Das Nadelöhr der Anarchisten oder Die gestohlene Zeit

Von Wilfried Steiner. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXVI

Online seit: 13. August 2021
Wilfried Steiner © Bernhard Holub
Wilfried Steiner. Foto: Bernhard Holub

I

Am Anfang steht gleich ein schiefes Bild. Und doch bin ich es nicht losgeworden. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Doch eher gelangt ein Reicher in das Reich Gottes als drei Anarchisten ins Wittelsbacher Palais. Das Nadelöhr, es steht hier auch für das geringe Ausmaß der Zeit, in der das Wunder wirkmächtig werden durfte, nämlich gerade einmal sechs Tage. Vom 7. bis zum 13. April 1919. Ein kleines Loch in der Zeit also, durch das die drei staatstragenden Anarchisten hindurchgingen, mit diversen unorthodoxen Gefolgsleuten in ihrem Windschatten. Einigen dieser Menschen bin ich hier auf ihren mäandernden Wegen gefolgt, nicht immer im gleichen Tempo und nicht immer die gleiche Strecke lang; mehr einem persönlichen Magnetismus gehorchend, einer subjektiv empfundenen Anziehungskraft der Charaktere – und ohne Anspruch auf Gerechtigkeit, was ihre historische Bedeutung betrifft.

II

„Hier kommt Landauer“, soll er fortwährend gerufen haben, der Volksbeauftragte für Volksaufklärung, „wenn er durch den Palast stolzierte.“ Der Pazifist, Hölderlinliebhaber, Walt-Whitman-Verehrer Gustav Landauer, fast zwei Meter groß, hager, schmales Gesicht mit weißdrahtigem Bart, die Haare wie Farngewächse vom Kopf abstehend – wie gut kann man ihn sich so hochgemut schreitend vorstellen, wenn man einmal Bilder von ihm gesehen, Zeilen von ihm gelesen hat. Doch die Quelle ist nicht ganz zuverlässig: derjenige, der Landauer so beschreibt, ist Korrespondent des Chicago Daily Journal und ebenso berühmt für seinen Erfindungsreichtum wie für seine Zugaben zur Wahrheit. Als Drehbuchverfasser für fast alle Kultregisseure des großen amerikanischen Kinos wird er später zur Hollywood-Legende. Sein Name: Ben Hecht. Seine Zeitung schickte ihn 1919 nach München, um über die ungeheuren Vorfälle zu berichten.
Hecht behauptet, er habe Landauer täglich interviewt. „Jedes bayerische Kind im Alter von zehn Jahren ist dabei, Walt Whitman auswendig zu lernen“, soll der Volksbeauftragte gesagt haben, „das ist der Eckpfeiler meines neuen Erziehungsprogramms.“ Zweifellos gab es auch andere: eine der ersten Amtshandlungen Landauers war die Abschaffung der Prügelstrafe an Schulen.

III

Mr. Hecht war nicht die einzige ungewöhnliche Verbindung Landauers zur glamourösen Welt der Filmstudios. Mike Nichols, Regisseur von Klassikern wie Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Die Reifeprüfung oder Hautnah wurde 1931 als Sohn von Brigitte Landauer geboren. Und diese Frau war die Tochter von Gustav Landauer und seiner zweiten Gattin Hedwig Lachmann.
Eine Liebe, die wie ein Film begann. Als hätte der Großvater einem Interview des Enkels gelauscht, das dieser einhundertneun Jahre später gegeben hatte. „Man muss die Liebe seines Lebens finden!“ – diese Maxime hatte Mike Nichols Nina Rehfeld von der Berliner Zeitung verkündet.
Am 28. Februar 1899, zwanzig Jahre vor dem Ende, begegnete Gustav Landauer in der Berliner Kunstgalerie Keller und Reiner bei einer Veranstaltung mit dem Lyriker Richard Dehmel einer Frau, deren Anblick ihn so gefangennahm, dass er es nicht wagte, sie anzusprechen. Hedwig Lachmann, eine zierliche Gestalt mit blaugleißenden Augen und filigranen, fast durchsichtigen Händen, war offenbar Dehmels Begleiterin. Umringt von Bewunderern, parlierte sie über jedes Thema mit der gleichen Verve und Scharfsichtigkeit, sei es Politik oder Religion, Poesie oder der neueste Stern am Theaterhimmel. Noch in der gleichen Nacht begann Landauer, ihr Briefe zu schreiben. Der erste enthielt eine ungeduldige Botschaft:
Wertes Fräulein, wer so vereinsamt ist, wer sich so nach der Seele der Frau sehnt wie ich, wer eine so innige Zuneigung gefasst hat wie ich zu Ihnen beim ersten Blick in Ihre Augen, der will nicht warten. (…)
Ich bitte Sie herzlich: lassen Sie’s nicht schlimm kommen.
Das Problem war nur: er wusste nicht, wohin er seine Zeilen schicken sollte. In einem Begleittext an Hedwig klagte er:
Im Adressbuch waren Sie nicht zu finden, meine hiesigen Bekannten haben den Kürschner nicht, in den verschiedenen Berliner Cafés, die ich um dessentwillen aufsuchte, liegt es auch nicht auf, und zur Königlichen Bibliothek war’s schon zu spät. Morgen gehe ich dahin, und finde ich Sie im Kürschner nicht, so muss ich’s mit dem Einwohner-Melde-Amt versuchen.
Erst Tage später erfährt er ihre Anschrift – ausgerechnet von Richard Dehmel selbst. Und so erreichen sie Sätze wie dieser:
Ich habe wieder, endlich wieder einen Menschen, für den ich gewachsen sein will.
(1.März).
Tags darauf gesteht er ihr:
Mit einem Wort, wahr gesprochen: ich möchte Sie. Mit Ihnen reden und plaudern, Ihr Auge sehen, mich an ihrer Frische erfreuen, Ihr Freund sein können. Und Ihnen etwas sein können.
Die welt- und sprachgewandte Frau – als Übersetzerin von Alexander Petöfi und Edgar Allan Poe hochgelobt – lässt sich vom Ton der Briefe verzaubern, bleibt aber vorsichtig. Am 14. März kommt es zum ersten Treffen.
Landauer schreibt in der folgenden Nacht:
Was soll ich noch mehr sagen? Ich weiß seit der Stunde, wo ich Sie gesehen habe, daß ich Sie und mich gräulich belogen habe. Ich werde um Ihretwillen alles lassen, ob Sie sich mir neigen oder nicht. Ich wusste bis zu dieser Nacht nicht, wie unreif ich war. Ich bin eine Stufe höher gestiegen. Sie sind mit Leib und Seele mein Schicksal.
Nur langsam nähert sich Hedwig Lachmann dem um vier Jahre jüngeren Mann an, der wegen seiner anarchistischen Positionen meist mit einem Fuß im Gefängnis steht und trotz der Zerrüttung seiner Ehe formal auch noch verheiratet ist. Die patriarchalen Strukturen beider Familien und die gesellschaftlichen Zwänge verhindern zunächst ein gemeinsames Leben. Landauers Zuversicht bleibt jedoch ungebrochen:
