Als Alexandru Bulucz (* 1987) zuerst beginnt deutsche Wörter zu sprechen, sind die Karten nicht zu seinem Vorteil gemischt, hat er kein Ass im Ärmel. Er ist 13 Jahre alt. Seine Mutter hatte beschlossen, den Vater zu verlassen und auch Rumänien den Rücken zu kehren. Die Kinder bleiben zunächst in Rumänien, dann kommen die Töchter nach und zum Schluss wird der kleine Alexandru alleine in den Bus nach Deutschland gesetzt.
Sie wohnen im fränkischen Aschaffenburg. Der junge Alexandru jedoch rebelliert gegen diesen Umsturz seiner Kindheit: Er interessiert sich nicht für das neue Leben, das die Mutter sucht. Bald äußert er den Wunsch, selbst fortziehen zu wollen, das neue Haus zu verlassen, und geht in ein Internat. Seine Würfel werden lange rollen, bis sie fallen, denn erst auf sich allein gestellt eignet er sich die neue Sprache an, meistert sie virtuos, sodass bereits seine frühesten Gedichte in der Frankfurter Zeitschrift Otium zahlreiche Themen und Motive mit einer Wucht zum Ausdruck bringen, die immer jenen expressiven Willen verraten, der mehr von der Dichtung erwartet, als den nächsten Poesiewettbewerb der Raiffeisenbank zu gewinnen.
Mit ihrer expressiven Wucht wollen Bulucz’ früheste Gedichte eindeutig mehr, als nur den nächsten Poesiewettbewerb der Raiffeisenbank gewinnen.
Alexandru Bulucz erkennt, dass Gedichte ästhetische Erfahrungen erzeugen, die Fäden durch die vertracktesten Labyrinthe ziehen: „Habe wie die Zigeuner / Kupfer geklaut / aus Lastern. Stand an / mit Schrott vor den / Menschen. Es lebe das Bare. / Dafür die Münzen auf Schienen gelegt. / Dachte, die Züge entgleisen, / aber sie fuhren / und fuhren.“
Basketball und Dichtung
Geschult sind diese frühen Poeme nicht nur an Lektüren von etwa Paul Celan, sondern auch an umfangreichen Übersetzungsarbeiten, wie etwa eine Werkauswahl zu dem in Bukarest geborenen Dichter Alexandru Vona (1922–2004) aus dem Rumänischen ins Deutsche bzw. Jean-Luc Nancy aus dem Französischen im Auftrag des Diaphanes Verlags.
Es ist erstaunlich, dass ein Jugendlicher, der um ein Haar professioneller Basketballspieler geworden wäre, noch während seines Studiums an der Goethe Universität (Frankfurt am Main) zum Gesprächspartner von Werner Hamacher (1948–2017) wird, auf den er im Tagesspiegel einen ergreifenden Nachruf verfassen wird. Aber mehr noch: In der Frankfurter Edition Faust begründet Bulucz, kaum die Prüfungen des siebten Semesters hinter sich, eine Interview-Reihe und beginnt mit dieser dialogischen Form zu experimentieren. So entstehen buchstarke Gespräche mit den Philosophen Dieter Henrich, Peter Strasser oder Hans-Jörg Rheinberger, die schnell mehrere Auflagen erreichen und das Denkerische mit dem Privaten mischen, sodass faszinierende Charakterstudien entstehen. Es ist ebendieses geistvolle Gespräch, das vielleicht den sonst so stillen und selbstlosen Dichter Alexandru Bulucz auszeichnet. Und spräche man nicht gerne so oft wie möglich mit jemanden, der mit Ende zwanzig schon mehr gelesen hat als das gesamte Personal gewisser Fakultäten?
Aber bald schon lässt sich eine Signatur und Sinnrichtung seines literarischen Irrlichterns erkennen, denn so sehr er etwa mit Dieter Henrich in München stundenlang über den rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache diskutieren kann oder in Stuttgart mit Robert Spaemann streitet, so sehr umkreist sein Denken immer wieder das entlegene Atoll seiner Kindheit, die – weil entrückt und in nur tausend Splittern erinnert – immer fantastischer scheinende Welt der Herkunft „im Osten, im Westen des Siebenbürgischen / Beckens, der Gebärmutter, Eltern Musiker, Vater Gesang / und Gitarre, Mutter Hausfrau und schrill […] / Erinnerung an wer weiß wie viele wertlose Scheinlöwen / (Lei, Münzen und Scheine) in der Pfütze im Plattenbauhof.“
Vielleicht stellt sich jedoch bei der Arbeit zu einem Sonderband der Zeitschrift Die Wiederholung zu dem rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner die seltsame Einsicht bei Alexandru Bulucz ein, dass die bisherigen literaturgeschichtlichen Traditionslinien aus Rumänien dominiert waren durch Schriftsteller, die während der 1970er- und 1980er-Jahre aus dem Banat emigrierten.
