Über die Frage, wer erzählt

Von Walter Grond. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 64

Online seit: 6. Mai 2022
Walter Grond © Auftragsfoto Sappert
Walter Grond. Foto: Auftragsfoto Sappert

Kürzlich wies mich Priya Basil auf ihren Essay „Gegen mich andenken“ hin, er erschien 2021 in der Schweizer Wochenzeitung. Darin setzt sie sich mit einer verstörenden Entdeckung auseinander, welche die von ihr überaus geschätzte und oft zitierte Philosophin Hannah Arendt betrifft. Als Jüdin und stark wahrgenommene Stimme gegen den Nationalsozialismus aus Deutschland nach Amerika geflohen, hatte Arendt in den 1950er-Jahren als inzwischen US-Bürgerin die Rassentrennung in Schulen gerechtfertigt, in ihrem umfangreichsten Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in rassistischer Sprache über Schwarze geschrieben und sogar die grundsätzliche Unterlegenheit von Afrikanern behauptet, deren Zugehörigkeit zur Natur sie physisch erschreckend und abstoßend mache.

Priya Basil, indisch-britische Schriftstellerin, person of color, in Indien geboren, in Kenia aufgewachsen, heute zwischen Großbritannien und Deutschland hin und her pendelnd, fühlt sich davon umso mehr vor den Kopf gestoßen, als doch Arendts Thesen über Rassismus, Macht und die „Möglichkeiten von Pluralitäten“ in der Politik wesentliche Anstöße für ihr Selbstverständnis als Feministin und politische Aktivistin sind. Sie versucht in ihrem Essay, (mit einem Arendt-Wort) „die Lage in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen“. Dabei lernt sie zu verstehen, dass Arendts Vorurteile gegenüber Schwarzen weniger beabsichtigt als strukturell bedingt gewesen sind. Das geistige Milieu, in dem Arendt lebte und arbeitete, hatte andere und neue Perspektiven in ihrem Denken erst gar nicht aufkommen lassen. Wissen, so Basils Schlussfolgerung, ändert nicht unbedingt etwas, „es kommt darauf an, was man damit macht“. Ob uns Worte täuschen oder nicht, muss immer wieder ausgelotet, ebenso das Sich-Selbst–Hinterfragen aufs Neue geübt werden.

Ich komme aus einer Schule des Denkens und Schreibens, die sich auf der richtigen Seite fühlte.

Mich beeindrucken, bereichern und verunsichern Priya Basils Arbeiten über kulturelle Aneignung, Rassismus, Gastfreundschaft und Feminismus. Nach der Lektüre von „Gegen mich andenken“ fragte ich mich, wie die Romane eines weißen Europäers auf sie wirken müssen, Romane, deren Handlung – wie die meinen – in Ägypten, Bosnien, Russland oder Aserbaidschan spielt, in der Tradition eines Lawrence Durrell oder Michel Butor, jedenfalls in der Tradition weißer Europäer und Orientreisender; wie die Auseinandersetzung mit Flaubert und dem europäischen Orientbild in meinem Roman Der gelbe Diwan; wie meine Auswandergeschichten zwischen Okzident und Orient in Mein Tagtraum Triest. Wie ein Denken, das sich zwar als kolonialismus-kritisch versteht und der Idee der Autonomie des Einzelnen verpflichtet fühlt; allerdings einer Idee von Freiheit, wie mir heute klar ist, die aus einem männlich dominierten Gelehrtenmilieu der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts stammt; aus einem Milieu, das Nichteuropäer herabwürdigte, Frauen aus dem Denken ausschloss und das Unbewusste nicht kannte; und das doch auf die Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen bestand und damit ein Fundament des Denkens schuf, in dessen Tradition eine Frau, Eleanor Roosevelt, hundertfünfzig Jahre später die Formulierung allgemeiner Menschenrechte einfordern sollte (1948, als Reaktion auf die Shoah und die Vernichtungsindustrie des Zweiten Weltkriegs).

Ich frage mich weiter, aus welchem zeitgenössischen literarischen Milieu mein eigenes Schreiben kommt, auf welchen Festigkeiten und auf welchen Zweifeln es gründet. Ich bin ja nicht nur älter, sondern ein weißer alter Mann geworden. Mein Fremdbild verheißt nichts Gutes, und mein Selbstbild ist widersprüchlich, durch Fragen wie jene von Priya Basil verunsichert, ohne dass ich mich in irgendeiner Weise benachteiligt fühlen kann. So ich nachfrage, wer ich geworden bin, stoße ich auf eine Geschichte von Anverwandlungen, die über Jahrzehnte den Schriftsteller gebildet haben, als den ich mich heute empfinde, eine Geschichte, welche die europäische Moderne ebenso wie deren In-Zweifel-Setzen durch die Postmoderne durchpflügt und etwas mir nicht gänzliches Klares daraus bildet. Ich komme aus einer Schule des Denkens und Schreibens, die sich auf der richtigen Seite fühlte, auf jener der Aufklärung und jener der Moderne des 20. Jahrhunderts. Aus dem Selbstverständnis einer Avantgarde (der „Grazer Gruppe“) und damit verbunden eines Bewusstseins, „Speerspitze zu sein“.

