Das mythologische Narrativ um den ingeniösen Architekten und Erfinder Dädalus ist eine bildhaft überhöhte Vergegenwärtigung menschlicher Kreativität. Der Mythos setzt sich aus zwei ganz unterschiedlichen Geschichten zusammen, von denen allerdings nur eine – die Geschichte vom Flug und Sturz des Ikarus – in Erinnerung geblieben ist: Dädalus, der zusammen mit seinem Sohn im kretischen Labyrinth gefangen gehalten wird, bewerkstelligt die gemeinsame Flucht auf dem Luftweg, indem er für Ikarus und für sich selbst aus Vogelfedern, die er mit Wachs an den Armen befestigt, flugfähige Schwingen verfertigt. Das Abheben von den Zinnen des Kerkers gelingt, doch unter Missachtung väterlicher Warnungen steigt Ikarus zu hoch in den Himmel, kommt der Sonne so nah, dass das Wachs abschmilzt und die Federn sich lösen, sodass er hilflos ins offene Meer stürzt.
Dieser weithin bekannten, oftmals nacherzählten und abgewandelten Geschichte geht eine fast vergessene Episode voran, die ebenfalls mit einem tödlichen Sturz endet, insgesamt jedoch einer andern Dramaturgie folgt. Dädalus tritt hier als Lehrmeister seines Neffen Talus auf, der ihm hingebungsvoll nacheifert, ihn aber schon bald an Geschick und Einfallsreichtum übertrifft. Der Schüler wird damit zum Rivalen, und aus eben diesem Grund – Autoritätsverlust, Künstlerneid, Konkurrenzangst – stößt ihn Dädalus von der Athener Stadtmauer in den sicheren Tod.
Zwei Faktoren fallen an diesem doppelt geführten Kreativitätsmythos besonders auf – einerseits die Tatsache, dass in beiden Fällen von einer Krise, sogar von einem Bruch zwischen Lehrer und Schüler die Rede ist: Bei Talus geht der Bruch vom Lehrer (Onkel) aus, bei Ikarus, der als Schüler (und Sohn) das Gebot des Lehrers (und Vaters) übertritt, ist es umgekehrt. Auffallend ist außerdem, dass die dädalischen Schöpfungsmythen nicht mit einer Apotheose enden, sondern mit dem Tod des jeweils jüngeren Protagonisten. Damit wird nicht nur die genealogische Komponente menschlicher Kreativität in Frage gestellt, sondern auch, generell, die Kontinuität künstlerischer Evolution und wissenschaftlichen Fortschritts. Neuere Kreativitäts- und Innovationskonzepte wie der Kuhnsche Paradigmenwechsel oder Harold Blooms Theorie der Einflussangst gehören (und passen) in die mythologische Perspektive, die von Dädalus und seinen ungleichen Schülern auf höchst ambivalente Weise eröffnet wird.
Zu allen Zeiten und in allen europäischen Kulturen finden sich Beispiele literarischer Filiationen, die sich als Krisen oder offene Konflikte zwischen wegweisenden Vorbildern (nicht nur einzelnen Autoren, auch Schulen, Stilformationen) und deren Adepten vollzogen haben. Das Aufbegehren der Schüler gegen die Lehrer, der „Söhne“ gegen die „Väter“ ist der wohl stärkste Motor künstlerischer Evolution, ein Faktum, das in offenen, synkretistischen Kulturepochen – Barock, Romantik, Symbolismus, Jugendstil – besondere Ausgeprägung gewinnt, während es in klassischen beziehungsweise klassizistischen Perioden merklich an Bedeutung verliert.
Die letzte mehr oder minder integrale Stilepoche war der Realismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zunehmend unterlaufen von den französischen Modernisten, sekundiert und verengt durch den Naturalismus – in ganz Europa etwa gleichzeitig (mit Dickens, Sue, Balzac, Keller, Tolstoj) seine Hochkonjunktur hatte und als Neorealismus noch im frühen 20. Jahrhundert, bedrängt von der aufrückenden internationalen Avantgarde, Präsenz zeigte. Zu den Wortführern der damaligen neorealistischen Belletristik gehörte – neben Autoren wie Verga, Kipling, Conrad, Reymont, Heyse, Martin du Gard oder Anatole France – der Russe Iwan Bunin (1870–1953), der sich mit hochkarätiger Prosa ebenso wie mit formstarker Lyrik im vorrevolutionären Literaturbetrieb etablierte, bevor er 1920, auf der Flucht vor den Bolschewiki, nach Frankreich ins Exil ging und schon bald (nachhaltig gefördert von Thomas Mann) internationale Anerkennung fand.
