VOLLTEXT 2/2020

5,90

Mit Beiträgen von Teresa Präauer, Marina Zwetajewa, Alexander Kluge, Karin Mölling, Jan Wilm, Katrin Hillgruber, Ludwig Fels, Alban Nikolai Herbst, Thomas Hummitzsch, Klaus Modick, Clemens J. Setz, Arno Geiger, Norbert Gstrein, Susanne Schleyer, Andreas Maier, Felix Philipp Ingold, Michael Braun, Paul-Henri Campbell, Michael Buselmeier, Uwe Schütte, Kurt Neumann, Thomas Stangl, Thomas Stangl, Henning Ziebritzki, Szilárd Borbély, Arnold Maxwill, Cvetka Lipuš.

Umfang: 76 Seiten
Format: PDF
Die Datei ist durch ein digitales Wasserzeichen markiert und durch ein Passwort geschützt. Das Passwort zum Öffnen der PDF-Datei ist Ihre E-Mail-Adresse.

Kategorien: ,

Beschreibung

Begegnungen in der Autofiktion
Für Eileen Myles und Isabelle Lehn – sisters of mercy. Von Jan Wilm

„Manche haben Angst vor mir und meinen Büchern“
Katrin Hillgruber im Gespräch mit Ludwig Fels über seinen neuen Roman Mondbeben, afrikanische Sehnsüchte und die Macht der leisen Wirklichkeit

Aus dem Wörterbuch des Unmenschen: der Begriff „Kulturschaffende“
Von Michael Buselmeier

Kerker, Klinik und Klausur
Literatur als Traumabewältigung. Von Felix Philipp Ingold

Harte, muskulöse Buben mit unguten Gesichtern
Aus dem Tagebuch von Clemens J. Setz

Bukowski in Wolfenbüttel
Eine fast wahre Geschichte. Von Klaus Modick

Ein fremdes Lebewesen klopft an unsere Tür
Materialien und Texte aus den sieben Körben. Von Alexander Kluge

Schreiben Sie auch ein Corona-Tagebuch?
Norbert Gstreins Kolumne „Writer at Large“

„Sie sind ein Sprachfaschist!“
Thomas Hummitzsch im Gespräch mit Alban Nikolai Herbst über Leben und Werk – anlässlich des Erscheinens seiner gesammelten Erzählungen

Neulich
Andreas Maier und das Leben an der Stange

Lumpenproletariat im Ausgehbezirk
Thorsten Nagelschmidt und sein politischer Roman Arbeit. Von Uwe Schütte

Lyrik-Logbuch
Eintragungen zu Gedichten von Henning Ziebritzki, Cvetka Lipuš, Szilárd Borbély, Arnold Maxwill. Von Michael Braun und Paul-Henri Campbell

Dr. Roseis Welt-Impromptus
Einige Überlegungen zu und anhand Peter Roseis Die große Straße. Reiseaufzeichnungen. Von Kurt Neumann

Verstehen neben dem Verstehen
Thomas Stangl über Georges Perros’ Klebebilder

Meine Antwort an Ossip Mandelstam
Von Marina Zwetajewa

Mady Morrison: Yoga, Fitness, Lifestyle
Gestreamt von Teresa Präauer

Die Bewohner von Château Talbot
Von Arno Geiger

Lektürenotizen
Thomas Lang über Bret Easton Ellis, Juan Guse, Jan-Peter Bremer, Michael Faber, André Gide und die Anthologie Kein schöner Land

Schleyers Fotojournal

 


Zitate aus VOLLTEXT 2/2020

Meine Enttäuschung galt am ehesten den deutschen Feuilletons und der Art, wie sie mit den Texten umgingen, die mir damals am meisten bedeuteten.

Die interessanteste Autofiktion ist jene, die um das belangloseste Ich Aufhebens macht, als wäre dieses Ich Lady Macbeth oder Jane Eyre.

Aber Literatur wird von Körpern gelesen, wie sie von Körpern geschrieben wird, und es erschien mir den größten Unterschied zu machen, ob ich ein Buch im Zustand der Verzweiflung las oder im Zustand der Verliebtheit.

Ich war am richtigen Ort. Es würden mir hier schöne Abenteuer passieren.

Jan Wilm: „So schien es mir, dass die Hinwendung zum Beschämenden im Ich die entscheidende Bewegung der Autofiktion sein könnte.“

Eileen Myles: „Also richtete ich mich in meinen Gedichten ein und hielt mein Leben für das eines Verlierers, und damit eben auch für poetisch.“

Isabelle Lehn: „Für mich ist das Schreiben immer ein absolut körperlicher Akt.“

Der Ursprungsherd des Virus, das die Sperrkreise des Hauptquartiers und dann auch noch die Blut-Hirn-Schranke Hitlers so zügig überwand, wird in einer bestimmten Gegend Galiziens vermutet.

50 Prozent unseres Erbguts besteht aus ehemaligen Viren. Sie sind in unser Genom eingemeindet, Patrioten unseres Überlebens.