Doch die Geschichte dieses jungen Dichters ist anders als die der sogenannten Bukowinadeutschen, die sich im 18. Jahrhundert in Rumänien niederließen und dort eine deutschsprachige Minderheit bildeten. Autoren wie Herta Müller, Franz Hodjak, Ernest Wichner, Johann Lippet oder Rolf Bossert erzählten eine andere Geschichte, ihre Themen und Fragestellungen unterschieden sich wesentlich von dem Standpunkt, an dem das Schreiben des 1987 geborenen Alexandru Bulucz einsetzt: „Ich lasse dich wieder dorthin vorrücken, von wo aus du / damals nicht weiter vorrücken konntest, wo du damals / standst. Ich frage mich nur, ob die Neigung des Berges / damals dieselbe war wie heute. / […] Andererseits gibt es nichts als Ungeduld. / Gäbe es sie nicht, gäbe es nichts zu sehen. Du kennst / meine Gedanken, ich lasse dich vorrücken. Genauer, ich / lasse dir den Vortritt. Es ist dein Wunsch, alles noch / einmal und vor mir zu sehen. Sähe ich nur nicht, dass du / nichts siehst. Als würdest du den Berg zum ersten Mal …“
Das eben zitierte Gedicht „Gespräch im Gebirg II“ ist an Paul Celans gleichnamiges Gedicht sozusagen als Fortschreibung angelegt; und überhaupt betreibt Bulucz eine subtile Identitätspolitik in seinen Texten, die ganz frei von den wehmütigen und narzisstischen Selbstbestimmungsversuchen vieler anderer europäischer Dichter ist. Überall finden sich bei Bulucz Anspielungen auf oder Zitate von Paul Celan, Eugène Ionesco oder Emil Cioran, überall, wo er kann, bringt er sich als Brückenbauer zu Literaten in Rumänien und Deutschland ein, wie ein umfangreiches Dossier zur zeitgenössischen rumänischen Literatur zeigt, das Bulucz für die Zeitschrift Lichtungen zusammengestellt hat.
Mystisches Magengeschwür
Er hängt nicht in der Vergangenheitsschleife, die großen Teilen der deutschsprachigen Literatur jegliche Offenheit für die Gegenwart verstellt hat. Seine Krisen und Freuden sind ganz heutig, sind ganz bei ihm, doch zugleich nehmen vermeintliche Verdauungsbeschwerden geradezu epistemologische Dimensionen an: „Dieses Magengeschwür ist der Clown / unter den Mystikern, daher plappernd / wie der Tod, barock wie ein Begleitschmerz.“ Oder in dem Gedicht „Reader’s Digest“: „Digestion statt Diegese. Schreiben sei Verdauungsstunde, Darmkontrakt. / Ich nehm die Wette an. Die Selbstverdaung – die Form verdaute sich viel / schwerer als der Inhalt, wagt Goethe, dieser Prahlhans, zu behaupten, wo / er’s reflexiv gebraucht – stell ich erstmal hinten an.“
Gleichwohl sieht Alexandru Bulucz den wirren Gang der Weltgeschichte, gleichwohl ist ihm die seit Shakespeare gültige Verschränkung von kollektiver und privater Historie geläufig. Seine Texte sind intellektuelle Bausteine für eine Welt, die er mit Sehnsucht und Visionskraft antizipiert. Es ist daher kein Wunder, dass sein erster Gedichtband aus sein auf uns (2016) sofort auf der Liste der besten Debüts des Hauses für Poesie (Berlin) landete.
Statussymbol Dacia
Momentan entstehen langzeilige Langgedichte, deren rhythmische Genauigkeit und klangliche Schönheit mühelos die selbstironische, intelligente Stimme dieses Dichters fassen: „Als Statussymbol für alle, die keines mehr brauchten, fuhr uns die Dacia dorthin. / & was waren wir hörig am Kreischquell beim Hirtenrumänisch heiliger Mütter. / Die gaben die Schollenpflicht weiter wie an Scheune & Stall seine Helligkeit Heu. / Am Bächlein klebte Agafia mit Spucke Karpatenstummel zusammen.“
Die Stimme von Alexandru Bulucz ist in der Lage, die alten Ressentiments und die kleinen Ängste der Gegenwart abzulegen, um der Dichtung neue Resonanzräume zu öffnen: Er beginnt mit Kunst, faltet darin das Leben ein und endet mit Kunst.