Unter Bunins zahlreichen Eleven und Nachahmern findet sich der um eine Generation jüngere Vladimir Nabokov (1899–1977). Aus der Retrospektive von Nabokovs späten „amerikanischen“ Erzählwerken – Fahles Feuer, Ada, Look at the Harlequins u. a. – würde man allerdings keine „Verwandtschaft“ mit Iwan Bunin vermuten, weder in thematischer noch in kompositorischer und stilistischer Hinsicht. Nabokov, der Bunin um knapp ein Vierteljahrhundert überlebt hat, behauptet sich im Vergleich mit seinem Präzeptor als ein Autor von unverwechselbar eigener Statur und Stimme. Um solche Eigenständigkeit zu erreichen, war zweierlei zu leisten – erst einmal musste das übermächtige Vorbild voll absorbiert und produktiv genutzt werden, danach stellte sich die Aufgabe, davon Abstand zu nehmen, es zu verwerfen und schließlich, nach Maßgabe der eigenen kreativen Möglichkeiten, es zu überbieten. Eben dies ist, dem althergebrachten Mythos zufolge, dem genialischen Talus mit der Erfindung der Töpferscheibe gelungen, und eben deshalb wurde er denn auch von seinem Lehrmeister Dädalus als Konkurrent empfunden und zu Tode gebracht.
In der ungewöhnlich intensiven, auch ungewöhnlich langfristigen Wechselbeziehung zwischen Vladimir Nabokov und Iwan Bunin scheint sich die mythologische Urszene künstlerischer Kreativität in sublimierter Form zu wiederholen. Jüngst aufgefundene und nun auch in Buchform veröffentlichte Archivalien – Briefe, Notate, Tagebücher, Werknotizen – lassen erkennen, dass (und wie) hier ein Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgelebt und künstlerisch fruchtbar gemacht wurde.1 Es handelt sich dabei um einen exemplarischen Fall, der nicht bloß als solcher von Interesse ist, sondern auch deshalb, weil er seinen Modellcharakter nach jahrhundertelanger Geltung an der Wende zum 21. Jahrhundert offenkundig eingebüßt hat.
II.
Als Nabokov im Frühjahr 1921 erstmals brieflich mit Bunin Kontakt aufnahm, war dieser 51, er selbst 22 Jahre alt. Mithin waren die beiden durch eine volle Generation voneinander getrennt – sie hätten Vater und Sohn sein können. Beide waren aus Sowjetrussland emigriert, Bunin lebte damals in Paris, Nabokov in Berlin. In seinem ersten und in vielen nachfolgenden Briefen gab sich der Jüngere gegenüber dem Älteren als vorbehaltloser Bewunderer zu erkennen. Von Bunin lagen damals bereits zwei mehrbändige Werkausgaben vor, die ihn – mit Texten wie „Das Dorf“, „Der Herr aus San Francisco“, „Leichter Atem“, „Mitjas Liebe“ – als genuinen Nachfahren beziehungsweise Fortsetzer Iwan Turgenews und Lew Tolstojs auswiesen. Dennoch untermischte Nabokov seine Lobtiraden (die nicht selten zu frontalen Liebeserklärungen gerieten) von Beginn an mit subtiler Ironie, häufig aber auch mit der Bitte um die Begutachtung mitgeschickter Texte oder um deren Weiterempfehlung bei Verlagen und Redaktionen. Bunin reagierte auf die Avancen und Ansprüche des noch gänzlich unbekannten Debütanten eher widerwillig, schwankte zwischen Irritation und Interesse, blieb aber insgesamt zurückhaltend – auf manche Briefe (und bald auch auf zugesandte Bücher) antwortete er, falls überhaupt, auffallend kurz und formell.