Das Wundervolle ist das letzte Glück für mich, das höchste; soll es nicht sein können, dann begehre ich wahrlich keines mehr.
(…)
Ich habe das schöne Gefühl, weil Sie mir so sehr lieb sind, dass auch ich Ihnen tiefes Glück werde bringen können. Wir sind kein Paar, wir sind Pares. Wir sind nicht zwei armselige Hälften, denen nichts als die Leidenschaft gebietet, sich zu vereinigen, und die dann doch immer auseinanderklaffen; wir sind zwei Ebenbürtige, die – so glaube ich – zu einander wollen, um zusammen zu gehen.
(10. Mai)
Zwei Ebenbürtige, in der Tat. Landauer schickt ihr – darin ehrgeizigen Poeten von heute nicht unähnlich – sehr bald eigene Werke. Unverlangt eingesandte Manuskripte, würden es die Verleger in unserer Zeit wohl nennen.
Die Erwiderung Hedwigs ist verschollen, aber der Antwortbrief Gustavs strotzt nur so vor schalkhaften Neckereien. Offenbar hat die Novelle, die er ihr hat zukommen lassen, der Gefährtin nur missmutige Zeilen entlockt.
Landauer reagiert aber nicht beleidigt, sondern in einer Weise aufgekratzt, dass man meinen möchte, jeglicher intellektuelle Austausch mit dieser Frau sei ihm ein Fest:
Und nun komme ich nach Hause, finde Ihren Brief, und der ist so kratzbürstig und unverständig, dass ich jubeln möchte! Denn ich freue mich, dass dieser Widerstreit meiner starken Verehrung vor ihrem gefesteten, runden, in sich geschlossenen Wesen nicht das Mindeste anhaben kann, und meiner treuen Anhänglichkeit – ich zwinge mich, matte Worte zu brauchen – erst recht nicht.
Daraus spricht gleichzeitig eine Hingabe an die geistigen Fähigkeiten seines Gegenübers als auch eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Ein paar Zeilen weiter heißt es:
Nun, halten Sie’s nur nicht für Eitelkeit, wenn ich mich Ihrem Urteil ganz und gar nicht beuge.
Im Folgenden zitiert Landauer Gleichgesinnte, die den fraglichen Texten mehr abgewinnen konnten, unter anderen Fritz Mauthner, und schlägt vor, Richard Dehmel als Schiedsrichter einzusetzen. Aber es muss geheim bleiben: Natürlich wird keiner von beiden ihm über die Veranlassung zu dieser Bitte etwas mitteilen. Einverstanden?
Diese Verspieltheit, die den anderen auf die Schaufel nehmen kann und trotzdem jede kritische Äußerung ernsthaft erörtert, war eine der typischen seelischen Übereinkünfte zwischen den beiden, eine geistige Spielregel, die zu brechen eine Niederlage bedeutet hätte. Am Ende des Briefes hört man Landauer geradezu seufzen:
Uns beiden kann wirklich nichts helfen als unsere Ehe!
(15. Mai)
Doch soweit ist es noch nicht. Im August 1899 muss Landauer eine halbjährige Haft wegen verleumderischer Beleidigung der Obrigkeit im Strafgefängnis Tegel antreten. Aus der Anstalt schreibt er an Hedwig:
… wie ich beglückt bin, dass Sie mir da sind. Wenn ich wieder frei werde, wird es fast gerade ein Jahr her sein, dass all mein Leben an Sie gebunden ist.
Erst viele Monate nach dem Tod beider Väter, im Februar 1901, entscheidet sich Hedwig Lachmann für eine Zukunft mit Gustav Landauer. In den Wäldern um Krumbach schließen die beiden ihr Herzensbündniß, das bis zu Hedwigs Tod andauern sollte. Für Gustav bis zu seinem eigenen.

