don’t like Cola“, anstatt „I hate Coke“. Die Mutter tröstete sie. Oder tröstete Frieda die Mutter? Dafür würden sie eine Hausaufgabe in Mathe hinlegen, ohne einen einzigen Fehler.
Die Mutter maß mit Argusaugen. Obwohl der Kreis rund war, der Radius genauso beschrieben worden war wie die eingezeichnete Sehne, stand darunter: „Die Sehne ist nicht 72 mm lang, sondern nur 71 mm.“ Und dieser Satz war mit drei Rufzeichen versehen.
Die Mutter überlegte, was sie ihm antun könnte. Diesem sadistischen Pedanten. Sollte sie ihm auflauern? Oder ihm eine tote Ratte nach Hause schicken? Irgendjemand musste ihn bremsen, bevor er noch mehr Unglück anrichten konnte. Natürlich gab es Eltern, die sagten, dass es schon immer so gewesen sei und es nichts gäbe, was man dagegen tun könne. Aber sie wollte es nicht hinnehmen, dass es schon immer so gewesen sei.
Schließlich verprügelte sie ihre Tochter auch nicht mehr, zumindest nicht mit derselben Heftigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der man es früher getan hatte. Und wenn ihr die Hand einmal auskam, dann tat es ihr nachher leid. Sie gab sich auch nicht damit zufrieden, dass aus ihrer eigenen Generation trotzdem etwas geworden war, denn sie fand, so toll waren sie nicht. Frieda sollte es besser haben. Und wenn dafür eine tote Ratte behilflich sein konnte, war es ihr recht. Ob Fettgott Kupfer den Versuch kannte? Eine tote Ratte war nicht mehr zu motivieren.

Der Deutschaufsatz war endlich erledigt. Es war längst Abend. Words in Context waren ebenfalls geschrieben, bloß die Mathe-Hausübung stand noch aus.
„Mathe“, mahnte Frieda. „Mama, wir müssen noch Mathe machen.“
„Ja, gleich“, sagte die Mutter und spürte, wie es ihr den Magen zusammenkrampfte.
„Was heißt gleich“, bohrte Frieda. „Du meinst wohl später?“
„Komm“, antwortete die Mutter, „schlag dein Heft auf, bringen wir es hinter uns!“
Sie las die Angabe und verstand sie nicht. Sie hatte keine Ahnung, ob man multiplizieren oder dividieren muss, wenn man den Treibstoffverbrauch eines Autos für eine Strecke von 173,25 km berechnet, wenn man weiß, dass dieses Auto für 100 km im Stadtverkehr einen Spritverbrauch von ca. 8,35 Liter hat.
Zum Glück wusste auch Frieda nicht, was sie tun sollte. So gewann die Mutter Zeit und sah im Lösungsheft nach. Sie probierte es mit Multiplizieren und kam auf eine vollkommen andere Zahl als jene, die im Lösungsheft stand. Daraufhin probierte sie es mit Dividieren und kam dem Ergebnis im Lösungsheft zumindest in die Nähe.
Sie tat nun, als wäre es sternenklar, dass man dividieren müsse. Doch Frieda durchschaute ihre Mutter.
„Du hast keine Ahnung, Mami, stimmt’s?“
„Stimmt“, gestand die Mutter, weil ihr nichts Besseres einfiel als die Wahrheit, „und ich kann es auch nicht rechnen. Aber du musst es können, wenn du in deiner Klasse bleiben möchtest!“
„Ich will es nicht mehr hören“, schrie Frieda und hielt sich die Ohren zu. „Ich will es einfach nicht mehr hören. Verschwinde“, schrie sie weiter, „geh in dein Zimmer und lass mich in Ruhe. Ich will nichts mehr von dir hören!“
Die Mutter stand auf und ging. Es war ihr lieber, sich von der Tochter beschimpfen und wegschicken zu lassen, als weiter diese grauenhaften Matheaufgaben zu lösen.

Frieda lag schon im Bett, als die Mutter in ihr Zimmer kam und sich zu ihr setzte. Frieda lag da wie ein Embryo. Die Mutter strich ihr über das Haar.
„Mama, ich bin so unglücklich“, sagte Frieda, und die Mutter merkte, dass sie geweint hatte.
„Warum denn, mein Schatz?“, fragte die Mutter.
„Weil die Schule für mich ein Unglück ist.“
„Aber die Schule ist nicht das Leben“, versuchte die Mutter zu beschwichtigen.
„Doch. Mein Leben ist die Schule. Was denn sonst!“
Die Mutter schwieg. Sie wusste keine Antwort.
Frieda drehte sich um und sah ihre Mutter an. „Ich wäre so gerne gut, Mama. Ich mag nicht immer die Schlechteste sein!“
Die Mutter nickte. „Vielleicht ist es besser, du wiederholst!“
Frieda war verzweifelt: „Aber das will ich nicht. Ich habe gute Freundinnen in der Klasse. Die kommen alle weiter und ich bleibe zurück. Das verstehst du doch!“
Die Mutter nickte.
„Weißt du was?“, sagte die Mutter. „Morgen machst du mit deinem Papi Mathe. Vielleicht klappt das besser als wenn wir es machen.“
Frieda nickte.