Erst als Vladimir Nabokov um 1930 mit seinen Romanen und Erzählungen, besonders mit Lushins Verteidigung und Tschorbs Rückkehr, bei Kritik und Publikum als Jungautor zunehmend Anerkennung fand und gleich auch als coming man der russischen Exilliteratur gefeiert wurde, begann Bunin genauer hinzusehen, ließ sich von seiner Frau gelegentlich aus Nabokovs Neuerscheinungen vorlesen, erkannte – bei vielen Vorbehalten – deren Qualität, konnte sich aber mit dem frischen Ruhm des nachrückenden Kollegen offenkundig nicht abfinden. Dass Nabokov weiterhin unter seinem Einfluss stand, war klar ersichtlich und erwies sich am deutlichsten in dessen Beschreibungskunst, die vorzugsweise mit kühn instrumentierten Kaskaden von Eigenschaftswörtern arbeitete. Aus Bunins privaten, von verschiedener Seite bezeugten Kommentaren spricht der Stolz des Lehrers auf den von ihm geprägten Schüler ebenso wie die Besorgnis, dieser könnte ihn schon bald an Fertigkeit und Erfolg übertreffen.
Die Korrespondenz der beiden Autoren, die einander nun regelmäßig ihre Publikationen mit überschwänglichen Widmungen zukommen ließen, wandelte sich zu einer wechselseitigen Laudatio, in der Bewunderung, Verehrung, Dankbarkeit wieder und wieder bestätigt wurden, wobei freilich zunehmend auch falsche Töne aufkamen: Je höher das kollegiale Lob angestimmt war, desto deutlicher schwang darin verkapptes Selbstlob mit. Bunin hielt sich nach eigenem (späterem) Bekunden für Nabokovs literarischen „Taufpaten“, der „Täufling“ wiederum sah sich eher in der Rolle des Musterschülers, dessen Ambition darin bestand, mit dem Lehrer über kurz oder lang gleichzuziehen.
Nach dem Erscheinen von Bunins Ausgewählten Gedichten (1929) glaubte Nabokov dem Autor versichern zu müssen, es handle sich dabei „natürlich um das Herrlichste, was von der russischen Muse in den vergangenen dreißig Jahren geschaffen worden“ sei – eine ziemlich wohlfeile Einschätzung, bei der vorab der verräterische Ausdruck „natürlich“ als Sarkasmus zu verstehen ist, weiß man doch, wie sehr Nabokov von seinem eigenen Dichtertum überzeugt war und wie arg ihn seine Verkennung als Lyriker kränkte. Auch eine unterschwellig ironische Widmung Nabokovs „an Iwan Bunin, den grandiosen Meister, von seinem eifrigen Schüler“ gehört in diesen zeitlichen Zusammenhang. Noch so gern hat der Adressat diese prekäre Widmung für bare Münze genommen – er las als Huldigung, was als subtiler Hohn gemeint war, ohne zu begreifen, dass ihm der „Schüler“ hier zum ersten Mal den „Meister“ zeigte.
Iwan Bunin reagierte (in privatem Kreis) auf Nabokovs neue, weithin bewunderte Prosa mit ambivalenten Wortmeldungen. Tschorbs Rückkehr, 1930 in Berlin erschienen, missfiel ihm offenbar allein schon wegen des „sehr schlechten Titels“, er fand darin aber doch auch gelungene, sogar „sehr gute“ Passagen, die er indes für übertrieben „grausam und erbarmungslos“ hielt. Nach den Aufzeichnungen seiner Frau warf Bunin seinem „Schüler“ vor, ein seelenloser, wiewohl scharfsinniger „Zauberkünstler“ zu sein, der sich mit lauter „Nichtigkeiten“ abgebe und „fast wie ein Ausländer über die Russen“ schreibe. Die Gesprächsnotiz endet mit dem Verdikt, Nabokov sei noch weit von Bunin entfernt und verfüge weder „über dessen Intonation noch gar über dessen Beseeltheit“.
Wenn Iwan Bunin in seinem jungen russischen Kollegen so etwas wie einen „Ausländer“ zu erkennen glaubte, hat das verschiedene, durchaus ernstzunehmende Gründe, die für ihn nicht nur literarisch, sondern auch persönlich von Belang waren. Dass er, der dem russischen Provinzadel entstammte und während Jahrzehnten auf dem Land und in Kleinstädten verbracht hatte, den urbanen, liberal erzogenen und kosmopolitisch veranlagten Nabokov stets als einen „Fremden“ wahrnahm, ist nachvollziehbar. Die gefühlte Fremdheit war aber nicht nur durch den starken Kontrast zwischen ländlicher und großstädtischer Lebenserfahrung bedingt, sondern ebenso – und womöglich noch mehr – durch charakterliche und bildungsmäßige Unterschiede. Politisch, weltanschaulich, auch künstlerisch war Bunin, der seine Kompetenzen vorwiegend im Selbststudium erworben hatte, ein konservativer, wenig flexibler, betont intoleranter Geist, während sich der vielseitig begabte und exzellent ausgebildete Nabokov mit weltmännischer, zugleich spielerischer Eleganz in jeder Umgebung erfolgreich behauptete.
Der alternde Meister beneidete seinen jugendlichen Adepten um „das großartige Glück, in vier Staaten wie zu Hause zu sein“. In vier Staaten – das hieß auch: in vier Sprachen; denn außer seiner Muttersprache Russisch beherrschte Nabokov Englisch, Französisch, Deutsch in Wort und Schrift, während sich Bunin nicht einmal in der Sprache seiner Wahlheimat frei zu artikulieren vermochte. Auch alle andern Disziplinen, in denen Nabokov brillierte (Schach, Tennis, Fechten, Boxen, dazu Insektenkunde), waren ihm verschlossen. Diese Defizite machten es ihm schwer, seinem „eifrigen Schüler“ vorurteilsfrei zu begegnen und ihn neidlos auf seinem Weg zur eigenen, unabhängigen Meisterschaft zu begleiten. Dies mag erstaunen, vielleicht auch enttäuschen bei einem Autor, der seinem vorgerückten Alter zum Trotz weiterhin in kurzer Folge hochrangige Prosa vorlegte, darunter den autobiografischen Roman Das Leben Arsenjews (1930), der als verspäteter Klassiker realistischer Erzählkunst gelten kann, darüber hinaus aber auch als impulsgebendes Vorbild für Vladimir Nabokovs nachmalige Memoiren (1951; 1966), die man heute unter dem Titel Erinnerung, sprich kennt. Lehrer und Schüler rangen nun wohl gleichauf, doch nach wie vor kaschierten sie ihren Konkurrenzkampf mit gespielter Kollegialität.
Erst als Bunin 1933 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet und damit definitiv zum „Weltautor“ wurde, gewann er gegenüber Nabokov wieder die Oberhand. Der Jüngere bekräftigte gegenüber dem Älteren seine Sympathie und seinen Respekt, was ihn einiges an Selbstüberwindung kostete, ihn aber nicht daran hinderte, Bunins Autorität wie auch seine Person in literarischen Texten immer häufiger, wiewohl sehr diskret zu attackieren. Von manchen Zeitzeugen wird bestätigt, dass sich die beiden in keiner Weise leiden konnten; dass Bunin seinen nun offenkundigen Antagonisten für einen seelenlosen Snob, einen langweiligen Belletristen, sogar für einen „Dummkopf“ hielt, während ihn Nabokov hinter vorgehaltener Hand als „eine alte ausgemergelte Schildkröte“ verspottete.
Nabokov stand vor einem Dilemma: Als Nobelpreisträger konnte ihm sein „Taufpate“ noch weit nützlicher sein als zuvor. Allein deshalb bemühte er sich weiterhin nach Kräften um Bunins Goodwill, zollte ihm privat wie öffentlich hohen Respekt; doch um seine Eigenständigkeit zu beweisen, musste er, der Schüler, entschieden aus dem Schatten des Lehrers treten und sich künstlerisch von ihm distanzieren. Das ambivalente Verhältnis zwischen den beiden Erfolgsautoren wurde somit zu einem literarisch wie menschlich äußerst schwierigen Balanceakt, der erst nach Vladimir Nabokovs Übersiedelung via Frankreich in die USA (1940) ein Ende fand.
III.
Ein vorläufiges Ende – denn die Auseinandersetzung schwelte auch dann noch weiter, als sich Nabokov mit seinen „amerikanischen“ Romanen (von Das wahre Leben des Sebastian Knight, 1941, bis hin zu Lolita, 1958) längst etabliert hatte, offenbar aber noch immer nicht ganz unabhängig von seinem ehemaligen Vorbild war. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass er zwar mit dem Buninschen lyrischen Realismus klar gebrochen hatte, von der russischen Kritik aber immer mal wieder als „Bunin-Epigone“ rubriziert wurde.
Iwan Bunin selbst blieb trotz schwerer Krankheit und materieller Not bis ins hohe Alter produktiv. Dass er seine späte, formal wie thematisch auf mittlerem Niveau stagnierende Prosa (Dunkle Alleen, 1943; 1946) zu einem großen Teil in New York veröffentlichte, gewissermaßen also unter den Augen seines „eifrigen Schülers“, dürfte als bewusste Provokation gemeint gewesen sein, konnte als solche aber nicht mehr wirksam werden, da sich Nabokov inzwischen markant von ihm abgesetzt hatte und ihn an Originalität, Vielseitigkeit und Kunstfertigkeit bei weitem übertraf.
Obwohl Bunin für Nabokov nun kein ernsthafter Konkurrent mehr sein konnte, dauerte die langjährige latente Rivalität fort und verschärfte sich gar zum skandalösen Eklat, als Nabokov 1950 den Vorsitz und die Festrede beim Bankett zu Iwan Bunins 80. Geburtstag in New York ablehnte. Auch eine Anfrage der New York Times zur Besprechung von Bunins Erinnerungen (englische Ausgabe) beschied Nabokov damals negativ mit dem zynischen Hinweis, er wolle dem „sehr alten Herrn“ einen Verriss ersparen. Der Jubilar muss die Absagen wie ein Attentat empfunden haben und fühlte sich als selbsternannter „Taufpate“ seines Meisterschülers, mit dem ihn noch immer eine sture Hassliebe verband, zutiefst verletzt.
Als ein Jahr danach Nabokovs erster Memoirenband erschien (Andere Ufer, 1951), hätte dies für Bunin insofern eine Genugtuung sein können, als sein Einfluss auf den viel jüngeren Kollegen noch einmal sichtlich zum Tragen kam – sein Leben Arsenjews wie auch Dunkle Alleen hatten hier unübersehbare Spuren hinterlassen. Iwan Bunin war dann aber doch eher ungehalten über das „verluderte Büchlein“, in dem Nabokov auch einige Reminiszenzen an ihn festhielt – samt und sonders, so heißt es dazu in Bunins Tagebuch, „eine primitive und törichte Lüge“.
Nabokov seinerseits kommentierte an einer aufschlussreichen, bisher kaum beachteten Stelle (in der russischen Fassung von Andere Ufer) sein langjähriges Verhältnis zu Bunin und dessen stetiges Schwanken zwischen Jüngerschaft und Rivalität, Vertraulichkeit und Skepsis wie folgt: „Zwischen Bunin und mir ergab sich eine ziemlich lachhafte und ziemlich lästige Manier, einander zu reizen, etwas, das ich heute bedaure, da ich ihn im fernen Frankreich wohl nicht mehr werde aufsuchen können.“
Tatsächlich ist Nabokov nie wieder mit Bunin zusammengetroffen – dieser starb im November 1953, völlig verarmt, vereinsamt und auch schon ein wenig vergessen, in Paris. Für Nabokov spielte er in der Folge keine nennenswerte Rolle mehr – weder in seiner umfänglichen Korrespondenz noch in seinen Literaturvorlesungen und Interviews findet sich eine adäquate Würdigung des einstigen „Lehrers“; sehr wohl aber trifft man in diversen Zusammenhängen auf parodistische und polemische Seitenhiebe, mit denen sich der erfolgreiche „Schüler“ wieder und wieder vom einst bewunderten „Lehrer“ absetzt, um seine Selbstständigkeit und Überlegenheit zu demonstrieren. Nabokov war sich dabei nicht zu schade, kleinliche Stilkritik zu üben und Bunins „brokatene Prosa“, an der er sich zuvor während Jahrzehnten abgearbeitet hatte, zu bekritteln.