Die Viren in unserem Genom verteidigen uns. Und sie träumen, möchte ich fast sagen, von Virenangriffen, die vor 35 Millionen Jahren stattfanden. Sie kämpfen gegen Viren, die es gar nicht mehr gibt, führen imaginäre Kämpfe.

Unheil, Terror, Schmerz, das hat sich eigentlich zwangsläufig so ergeben.

Ludwig Fels: „Ich habe immer noch einen Glauben an eine höhere Macht, die man so allgemein Gott nennt.“

Mit solchen Vokabeln versuchen sich Künstler und deren Funktionäre bei den politisch jeweils tonangebenden Kollektiven anzubiedern.

Schon vor dem Ausnahmezustand der Covid-19-Pandemie dominierten in der Belletristik Stoffe und Themen aus dem Bereich privater und gesellschaftlicher Pathologie.

Womöglich ist ja die weitverbreitete „Tragik“ heutiger Dichtung eher ein Trend oder ein Fake als ihr Existenzgrund.

„Der Schriftsteller braucht einen Mangel, einen Angstdruck, um die weiße Seite zu füllen.“

Ein Mann ging nach der Aufführung an mir vorbei und zischte „Arschloch!“

Der Dichter. Er stand auf, aß eine Birne, verlieh denen eine Stimme, die selber keine hatten, und ordnete Dübel. Draußen regnete es.

All die Biomasse von damals ist längst anders verstreut.

Ich mache dies abgrundtief peinliche Geständnis auch nur deshalb, weil der Schönen bei der unerhörten Begebenheit, von der hier zu berichten ist, noch eine tragende Rolle zukam.

Klaus Modick: „Literaturproduktion ist wesentlich ein sich selbst generierender Prozess. Wer auf ‚gute Ideen‘ wartet, wartet vergeblich.“

Da nur das Verallgemeinerbare, das Objektivierbare, gelehrt werden kann, lässt sich Literatur wie jede Kunst im strengen Sinne nicht lehren.

Die besten Ideen kommen beim Schreiben, und nach Baudelaires Einsicht wird man literarisch umso fruchtbarer, je mehr man schreibt.

Die einzige Erklärung, die ich schließlich für das Verhalten der Gruppe fand, war, dass alle sich gegenseitig durch ihre Vorbildlickeit in Schach hielten.

So las ich meinen hoch aggressiven, doch zu allererst verzweifelten Text quasi noch in Rainald Goetz’ Blut.

Es war noch nie einsehbar, warum ein Dichter oder Romancier mehr zur politischen Realität zu sagen hat, als der Bäcker von der Straßenecke.

Es ist vollkommen egal, ob es Gott gibt oder nicht. Doch nur aus dem Glauben an ihn konnte Bachs h-moll-Messe entstehen.

„Empfinden Sie dann eher so etwas wie Scham oder Peinlichkeit?“
„Nein. Sowas habe ich früh abgelegt. Und ich bin Schriftsteller.“

Es ist eines der Kennzeichen guter Literatur, dass die Absicht des Künstlers selbst keine Rolle mehr spielt.

Man würde heute Autoren wie Thomas Brasch, Einar Schleef oder Rainer Werner Fassbinder nicht mehr zulassen wollen.

Menschliche Arschlöcher können künstlerisch gigantisch sein. Bittererweise gilt auch die Umkehrung.

Eine meiner Partnerinnen sagte mir mal, dass ich Feinde wittere, wo immer ich auch hingeh.

Je eigenständiger ein Stil wird, desto weniger Chancen hat er in diesem System.

Meine Gegnerschaft zum Pop ist ja bis heute ein Kennzeichen meiner Arbeit.

Idyllen geschehen flankiert von Katastrophen. Das wusste schon Kleist. In anderen Ländern wären wir vielleicht hingerichtet worden.

Monate lebten wir an der Stange. Die Verbote wurden drastischer, wir blieben an der Stange. Die Zeichen kamen ins Gesicht der Menschen, wir waren an der Stange.

Die Brandstiftungen in Einkaufszentren sind das Fanal des soziokulturellen Wandels in den sogenannten Szenekiezen.

Alban Nikolai Herbst: „Wenn man als 15­jähriges Mädchen, als alter Mann oder als Banker in den Chat geht, schult das ungemein.“

Perros hat lieber gelesen als geschrieben und nur widerwillig Bücher veröffentlicht.

Georges Perros: „All den ungestümen Wesen, die sich unter meinem erbärmlichen Namen regen, das Wort geben.“

„Wozu übereifrig sein und sogar Figuren in die Welt setzen“, so Perros über Paul Valéry und zugleich über sich selbst.

„Schreiben heißt auf die Welt verzichten und sie dabei anflehen, nicht auf uns zu verzichten.“

Dieses Buch stammt vom erbärmlichsten Typus, den die Menschheit zu bieten hat: von einem Ästheten; es ist verrottet bis ins Mark.

Wenn man nach Ungereimtheiten und Ungeschicklichkeiten geht, wird von Ihnen wenig übrigbleiben.

Aber es ist an mir, Sie, den großen Dichter, anzuklagen.