Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute?
Das, was immer schon not tat – die Hege und Pflege des literarischen Feldes: Das Überragende erkennen, das Neue fördern, das Gute bewirtschaften, das Mittelmäßige eindämmen und das Schlechte „verarzten“, so es denn symptomatisch oder ästhetisch interessant ist. Dies alles auf der Basis einer stereoskopischen Kunst von Empathie und Einfühlung, Abstraktion und Argument. Nach wie vor begreife ich die „schönen Künste“ und mit ihnen die Literatur als Hort reinigender Erinnerung, als Schauplatz politisch-sozialer Selbstreflexion, als Versuchsstation utopischen Weltaufgangs sowie als Refugium innerweltlicher Transzendenz. Insofern Literatur gesellschaftlich relevant ist, ist auch Literaturkritik gesellschaftlich relevant.
Was sind die größten Herausforderungen/Probleme für die Kritik heute?
Die Ausbreitung schneller, nicht literaturaffiner elektronischer Medien und die daraus resultierende Zerstreuung. Der Zerfall der Bildung und der bürgerlichen Lesekultur. Die Aufweichung der Maßstäbe durch die Vernachlässigung des Intellektuellen und die Inflation des Populären. Der Geltungsverlust des literarischen Feldes und damit verbunden die Verschlechterung der sozio-ökonomischen Situation (Platz, Honorare, Publikum, Aufmerksamkeit). Eine panische literarische Überproduktion. Ein sich aus dem ganzen Verlustzusammenhang ergebender systemischer Konformismus.
Spielen literaturwissenschaftliche Theorien eine Rolle für Ihre Tätigkeit als Kritiker?
Meine literaturwissenschaftliche Ausbildung läuft immer im Hintergrund mit – wie ein Betriebssystem. Mitunter ist man in Situationen gestellt, in denen man den eigenen Literaturbegriff hinterfragen muss. Es gibt keine bevorzugte Theorie, eher ein Theoriekonglomerat. Erlaubt ist, was überzeugend funktioniert.
Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
Mich überzeugen Kritiken, die Herz und Kopf, Nähe und Distanz, Originalität und Sprachkraft, Scharfsinn und Mut, Tiefe und Witz vereinen. Es muss eine Radikalität im Text drin stecken. Der ideale Kritiker ist eine Art Medium – seine Texte müssen dicht beim Leser bleiben und sich zugleich dem Kunstwerk annähern, ohne selbst Kunst sein zu wollen. Die wirklich Großen besitzen eine eigene, unverwechselbare Stimme. Unter den Toten fallen mir Karl Kraus und Adorno, Reinhard Baumgart und Hans Egon Holthusen, Jean Améry, W.G. Sebald, Günter Blöcker und viele hochgeschätzte Germanisten ein. Unter den Lebenden gibt es zahlreiche Namen – zu viele, um sie hier aufzuzählen und dabei nicht jemand wichtigen zu vergessen. Persönliche Wegweiser waren für mich der Germanist Wolfgang Binder, Beatrice und Peter von Matt, Martin Meyer, Karl-Markus Gauß und Ilma Rakusa.
Wie viele Bücher muss ein Kritiker gelesen haben, um kompetent urteilen zu können? Wie viele haben Sie gelesen?
Das lässt sich nicht quantifizieren. Ich selber bin nie auf die Idee gekommen, die von mir gelesenen Bücher zu zählen. Generell gilt: Je tiefer die Leseerfahrung und je breiter der Lesehorizont, desto größere literaturkritische Echoräume öffnen sich. Unabdingbar für die Schärfung des Urteils scheint mir für heutige Kritiker die Kenntnis zeitgenössischer Weltliteratur. Der deutschsprachige Raum neigt meiner Ansicht nach zu Nabelschau und Selbstgenügsamkeit. Dabei bieten geografische Randgebiete oft Erstaunliches.
Wie viele Neuerscheinungen lesen Sie pro Jahr?
30 bis 40, neben der Tagesfron in den Mühlen der Redaktion.
Welche AutorInnen haben Ihnen mit 15 gefallen, welche schätzen Sie heute?
Ich habe als pubertierender Jüngling tatsächlich Hermann Hesse verschlungen, dann Max Frisch und Thomas Mann (vor allem in Hinsicht auf das Kunst-Leben-Problem) sowie Science-Fiction und Philosophisches. Später habe ich, um auf alle Fälle zu wissen, was man wissen muss, ganze Philosophie- und Literaturgeschichten durchgeackert. Meine modernen Klassiker sind: Kertész und Kiš, Andrić und Tišma, Nabokov und Bunin, Milosz und Wittlin, Gustafsson und Esterházy, Kafka und Robert Walser, M. Blecher und Bruno Schulz, Musil und Joseph Roth, Trakl und Rilke, Lebert und Bernhard, Baudelaire und Ramuz, Flaubert und Camus, Bolaño und Garcia Márquez. Unter den Lebenden bewundere ich Enzensberger und Handke, Norbert Gstrein und Martin Pollack, Arno Geiger und Christoph Ransmayr, Terézia Mora und Serhij Zhadan, Adam Zagajewski und Andrzej Stasiuk, David Albahari und Miljenko Jergović, Aleksandar Hemon und Dževad Karahasan, Péter Nádas und László Krasznahorkai, Ismail Kadare und Mircea Cartarescu, Georgi Gospodinov und Orhan Pamuk, Attila Bartis und Bora Ćosić, Julia Kissina und Hanna Krall, Per Olov Enquist und Tomas Espedal, Chico Buarque, Valeria Luiselli, Héctor Abad, Mario Vargas Llosa. Und und und. Leider sind meine Kenntnisse des angelsächsischen Raums sträflich unterentwickelt.
Was lesen Sie, das nichts mit dem Beruf zu tun hat?
Nicht viel – mangels Zeit. Gerne würde ich mich mehr in (internationalen) literarischen und intellektuellen Zeitschriften umtun. Lust hätte ich auf die Lektüre zeitgenössischer Geschichtsliteratur, wo Eminentes geleistet wird. Und natürlich gäbe es unendlich viele Lücken zu füllen, was literarische Klassiker betrifft.
Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kritiker je ein Urteil grundlegend revidieren müssen?
Nicht wirklich, ich war bei allen Emotionen immer sehr analytisch und argumentativ. Wenn ich etwas bereue, dann, mich mitunter im Ton vergriffen zu haben. Man ist heute nicht mehr der literaturkritische Heißsporn, der man einmal war. Kampflustig bin ich immer vor allem da geworden, wo Literatur in Ideologie kippt. Noch immer finde ich es wichtig, ab und zu einen exemplarischen Verriss zu schreiben – das schärft das Urteil, beglaubigt das Lob und befördert die Psychohygiene. Letztlich aber kommt es auf die einzelne Stimme nicht so an: die Literaturkritik insgesamt ist ein Chor, in dem sich die Unterschiede bereits kurzfristig, besonders aber auf die lange Dauer ausgleichen.