Von Maxim Shrayer stammt die glaubwürdige Hypothese, wonach Nabokov in seinem späten Roman Ada (1969) seinen Altmeister noch einmal unter dem Kunstnamen Van Veen auftreten lasse – der Name sei als partielles Anagramm zu Iwan Bunin zu lesen, der im übrigen dem selben Jahrgang angehört wie der verächtliche Protagonist des Erzählwerks. Van Veen vertrete eben jenes provinzielle, kranke und unproduktive Russland, das bei Bunin so breiten Raum einnehme und mit so viel Nostalgie bedacht werde. Fazit: „Ada war Nabokovs letzte Attacke auf Bunin.“ – Die Tatsache, dass sich Vladimir Nabokov über Bunins Tod hinaus bemüßigt fühlte, immer noch einmal mit ihm abzurechnen, bezeugt die Problematik und Komplexität dieses literarischen Generationenkonflikts, der als moderne Variante des antiken Schöpfungsdramas mit Dädalus und Talus aufgefasst werden kann – eine Variante, bei der allerdings der „Schüler“ gegenüber dem „Lehrer“, der Nachfolger gegenüber dem Vorgänger die Oberhand gewinnt.
Der Vergleich braucht nicht strapaziert zu werden. Auch wenn da und dort Abweichungen oder Widersprüche zu erkennen sind, bleibt doch jedenfalls die bemerkenswerte Tatsache, dass der „schöpferische“ (künstlerische, literarische) Prozess über viele Epochen hinweg primär als Krise und Konflikt ausgetragen und auf diese Weise auch durchgesetzt wurde. Ebenso bemerkenswert ist jedoch, dass man die schöpferische Evolution im Rahmen individueller Werkbiografien wie auch epochaler Stilformationen trotzdem weithin als einen linearen, progressiv verlaufenden Vorgang aufgefasst hat – Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Technikgeschichte, Wissenschaftsgeschichte waren geprägt vom Konzept des Fortschritts, von der Vorstellung also, dass sich Literaturen, Künste, Techniken, Wissenschaften mehr oder minder stetig voranentwickeln, hin zu einer höheren Form-, Sinn- und Funktionsstufe. Diese Vorstellung korrespondiert mit dem, was man als Generationenfolge und Traditionsbildung kannte: Väter, die in ihrem Geist und Interesse Söhne heranzogen, von denen sie erwarten durften, dass sie das Erbe übernahmen, es durch eigene Leistung mehrten, um es danach wiederum ihren Nachfahren zu überantworten.
IV.
Schriftsteller- und Künstlergenerationen bilden noch heute das Grundgerüst vieler literatur- oder kunstgeschichtlicher Übersichtsdarstellungen, obwohl diese harmonisierende Präsentationsweise schon vor hundert Jahren ihre Geltung verloren hat. Jurij Tynjanow, ein Wortführer des russischen Formalismus, machte 1924 auf das allzu oft übersehene, vielleicht auch verdrängte Faktum aufmerksam, dass gerade die stärksten Autoren „nur darum ihre Vorläufer beerben konnten, weil sie deren Stil und Gattungen eliminierten. Man übersah, dass jede neue Erscheinung eine alte ablöst und dass jeder Ablösungsvorgang höchst kompliziert verläuft. Man übersah, dass von einer kontinuierlichen Abfolge nur dort die Rede sein kann, wo es sich um Schulen und Epigonen handelt, nicht aber im Rahmen der literarischen Evolution, deren Prinzip Kampf und Ablösung sind.“
Die inzwischen „klassisch“ genannte Moderne vollzog zwischen 1910 und 1930 als international aufgestellte Avantgarde mit einer Vielzahl von sogenannten „Kunstismen“ (Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus usw.) einen radikalen Generationenwechsel, der im damals gängigen Thema des Vatermords und allgemein in der Forderung nach einem großen Epochenbruch seinen zeitgemäßen Ausdruck fand. Die Ablösung „dekadenter“ Kunst- und Lebensformen durch einen neuen Primitivismus, wie er namentlich von den Kubisten, Expressionisten, Dadaisten, aber auch von den italienischen und russischen Futuristen praktiziert wurde, ist beispielhaft für das neue Verständnis künstlerischen Fortschritts – der Traditionsbruch als solcher sollte zur künftigen Tradition werden.
