Der Tod von Karl Lagerfeld ist nicht nur aus Sicht seiner weißflauschigen Katze Choupette ein Verlust, er gibt nicht nur im Umfeld von Haute Couture und Bekleidungsindustrie Anlass zur Trauer, er ist auch für die Welt der Literatur ein Abgang, der noch zu bedauern sein wird. Zum einen galt Karl Lagerfeld als ein Exemplar jener angeblich im Aussterben begriffenen Spezies, die noch Bücher liest und kauft: Laut eigenen Angaben besteht die Bibliothek, die er nun hinterlässt, aus nicht weniger als 300.000 Titeln. Zum anderen war der Schneidermeister selbst nie um eine schnelle Pointe verlegen, Niederschriften seiner Interviews lesen sich wie eine Aphorismensammlung, immer trocken formuliert und ohne gefühlsduseliges Tamtam. Nicht selten parierte Lagerfeld allzu aufgeregt-alerte Fragen seiner Interviewpartner mit der kühl-abwehrenden Bemerkung, man solle oder müsse es nicht übertreiben. Wo man vielleicht dazu neigen mag, unserer Zeit einen gewissen Hang zum hysterischen Alarmismus zuzuschreiben, hallen die Worte des ansonsten so kapriziösen Modeschöpfers mit gepudertem Zopf nach als der ruhige Klang einer letzten Stimme der Vernunft. Nun ist auch sie, wie man so sagt, für immer verstummt, gäbe es nicht Hoffnung auf eine bereits geregelte Nachfolge.
Die geschäftstüchtige Perserkatze, die unter anderem den Instagram-Account „choupettesdiary“ betreibt, soll Lagerfelds Milliarden erben, so spekulieren die schmierigsten unter den Revolverblättern, und wenn nicht Choupette höchstselbst, dann eines der zirka vierjährigen Patenkinder Lagerfelds, denen die kleinen Maßanzüge allesamt so gut stehen. In den sogenannten sozialen Medien und Netzwerken wurde sein Tod betrauert, wie das immer vonstatten geht, wenn der Exitus einer öffentlichen Person publik geworden ist. Ein Foto wird geteilt samt Titelei, meist heißt es dann: R.I.P. – Rest in peace, requiescat in pace. Ruhe in Frieden, plärrt es aus dem Internet, als wäre ausgerechnet diese stinkende Müllhalde der rechte Ort für Grabinschriften und private Traueranzeigen. Als wäre jeder User ein Angehöriger, ein Totengräber, ein schmeichelnder Leichenfledderer, als betriebe jede dusselige Quasselstrippe ihre eigene Tageszeitung, in der alles verlautbart werden muss, denn jeder ist zum Sender geworden, nur die Empfänger bleiben aus, stinken ab, sterben weg. Manchmal wird das alles auch in persönlicher Anrede formuliert, als würde der Verstorbene kurz vor dem nun wirklich definitiven Abgang noch einmal alle Accounts checken: „Du warst für mich –, ich erinnere mich an den Tag, an dem du –, du wirst fehlen.“ Die einen trauern, die anderen trollen, und so fehlen auch die üblichen kritisch-verschnarchten Gegenstimmen niemals, die unter einer solchen Traueranzeige auf Facebook dann pflichtschuldig festhalten, der Verstorbene habe leider nie darauf verzichtet, Pelz für seine Kleiderentwürfe zu verwenden. De mortuis nihil nisi bene!, ruft darauf der nächste, nur drückt er sich anders aus. Man möchte ihnen allen ein wärmendes Pudel- oder Katzenfell um die Schultern legen, um den Schmerz ihrer Einsamkeit zu lindern.
Auf ARTE wird aus diesem Anlass nun die eigenproduzierte fünfteilige Dokureihe Im Hause Chanel, im französischen Original Signé Chanel, ausgestrahlt, die auch auf Youtube archiviert ist. Der Dokumentarfilmer Loïc Prigent hat im Jahr 2005 mit seiner wendigen (Hand-)Kamera dem Modeschöpfer beim Zeichnen über die Schulter geschaut und den Näherinnen auf die Finger beim Zuschneiden, Abmessen, Glattstreichen, Markieren, Endeln, Fädeln und so wei-ter. Dreitausend Arbeitsstunden fließen in eines dieser aufwändigen Abendkleider, heißt es dazu, und man kann seine Fertigung von den ersten Entwürfen bis zur pünktlichen Auslieferung nun filmisch mitverfolgen. Lagerfeld zeichnet mit der Hand, er bespricht die Skizzen mit seinem Team, die Näherinnen stehen später beisammen in ihrer Werkstatt und bemühen sich, seine schriftlichen Anmerkungen am Rand zu entziffern. Die Suggestion des Bildausschnitts und der wiedergegebenen Dialoge lautet: Du bist Teil des Prozesses. Die Näherinnen kichern und tratschen, huch, gleich ist der Meister wieder im Haus, und er kennt alle Vornamen und weiß zu jeder etwas zu sagen. Der herzensgute Schuster kommt vorbei, seine Prototypen werden noch einmal modifiziert, der Leisten benötigt einen längeren Spitz am Zeh vorne und der Schuh selbst einen anderen Absatz. Der Schuster läuft hin und her zwischen den Werkstätten von Chanel und seiner Manufaktur.
Lagerfeld ist manchmal stundenlang für seine Mitarbeiterin am Telefon nicht zu erreichen, er reist an und rauscht ab, er ist gegen diese Location und für jenes Venue. Aber wenn er zeichnet, dann zeichnet er. Voll Energie, dann auch wieder voll Wertschätzung für seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, dabei stets schnell, klar und auf den Punkt. Seine Ruhe hat er sich jetzt wirklich verdient, und ein bisschen Frieden auch in einem Himmel aus Süßwasserperlen und Bouretteseidenstoff.
Man muss es nicht übertreiben! Diese Kolumne ist seit dem Jahr 2015 dem Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet.