Judasweg

Von Andrea Drumbl. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XLI

Online seit: 16. November 2021
Andrea Drumbl © Evamaria Giritzer
Andrea Drumbl. Foto: Evamaria Giritzer

Es war die Zeit der Honigmelonen und der leichten Kleidung, die Zeit des aufkommenden Sommers, und es war die Knabenhand, von der Elke träumte, und sein Mund, den sie in ihrer Vorstellung sich bewegen spürte, sprechen hörte. Den Kuss, der daraufhin unweigerlich folgen musste, weil er in diesen Filmen, die Erwachsene schauten, unweigerlich folgte, stellte sich Elke unangenehm vor, Lippen auf Lippen und so nah beieinander, als würde man zusammenkleben. Elke hatte noch nie jemanden auf den Mund geküsst, und sie würde es auch nie tun, lieber wollte sie sterben. Die Mädchen aus ihrer Klasse sagten, dass einem Barthaare wachsen würden, wenn man einen Jungen auf den Mund küsse. Elke mochte keine Bärte, schon gar nicht an Frauen. Die Bäckerstochter hatte Barthaare im Gesicht, die hatte bestimmt schon viele Jungen auf den Mund geküsst, und das war nun ihre Strafe für die vielen Küsse, diese Haare im Gesicht, die eigentlich nur Männer hatten. Elke mochte nicht küssen, niemanden, aber sie mochte es, wenn sich ihre Brustwarzen unter ihren Fingern aufrichteten und sie ein Ziehen an dieser Stelle spürte, die sie sich nicht zu berühren traute.

Wenn Elke alleine im Schulhof stand, träumte sie von der Hand des Jungen auf ihrer Brust. Sie träumte nahezu immer von diesem Jungen und seiner Hand auf ihrer Brust, auch an diesem Tag. Sie stand alleine in der Nähe des großen Baumes, der seinen Schatten auf die spielenden Kinder unter ihm warf. Meistens stand sie dort, eher abseits als mittendrin und allein, weil sie es nicht aushielt, wie die anderen Mädchen redeten. Nicht nur, dass diese so laut waren, wenn sie redeten oder kicherten, es waren auch diese ganzen Gerüche, die sich unangenehm vermischten und die Elke deshalb nicht mochte.
Es war wie in einem ihrer Träume, denn der Junge aus der Schule stand plötzlich bei ihr, nur drei Schritte von ihr entfernt und auch alleine. Erst jetzt sah sie, wie groß er schon war. In ihren Träumen fragte immer der Junge, ob er ihre Brüste streicheln darf, worauf sie ihre Bluse auszog und seine Finger über die kleinen Hügel fahren spürte. Aber jetzt stand der Junge nur da und sagte nichts, schaute sie nicht einmal an, stand einfach nur da und stützte sich auf sein rotes Fahrrad. Elke wusste nicht, was sie tun sollte, sicher liebte er sie sehr, sonst wäre er ja nicht zu ihr gekommen, hätte sich nicht zu ihr gestellt, und weil Elke den Jungen auch liebte, nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte ihn, ob er ihre Brüste streicheln möchte. Der Junge lachte nicht, als sie ihn das fragte, der Junge beachtete sie nicht einmal, schaute weiter in die andere Richtung, dann richtete er sich langsam auf. Elke wollte ihn gerade noch einmal fragen, lauter jetzt, damit er sie auch wirklich hören konnte, doch kam ihr der Junge zuvor.
– Hinter der Schule, sagte er leise und mit einer sehr tiefen Stimme.
– Im Wald hinter der Schule, gleich nach dem Unterricht. Er würde dort auf sie warten.
In Elkes Träumen war der Wald noch nie vorgekommen, und seine Stimme war auch eine andere, hellere, und doch freute sich Elke auf den Wald und auf den Jungen mit seinen schönen Händen, Knabenhänden, von denen sie schon so viel geträumt hatte.

Der Junge stand dort im Wald, angelehnt an einen Baum mit überkreuzten Beinen. Sie solle sich ausziehen, sagte er, als er Elke kommen sah. Jetzt flüsterte er nicht mehr, seine Stimme war laut und noch tiefer als im Pausenhof. Er wirkte nervös, und Elke fühlte sich plötzlich unwohl. Warum flüsterte er nicht wie in ihren Träumen, und warum sagte er ihr keine schönen Dinge, dass er sie liebte und sie heiraten möchte zum Beispiel, so wie es die Prinzen in den Märchen immer taten. Elke überlegte, ob sie davonlaufen sollte. Was, wenn er sie küssen wollte? An das hatte sie gar nicht gedacht. Er durfte sie nicht küssen, das musste sie ihm ja auch noch sagen, denn sie wollte keine Barthaare in ihrem Gesicht. Der Wald war Elke unheimlich, und sie kam sich darin wie ein kleines gehetztes Tier vor, wie ein kleiner Hase, der vom Fuchs gejagt wurde. Sie schaute an dem Jungen vorbei auf die Bäume, die sie zu erdrücken schienen. Erst jetzt bemerkte sie die andere Gestalt hinterm Gebüsch, einen Mann, groß und alt, mit einem Bart im Gesicht.

Der geschändete Leichnam des jungen Mädchens wurde erst viel später von einem Polizeihund unter einem Reisighaufen gefunden. Die Polizei rief die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Alle Informationen zu diesem Mordfall wurden vertraulich unter der Notrufnummer oder direkt bei der Polizei behandelt. Die Ermittlungen blieben jedoch erfolglos. Irgendwann wurde der Mordfall als unaufgeklärt zu den Akten gelegt.

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Andrea Drumbl, geboren in Lienz/Osttirol, aufgewachsen in Kärnten, seit 2013 mit ihrem Mann und ihren beiden gemeinsamen Kindern in Linz/Oberösterreich. Verschiedene Auszeichnungen und Literaturstipendien, darunter: Kärntner Lyrikpreis 2010, Kunstförderstipendium der Stadt Linz 2017, Projektstipendium für Literatur 2018/19, Theodor-Körner-Preis 2019. Studium der Deutschen Philologie und der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien mit Abschluss als Mag. phil. Regelmäßige Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien sowie in Ö1. Romane, Edition Atelier: Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön (2013), Narziss und Narzisse (2014), Die Einverleibten (2015).

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.