Der Vater kam früh nach Hause. Die Mutter zog sich zurück. Sie würde sich nicht einmischen. Das war eine Angelegenheit zwischen Vater und Tochter. Der Vater setzte sich mit einem Glas Wein zum Tisch.
„Schau“, sagte er zu Frieda, „da hast du es. Addieren von Strecken AB und BC.“
„Wie heißt die Nummer?“, fragte Frieda.
„901.“
„Wieso 901“, wollte sie wissen.
„Weil es 901 ist.“
„Da steht aber 900“, meinte Frieda, „deshalb schreibe ich 900 hin.“
„Schreibe alle Blockbuchstaben an, die einen Streckenzug bilden“, fuhr der Vater fort.
„Papi“, fragte Frieda, „wenn wir in der Klasse einen Wettbewerb machen, glaubst du, würde ich die Schnellste sein?“
„Das weiß ich nicht“, meinte der Vater, „ich fürchte etwas ganz anderes!“
„Was fürchtest du?“
„Das weiß ich nicht. Schreibe ABCD.“
„Darf ich 900 schreiben?“
„A, B, C, D, A, dann hast du ein Viereck“, der Vater konzentrierte sich auf die Übung.
„Papi, was ist eigentlich ein Streckenzug?“
„Ich zeige es dir“, sagte er, „erklären kann ich es auch nicht. Ein Streckenzug kann offen oder geschlossen sein. Das steht so hier. Schreibe alle Blockbuchstaben an, die einen Streckenzug ergeben. Was steht eigentlich in deinem Aufgabenheft?“
Er sah selber nach. „Zeichne drei parallele Strecken. Das ist klar. Das wirst du doch zusammenbringen!“
„Das ist mir klar“, sagte Frieda. „Dir nicht? Ich will, dass du es auch verstehst, Papi!“
Der Vater atmete tief durch. „Wenn du es kannst, dann mach es einmal. Zeichne eine Gerade, was fällt dir auf?“
„Nichts!“
„Die Normale ist parallel, zeichne eine Gerade K, dass sie normal zu H steht!“
Frieda sah ihn mit großen Augen an.
Der Vater wurde ungeduldig: „Tu weiter. Ich kann auch nichts dafür. Da hast du einen Streckenzug!“
Er las vor, was er zum Thema Streckenzug im Buch fand: „Fügt man Strecken aneinander, so entsteht ein Streckenzug. Es gibt offene und geschlossene Streckenzüge!“
Friedas Blick ging ins Leere.
„Überleg dir, ob du weitermachen willst oder nicht“, sagte der Vater barsch.
„Ich gehe mich schnäuzen“, antwortete Frieda.
„Schreibst du es jetzt?“
„Wenn ich mich geschnäuzt habe. Dann sagst du mir am besten an, was ich schreiben soll!“
Der Vater wartete. Frieda kramte in ihrer Jeanstasche herum. „Papi, hast du ein Taschentuch?“
Der Vater nestelte in seinem Hosensack und zog eines heraus.
„Das sieht schon ziemlich verschmuddelt aus“, stellte Frieda fest.
„Es ist ungebraucht.“
„Ungebraucht schon, aber trotzdem irgendwie ekelig!“
„Schreibst du jetzt?“
Frieda zog geräuschvoll Rotz auf.
Der Vater schob den Sessel mit einem Ruck zurück, stand auf und holte ein Taschentuch aus dem Badezimmer.
„Danke Papi!“
Frieda schnäuzte sich mehrmals.
„Schreibst du jetzt?“, fragte der Vater.
„Wenn du mir sagst, was ich schreiben soll!“
„Nimm eine Gerade G beliebig an, zeichne dazu eine Normale, H schneidet, K ist parallel zu G. Was fällt dir auf?“
„Dass drei nebeneinander sind!“
„Hör auf zu schaukeln, wenn du arbeitest. Was fehlt noch? Wann machst du deine Beispiele? Und schreib endlich hin, was du glaubst, dass er sehen will!“
Der Vater stand auf und schüttete den Wein in den Ausguss.
„Papi, warum schüttest du den Wein weg?“
„Weil er voller Mücken ist. Ich vergesse zu trinken, wenn ich mit dir Mathe mache! Was steht bei 900?“
Frieda las vor: „Schreibe alle Blockbuchstaben an, die einen Streckenzug bilden!“
„Hör auf zu schaukeln“, fuhr der Vater sie nun heftig an, „und schreibe es endlich hin. Schreibe es einfach hin. Da hin, in dein Heft. Und pack ein, bitte!“
„Ich bin aber noch nicht fertig“, antwortete Frieda. „Ich habe noch zwei Nummern!“
„Dann mach sie und hör endlich auf zu schaukeln. Konstruiere eine Strecke mit folgender Länge: AB, BC, so einfach ist das.“
Frieda starrte ihn an.
„Schau“, die Stimme des Vaters wurde immer lauter, „da steht es doch, wie es geht. Miss noch einmal nach. Ein Dreieck und dann einen Strich machen! Und schau nicht so mitleidheischend!“
„Schau ich gar nicht“, sagte Frieda. „Ich fürchte mich nur vor dir, wenn du so schreist!“
„Ich schreie doch nicht“, schrie der Vater. „Willst du hören, wie es klingt, wenn ich schreie?“
„Nein, danke“, sagte Frieda. „Es reicht mir auch so!“
„AB ist wie viel?“, fragte der Vater.
„Vierzig!“
„Gut! Mach einen geraden Strich. Das ist AB. BC ist wie viel?“
Frieda schaute ihn nur an.
„Und CA ist wie viel?!“
Frieda schaute noch immer.
„Zweieinhalb und drei“, gab der Vater sich selber die Antwort. „Siehst du?“
„Ja, danke“, antwortete Frieda artig. Ich muss noch die Verbesserung der vorigen Aufgabe machen.“
„Lass sehen. Das kriegen wir auch noch hin“, sagte der Vater. „Die Summe wird um zehn größer. Wenn es nicht stimmt, sag ihm, mein Papa hat es mir so angesagt. Und hier schreib: Die Summe bleibt gleich. Elf Elemente, sie werden mit Kreuzzeichen markiert!“
„Papa, machst du es mit mir?“
Er nahm das Heft zu sich. „Gib her, ich mache das jetzt. Das ist auch schon egal! Drei plus acht. Hier hast du dich für 1 Kästchen entschieden. Verstehst du warum?“
„Ich sage einfach, dass ich es verstehe“, antwortete Frieda.
„Jetzt mache ich noch c. Zwanzig plus sechzig. Wenn es ihm nicht passt, sag ihm: Mein Vater kann es auch nicht besser!“