IV

1902 zieht das Paar nach England, findet eine Wohnung in Bromley, etwa 30 km von London entfernt. Die Nachbarschaft ist schillernd: Peter Kropotkin, Fürst und Anarchist, wohnt ums Eck. Seine Schriften wird Landauer später übersetzen. Zwei Häuser weiter lebt Fernando Tarrida de Mármol, ebenfalls Anarchist, der 1896 Spanien fluchtartig verlassen hatte. Auch mit ihm freunden sich Lachmann und Landauer an. Die illustre Umgebung inspiriert beide; am Ende scheitert das Projekt London am Geld. Im Frühjahr 1902 kehren sie nach Deutschland zurück.
Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratet Landauer Hedwig Lachmann am 18. Mai 1903. Ein reiches gemeinsames Werk entsteht, Übersetzungen von Balzac, Rabindranath Tagore, Sir Tomas Malory. Lachmanns Nachdichtung von Oscar Wildes Salome erscheint 1903. Richard Strauß inspiriert diese Fassung zu seiner gleichnamigen Oper. „Die Melodien rauschten in mir auf!“ schreibt er nach der Lektüre. Am 9. Dezember 1905 wird Salome an der Dresdner Semperoper uraufgeführt.
Im selben Jahr war auch Brigitte geboren worden, die zweite Tochter von Hedwig und Gustav. Die Familie lebt in Hermsdorf, einem Vorort Berlins, in kargen Verhältnissen. Landauer arbeitet vorübergehend in einer Buchhandlung, verlässt jedoch bald die Stelle, da er sie als massive Einschränkung seiner Schriftstellertätigkeit wahrnimmt. Er verdingt sich als Salonredner, was sein Freund Stefan Großmann so kommentiert:
„Landauer, geschaffen zum großen Universitätslehrer, musste die Fülle seines universellen Wissens vor Damen ausschütten, die von Tee zu Tee klapperten und plapperten, wenn er mit Frau und Kindern nicht ganz verhungern wollte.“
Doch die literarische und die politische Arbeit gedeihen. Im Juni 1908 gründet Landauer den Sozialistischen Bund. Dessen Zwölf Artikel schreibt er am 14. Juni nieder. Als Ziel der Bestrebungen nennt Artikel 4 die Anarchie im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit. Drei Jahre später erscheint der viel beachtete Aufruf zum Sozialismus. Auch hier zeigt sich: Landauers Konzept ist föderalistisch – die Anarchisten würden sagen: syndikalistisch – angelegt: an die Stelle des zentralistischen Staates solle ein Gemeinwesen von Gemeinschaften von Gemeinden treten. Von kommunistischen Ideologien ist dieser Entwurf weit entfernt. Der Marxismus ist der Philister, und der Philister kennt nichts Wichtigeres, nichts Großartigeres, nichts, was ihm heiliger ist als die Technik und ihre Fortschritte. Für Landauer hingegen wird der Umschwung nicht von den Philistern und Zeitgenossen und also nicht, was dasselbe heißt, von den gesellschaftlichen Prozessen besorgt, sondern von den Einsamen, Abgesonderten, die eben darum Abgesonderte sind, weil in ihnen Volk und Gemeinschaft wie zu Hause, wie mit ihnen geflüchtet sind.

V

Mike Nichols enthüllt im Interview mit der Berliner Zeitung weitere aufregende Facetten rund um seinen Großvater:
Sein bester Freund entkam, machte seinen Weg in die USA, nach Santa Fe, änderte seinen Namen in B. Traven und schrieb „Der Schatz der Sierra Madre“ – was für eine Akklimatisierung an ein neues Land! Ich glaube, das steht stellvertretend für jene emigrierten deutschen Juden, die Künstler waren und die Vereinigten Staaten geradezu ausmalten, eine ganze Kultur schufen. Es ist eine Kultur wie in „Casablanca“ – alles Flüchtlinge, Flüchtlingsideen, Flüchtlingshumor: „Liebchen, which watch? – Ten watch. – Such much!“
Nun war jener B. Traven, den Nichols als besten Freund Landauers bezeichnet, eine der geheimnisvollsten Figuren der Literaturgeschichte. In der aktuellen Landauer-Biografie von 2020 wird er mit keinem Wort erwähnt. Bis heute ist seine wahre Identität nicht zweifelsfrei geklärt. Wahrscheinlich ist: unter dem Namen Ret Marut war er Herausgeber einer der widerspenstigsten Zeitschriften, die je das Licht der Münchner Pressewelt erblickt hatten. 1917 erschien Der Ziegelbrenner zum ersten Mal, schmal und rot, mit dem Untertitel Kritik an Zuständen und widerwärtigen Zeitgenossen. Da die deutsche Leserschaft alles andere im Sinn hatte, als sich ihre Kriegsverherrlichung durch pazifistische Zwischenrufe madig machen zu lassen, grenzt es an ein Wunder, dass die Publikation die Zensur passieren konnte. Oskar Maria Graf, der 1919 mit der Räterepublik sympathisierte, ohne selbst in Gefahr zu geraten, erzählt dazu eine seiner zahlreichen (und nicht immer belegbaren) Anekdoten. Ret Marut habe der Behörde schlicht erklärt, bei seiner Publikation handle es sich um eine Maurerzeitschrift, die sich mit Problemen und Anliegen der Zunft beschäftige. Erst nach Bewilligung habe der Autor die Texte ausgetauscht. Während also die halbe Welt mit der Effizienz des Tötens beschäftigt war, schickte Ret Marut an ein handverlesenes Publikum eine flammende Anti-Kriegs-Revue, die dem Furor der Fackel von Karl Kraus in nichts nachstand. „Nicht der Staat ist das Wichtigste“, konnte man im Ziegelbrenner lesen, „sondern der Einzelmensch.“ Und: „Gedenkt der blutenden Männer und Söhne!“

