Fragebogen: Anton Thuswaldner

„Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben.“ Zum Geschäft der Literaturkritik heute.

Online seit: 10. Februar 2016

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Die Literaturkritik ist ein Kind der Aufklärung und darf diese Tradition nicht preisgeben. Sie muss eine Haltung einnehmen, darf sich nicht krümmen und beugen und vor Angst, sich unbeliebt zu machen, halbherzig werden oder gar Autorinnen und Autoren nach dem Mund zu reden. In der Literatur bekommen wir es immer mehr mit Individuen zu tun, wir sollten herausbekommen, wie diese denken, arbeiten, welches Bild von der Welt sie entwickeln. Literatur ist eine besondere Form der Abweichung, diese darzustellen sollte der Kritik gelingen.

Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Die Boulevardisierung der Medien bringt es mit sich, dass Kritik nicht gefragt ist. Es wird zunehmend schwieriger, sich auf größerem Raum mit einem Text zu beschäftigen, eine Argumentation zu entwickeln und sich nicht damit abzufinden, den Daumen zu heben oder zu senken. Eng wird es, wenn auch in seriösen Medien die Gschaftlhuberei und der Gefühlskult Einzug halten und das Quasselkaspar-Syndrom sich ausbreitet. Kritik hatte einmal einen besseren Preis, die Bezahlung für Arbeit, die nicht von Google oder den Klappentexten stammt, ist abenteuerlich schlecht.

Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als KritikerIn?
Kritiker und Kritikerinnen sind in der Regel an der Universität mit literaturwissenschaftlichen Theorien in Berührung gekommen. Davon wird sich niemand befreien wollen, haben sie einen doch beigebracht, wie Texte arbeiten und dass Autorinnen und Autoren mehr sind als Gschichtldrucker. Die Herausforderung besteht darin, alles, was man sich an Theorie angeeignet hat, in eine Sprache zu bringen, die sich vom akademischen Diskurs unterscheidet. Die Theorie ist vorhanden, aber unsichtbar geworden.

Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
In meinen Anfängen war Fritz J. Raddatz jener Kritiker, bei dem ich am Genauesten aufgepasst habe, wie er arbeitet, weil er über einen scharfen Verstand verfügte, ungeheuer gut schreiben konnte, auf einem klar definierten theoretischen Hintergrund operierte und politisch hellwach war. Gerade Verrisse von ihm haben meine ästhetische Wahrnehmung stark geprägt. Jedenfalls ist hier von Raddatz in der prä-hypereitlen Phase die Rede. Später hat mich Theodor Fontane in seinen Briefen als Kritiker  fasziniert, weil er mit Freunden, die sich ihm anvertraut haben, gnadenlos verfahren ist. Er ersparte ihnen gar nichts und verstand es, die Schwächen von Texten sehr genau zu benennen. Ein großartiger Stilist war er obendrein. An Zeitgenossen schätze ich Ulrich Weinzierl sehr, der Scharfsinn mit Eleganz zu verbinden weiß. Dass er sich jetzt so zurückgenommen hat, bedaure ich sehr.

Wieviele Bücher muss ein/e KritikerIn gelesen haben um kompetent urteilen zu können? Wieviele haben Sie gelesen?
Im Grunde fangen wir zu früh an, Kritiken zu schreiben, weil es viel Zeit braucht, dass wir uns nicht nur in der Gegenwart umgesehen, sondern uns auch die literarische Tradition angeeignet haben. Und dazu gehören die fremdsprachigen Größen ebenso wie die deutschsprachigen. Voraussetzung ist jedenfalls, dass Kritiker und Kritikerinnen seit sie des Alphabets mächtig sind, vom Lesen nicht lassen können. Dann kommen mit 25 Jahren schon an die tausend wichtigen Texte zusammen, die als Basis dienen können. Wieviel Bücher habe ich gelesen? Manche mehrmals, einige immer wieder, manche nur einmal, andere nur zum Teil. Zwanzigtausend vielleicht?

Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
Achtzig bis hundert zur Gänze, vielleicht zweihundert, über die ich mir einen Eindruck verschaffe, indem ich ein paar Erzählungen oder Gedichte rausgreife oder mich recht frei in den Büchern bewege.

Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Mit 15 war gewiss Heinrich Böll der Favorit, und ein kritisches Erweckungserlebnis war Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten I. Und heute? Uwe Johnson, Peter Weiss, Katherine Mansfield, Alice Munro, Joseph Roth.

Was lesen Sie, wenn es nicht mit dem Beruf zu tun hat?
Meiner kleinen Enkelin (zweieinhalb Jahre) lese ich Kinderbücher vor, das geht von Grimm-Märchen bis zu Pixi-Büchern.

Haben Sie in Ihrer Laufbahn als KritikerIn je ein Urteil grundlegend revidieren müssen? 
Natürlich darf man sich als Kritiker irren, aber Eindeutigkeit ist ohnehin kaum je zu bekommen. Deshalb betreiben wir ja Kritik, damit wir ein Buch, einen Autor, eine Autorin ins Gespräch bringen. Ich muss nicht Recht haben. Habe ich mich geirrt, wenn ich Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann für ein schlechtes Buch hielt? Ich halte es immer noch für ein solches. Habe ich mich geirrt, wenn ich Thomas Glavinic für maßlos überschätzt hielt? Ich finde mich Buch für Buch in meiner frühen Einschätzung bestätigt.

 

Anton Thuswaldner, geboren 1956, arbeitet als Literaturkritiker für die Salzburger Nachrichten.

Quelle: Volltext.net
Online seit: 10. Februar 2016