Sie hatte von ihm geträumt. Sie lag in seinem Bett. Sein Fett störte sie, als es überall an ihr herunterrann. Es störte sie, wie es sie zum Schwitzen brachte, sie rundherum einhüllte, sie regelrecht erstickte. Es kostete sie enorme Kraft, sich gegen ihn zu stemmen, gegen seine Körpermasse, die nicht aufzuhalten war, die wie eine Schlammlawine über sie rollte und sie begrub. Sie konnte es genau fühlen, wie sie an Kraft verlor, wie sein Körperschlamm sie langsam erdrückte.
Als sie aufwachte, badete sie in ihrem Pyjama. Sie wusste nicht, ob es Fett war oder Schweiß, in dem sie lag. Sie sah sich um. Sie war allein. Es muss wohl mein eigener Schweiß sein, dachte sie. Was hatte er ihr bloß geboten, dass sie es so weit hatte kommen lassen? Wie kam sie zu diesem Traum? Spielte sie bereits mit dem Gedanken, mit ihm ins Bett zu gehen, wenn er ihrer Tochter eine positive Note gab? Und wenn sie noch nicht mit dieser Idee spielte, sollte sie es tun? War es nicht eine vergleichsweise einfache Möglichkeit, das quälende Lernen zu beenden? Was war eine schreckliche Nacht mit dem Fetten im Vergleich zu den vielen schrecklichen Abenden, die sie mit ihrem Kind haben würde, wenn sie Englisch lernen mussten. Stattdessen würden sie gemeinsam einen Film schauen, danach Sushi essen oder einfach „vier gewinnt“ spielen, bis sie vor Müdigkeit ins Bett fielen.
Einen Moment lang überlegte sie, den Pyjama auszuwringen. Sie wollte messen, wie viele Liter Schweiß sie dieser Gott Kupfer schon gekostet hatte. Wie viele Krebszellen er in ihr schon angelegt hatte, konnte sie nicht zählen. Aber täglich suchte sie nach grauen Haaren, die demnächst aus ihrer Kopfhaut wachsen würden.

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Gabriele Kögl, geboren in Graz, wuchs in der Weststeiermark auf. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium in Graz sowie ein Studium an der Filmakademie Wien. Sie schreibt Drehbücher, Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Zahlreiche Preise, Clemens-von-Brentano-Preis für das Debüt Das Mensch (Wallstein), zuletzt Goldener Stier für das beste europäische Hörspiel (Höllenkinder) beim Prix Europa 2019. Jüngster Roman: Gipskind (Picus 2020).

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.