VI

Landauer wendet sich schon lange vor 1914 vehement gegen die allgegenwärtige martialische Propaganda. Anfang 1911 veröffentlicht er einen Aufruf zum Generalstreik gegen die Kriegsgefahr. Hält Reden, versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten. Er entwirft ein Flugblatt, das aber vor Drucklegung von den Behörden gestoppt wird. Sein Titel: Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes. Hedwig steht an seiner Seite, teilt seine Überzeugung.
Als der Krieg losbricht, werden auch bis dahin besonnene Geister vom Taumel des Nationalismus erfasst. Selbst der sonst so kritische Richard Dehmel verfällt ihm. Mit 51 Jahren meldet er sich freiwillig zum Militärdienst und lässt sich stolz in Soldatenuniform fotografieren. Hedwig Lachmann beendet daraufhin die Freundschaft. „Das Kriegerideal“, schreibt sie, „ist ein abgelebtes, geistentblößtes, gespenstisches, das in die mythologische Rumpelkammer gehört, nicht in unser schönes, weltfreudiges, liebwarmes Leben.“ Den Kriegshymnen der Kollegen stellt sie ihre Empathie mit den Opfern entgegen:

Preist ihr den Heldenlauf der Sieger, schmückt
Sie mit dem Ruhmeskranz, Euch dran zu weiden –
Ich will indessen, in den Staub gebückt,
Erniedrigung mit den Besiegten leiden.
(…)
Weit lieber doch besiegt sein, als verführt
Von eitlem Glanz, und, wenn auch am Verschmachten,
Und ob man gleich den Fuß im Nacken spürt –
Den Sieger und das Siegerglück verachten!