Mit diesem Postulat setzten sich die rebellischen „Söhne“ über den Nachlass ihrer „Väter“ hinweg und machten sich den künstlerischen Fortschritt zur eigenen, vom „Erbe“ unabhängigen Aufgabe. Dass aber der permanente Traditionsbruch keine neue Tradition initiierte, dafür umso mehr kurzlebige „Kunstismen“ hervorbrachte, war die unausweichliche Folge davon und verhinderte während eines halben Jahrhunderts die Herausbildung dominanter Epochenstile – mit der einen Ausnahme des „sozialistischen Realismus“, der von Stalin in den frühen 1930er-Jahren offiziell dekretiert wurde, um den „großen Bruch“ der europäischen Kunstrevolution rückgängig zu machen und unmittelbar an die realistische Tradition des 19. Jahrhunderts, mithin an das Erbe der „Väter“ anzuschließen. Tatsächlich hat der „sozialistische Realismus“, zumindest in der UdSSR, Epoche gemacht, doch die Rückkoppelung mit den Altvordern realistischer Erzählkunst konnte nicht verhindern, dass er nach der Wende von 1989/1991 rasch an Bedeutung verlor und nach jahrzehntelanger Vorherrschaft weitgehend in Vergessenheit geriet.
Das klanglose Ende des „sozialistischen Realismus“ als letzte in sich kohärente Literaturepoche ging einher mit der hohen Zeit der Postmoderne, die jegliche künstlerische Kohärenz zu Gunsten allseitiger Offenheit und geradezu programmatischer Beliebigkeit aufgab. Von einer genealogischen oder, in allgemeinerem Verständnis, einer organischen Literaturentwicklung kann seither ebenso wenig die Rede sein wie von einem Epochen- oder Personalstil. Gefragt sind statt dessen kurzfristige Trends, einprägsame Hypes, punktuelle Sensationen, saisonale Erfolge. Die Backlist, einst Erkennungsmerkmal und Leistungsausweis starker Verleger, spielt keine Rolle mehr, steht eher für eine Altlast denn für einen produktiven Fundus. Tradition wie Fortschritt haben ihre begriffliche Relevanz verloren und taugen auch als Qualitätskriterien nicht mehr. Generationenkonflikte, symbolische „Vatermorde“, die öffentliche Dekonstruktion von Vorbildern und andere Weisen der Selbstbehauptung sind endgültig obsolet geworden. Die literarische Samenbank, so könnte man sagen, ersetzt die individuell geprägte Vaterschaft.
Im zeitgenössischen Literaturbetrieb, der vorrangig von ökonomischen und medialen Kriterien bestimmt ist, gibt es weder Platz noch Grund für individuelle künstlerische Auseinandersetzungen, wie Nabokov und Bunin sie mit hohem persönlichem und auch künstlerischem Einsatz bestritten haben. Kreativität, einst als „Kampf“ und „Ablösung“ und „Selbstbehauptung“ praktiziert, ist zur Bastelei geworden. Statt sich auf einzelne Vorbilder einzulassen, von ihnen zu lernen und sie später – im Interesse eigenständiger Autorschaft – von sich zu weisen oder zu verleugnen, werden heute nebeneinander die unterschiedlichsten Quellen genutzt. Die Weltliteratur ist der synkretistische Supermarkt, auf dem junge Autoren sich beschaffen, was ihnen gefällt und nützlich erscheint. Die so erstandenen (oder zufällig vorgefundenen) Versatzstücke werden dann nach Maßgabe von Literaturinstituten, Workshops für Creative Writing, Verlagslektoraten, Schreibseminaren und Schreibwettbewerben synthetisiert und markttauglich gemacht. Die Urszene schöpferischer Tätigkeit – ein oftmals mörderisch ausgetragener und tödlich endender Akt – erweist sich damit als ein realitätsferner Mythos und verliert die Verbindlichkeit, die ihm über viele Jahrhunderte hin zukam.
Anmerkung
1) Der US-amerikanische Russist Maxim Shrayer hat seine Archivstudien zu Bunin und Nabokov neuerdings in einem materialreichen, kundig kommentierten Reader als „Geschichte einer Rivalität“ zusammengefasst (russisch beim Verlag Alpina-non-Fiction, Moskau 2014).