Nur ganz wenige Zeitgenossen vertreten noch diese Haltung. Auch der langjährige Vertraute Fritz Mauthner hat sich auf die Seite der Patrioten geschlagen. Landauer knüpft Verbindungen zum Bund Neues Vaterland, der bedeutendsten in Deutschland entstandenen Vereinigung zur Völkerverständigung. Ihr Ziel ist es, auf die Beendigung des Krieges hinzuarbeiten. Eines der Gründungsmitglieder lernt Landauer in Berlin kennen: Albert Einstein.
Und ein alter Freund hält unverbrüchlich an seiner pazifistischen Weltanschauung fest: der österreichische Anarchist und Dichter Erich Mühsam. Die Freundschaft wäre beinahe an einem Streit zerbrochen, der sich an einem Lieblingsthema beider Männer entzündet hatte: Die Liebe in befreiten Zeiten. Während Mühsam alle Formen der freien Liebe begrüßte und mit einem homosexuellen Freund quer durch Europa reiste, regte sich in Landauer ein verschütteter altväterlicher Geist und verlieh seinen Schriften zu Ehe und Familie einen Anflug von Prüderie. Für ihn war die selbstgewählte, von gegenseitiger Liebe geprägte heterosexuelle Ehe, der freie Bund fürs Leben, das Maß aller Dinge. Das hätten Mühsam (und andere libertär denkende Menschen in seinem Kreis) wohl mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen, doch Landauer wurde, wenn es um Homosexualität und Promiskuität ging, von einem bigotten Engel geritten und nannte diese Formen der Liebe eine kultur- und würdelose Schweinerei. Seine eigene außereheliche Beziehung mit der Aktivistin Margarethe Faas-Hardegger hatte er bei diesem Urteil allem Anschein nach ausgeblendet.
Trotz allem: die Männer versöhnen sich, auch wenn Mühsam sich eine Zeitlang rar macht.
Eines Tages, so schildert es die Tochter Brigitte, steht ein verwahrloster, „zerlumpter“ Mann vor der Tür des Hauses in Hermsdorf. „Ein Bettler“, vermutet sie. Als Landauer des Mannes ansichtig wird, bricht er in Gelächter aus:
„Aber Brigitte, das ist doch der Mühsam!“

VII

Wollte man jemandem binnen Sekunden vor Augen führen, wer Erich Mühsam war, man könnte ihm eine kleine Zeichnung zeigen. Es ist ein Eintrag in das Gästebuch Artur Kutschers, eines Literatur- und Theaterwissenschaftlers, in dessen Seminaren neben Mühsam auch Frank Wedekind oder Johannes R. Becher gern gesehene Teilnehmer waren.
Nichts als eine kleine Selbstkarikatur. Doch in ihr bündelt sich in ein paar Strichen der Schalk, die Selbstironie und der Witz dieses Mannes, den Oskar Maria Graf beeindruckt so beschrieb:
Der dichte, zerzauste Schnurrbart und die langen Haare erweckten den Eindruck, als sei sein Kopf viel zu groß und zu schwer. Er sprach geschwind, außerordentlich bildhaft, mitunter sehr sarkastisch, und als er gegen die Beteiligung des Arbeiters am Krieg und für die Verweigerung des Militärdienstes sprach, horchte ich auf.
Auch viele Porträts Mühsams zeigen diesen markanten Kopf, das klassische Konterfei eines wilden Intellektuellen mit scharfem Blick hinter dem Zwicker. Doch das kleine Selbstportrait? Nichts als Striche, alle leicht nach rechts geneigt, hingefetzte Schraffierungen, oben die zu Berge stehenden Bleistifthaare, unten der etwas heller zu Boden ragende, ein wenig heller gestrichelte Bleistiftbart. Dazwischen kein Raum für ein Gesicht, nur zwei kleine miteinander verbundene Kreise für die Brille und ein Punkt für den Mund. Die Silhouette des Körpers eine halbe, senkrecht stehende Ellipse, die mit ihrer oberen Krümmung die Schädeldecke bildet. Gezeichnet Erich Mühsam, 22.XI.12. Ein Schelm blickt uns an, keiner, der sich selbst zu ernst nimmt. Einer, der sich als Bänkelsänger im Simplicissimus wohlfühlt, nicht als staatstragender Volksbeauftragter. Seine Gleichgesinnten benennt er schon 1906 in der Fackel: Verbrecher, Landstreicher, Huren und Künstler – das ist die Bohème, die einer neuen Kultur die Wege weist.
Es existiert noch ein zweites Bild, das eine vergleichbare Kraft entfaltet, obwohl es sich von dem oben beschriebenen diametral unterscheidet. Es stammt aus dem Jahr 1904. Auf der linken Bildseite ergießt sich ein Wasserfall von einer Anhöhe ins Tal, die Luft ist dunstig. Ein junger Mensch, Knabe oder Mädchen ist nicht klar erkennbar, hantiert mit einem Stock oder Speer, als wollte er etwas aus dem Wasser fischen oder einen höher gelegenen Ast erreichen. Daneben, mit verschränkten Armen, ein nackter, glatzköpfiger Mann. Rechts von den beiden und weiter im Vordergrund erkennt man einen Stapel Brennholz und darauf etwas, das der obere Teil eines Mühlrads sein könnte. Darauf sitzt, ruhig wie ein Freiheitsengel, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf die Knie gelegt, ein bärtiger Mann. Ebenfalls nackt. Erich Mühsam. Das Foto zeigt ihn in Ascona im Schweizer Tessin, genauer am Monte Verità, einer nach syndikalistischen Prinzipien geformten Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Gegründet hatten die Siedlung die Brüder Gusto und Karl Gräser; bald folgten ihnen namhafte Besucher auf den Berg, über dessen Bewohner immer abenteuerlichere Gerüchte kursierten. Fürst Peter Kropotkin kam auf Besuch – und Otto Gross, der ungestüme, geniale Psychoanalytiker, der die Lehre Freuds mit den Reformideen Fouriers verknüpfte und für ein revolutionäres Matriarchat kämpfte. Allesamt schillernde, den Behörden nicht ganz geheure Gestalten. Während des Krieges fanden dort Wehrdienstverweigerer und Flüchtlinge, Widerstandskämpfer und Bohemièns Unterschlupf, von Hans Arp bis Emmy Hennings, von Hugo Ball bis Ernst Bloch. Das war genau die Umgebung, die für einen wie Mühsam anregend und belebend hätte wirken können. Rasch freundete er sich mit den Brüdern Gräser an, versprach sogar, Karls Schriften herauszugeben. Doch sein unsteter Geist ließ längere Aufenthalte am selben Ort nicht zu; manche sagen auch, die rein vegetarische oder rohe Kost seien nicht ganz nach seinem Geschmack gewesen. Mühsams Wanderschaft führt ihn schließlich mitten hinein in die Münchner Kunstszene. Dort beginnt er eine Liebschaft mit einer der erstaunlichsten Frauen der damaligen Zeit. Franziska Gräfin zu Reventlow hat mit allen Konventionen gebrochen, sich vom reichen Elternhaus losgesagt, propagiert die freie Liebe und fordert für die Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit, sexuelle Emanzipation und die Unabhängigkeit von christlichen Moralvorstellungen. Diese Frau und der feuerköpfige Anarchist: Ein paar Wochen lang waren sie das Traumpaar der Münchner Moderne.
Bei einem verschwörerischen Treffen im Hause des Literaturhistorikers Carl Georg von Maassen lernt Mühsam Zenzl Elfinger kennen und heiratet sie im September 1915. Der Schriftsteller Martin Anderson Nexö beschreibt einen Besuch bei den beiden:
In dem hohen Mietshaus in der Münchner Georgenstraße hausten hoch unter dem Himmel als zwei freie Vögel Erich und Zenzl Mühsam. Ihr Geist war ebenso revolutionär wie seiner.
Auch hier also: zwei Ebenbürtige.

Dieser Text ist ein kurzer Auszug eines Essays, der 2022 im Limbus-Verlag erscheinen wird.

Wilfried Steiner, geb. 1960 in Linz, studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Salzburg. 1990 Promotion zum Dr. phil., 1988-1992 Leiter der Literaturwerkstatt und des Literaturcafés im Salzburger TOI-Haus, 1991/1992 Lehraufträge an der Universität Salzburg, Institut für Germanistik, 1989-1999 künstlerischer Leiter der ARGE Kulturgelände Nonntal, seit 1999 künstlerischer Leiter des Posthofs in Linz. Diverse literarische Publikationen seit 1977 bei u. a. Droschl, Haymon, Insel-Verlag, Deuticke. Träger u.a. des Georg-Trakl-Förderungspreises 1989, des Rauriser Förderungspreises 1994 und Erster Preis der FLORIANA 2016.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.