Man strengte sich an, als Schriftsteller nicht nur auf eine bestimmte Weise zu schreiben, sondern ebenso in einer gewissen Weise auszusehen, sich in gewisser Weise zu verhalten, eine Reihe von erkennbaren Merkmalen dieses Milieus zu erfüllen.

Selbsthistorisierung und paradoxe Interventionen waren ihr gut geübtes Rüstzeug. Alles drehte sich um die Idee, der Schriftsteller verkörpere das autonome Individuum par excellence. Es galt, im Kritisch-Denken gut zu schreiben, ein Bild von Weltliteratur im Sinn, die im aufklärerischen Zorn verfasst wird, sich im Formulieren zur Meisterschaft aufschwingt und als eine Hinterlassenschaft bleibendes Kulturgut ist. So bildete sich ein Kanon der Vornehmheit; man strengte sich an, als Schriftsteller nicht nur auf eine bestimmte Weise zu schreiben, sondern ebenso in einer gewissen Weise auszusehen, sich in gewisser Weise zu verhalten, eine Reihe von erkennbaren Merkmalen dieses Milieus zu erfüllen.

Der Schriftsteller stieß in unbekanntes Terrain vor (als Reisender, Entdecker, Forschender, Grenzgänger, als Demiurg der Sprache), und um sein symbolisches Kapital ausschöpfen zu können, hatte er tendenziell genial zu sein.

Ich arbeitete im Forum Stadtpark Graz der 1980er und 1990er, einer Künstlergemeinschaft, die sich Ende der 1950er Jahre im Widerstand gegen die postfaschistische Nachkriegsgesellschaft gebildet hatte. Der Schriftsteller (er war zumeist ein Mann) konnte sich in solcher Weise inszenieren, da er um seine Bedeutung für die bürgerliche Öffentlichkeit wusste, jener seit dem 19. Jahrhundert wichtigen Sphäre von Schriftgelehrtheit, die für das kapitalistisch gesinnte Bürgertum als mahnendes Korrektiv seiner profitorientierten Ordnung fungierte. Schreiben als Selbstermächtigung bedeutete, einer auf Ökonomie und Macht gebauten Gesellschaft ihre geistigen Mängel in Erinnerung zu rufen. Der Schriftsteller stieß in unbekanntes Terrain vor (als Reisender, Entdecker, Forschender, Grenzgänger, als Demiurg der Sprache), und um sein symbolisches Kapital ausschöpfen zu können, hatte er tendenziell genial zu sein.

Ich bin in vielem das Kind meiner Zeit in Graz geblieben, etwa im Wunsch, Literatur mit Kunstanspruch zu schreiben. Der Form akribische Aufmerksamkeit zu schenken, in der Hingabe zur Sprache ebenso wie in der Sprachkritik. Auch im Hang zum Experimentieren. Ende der 1980er war eine neue Generation von Autoren herangewachsen, die sich stark mit postmodernen Philosophen beschäftigte, den Blick auf Fragmente, Rhizome, mäandernde und sich vermischende Strömungen, auf schizoide Strukturen richtete und das Fundament der Schriftsteller-Demiurgen zu untergraben begann. Lyotard oder Deleuze waren mir wie Erleuchtungen erschienen, ihre fulminante Auflösung einer festen Idee des Ichs, ihr Liebäugeln mit dem Tod des Autors, ihre Sympathie für die Unauflösbarkeit der Frage, was eigen und was fremd ist. Ebenso prägend für mich war die Begegnung mit Martin Kippenberger und Jörg Schlick; der ironische, ja schamlose Umgang der beiden Künstler mit Warhols Factory, ihre seltsame Alchemie aus surrealistischem Handeln und einem Gestaltungswillen, wie ihn die Wiener Werkstätten ausgezeichnet hatte. Ende der 1980er Jahre startete ich im Forum Stadtpark ein Projekt, es hieß „ABSOLUT“ (Warhols Wodka-Branding parodierend), das mit der „Neuschrift“ der Odyssee durch viele Autoren gipfelte und 1996 als ABSOLUT HOMER in Buchform erschien. Ohne dass es mir bewusst war, schätzte das gerade entstehende Milieu digitaler Künstler in Graz ABSOLUT als ihren Experimenten mit Programmcodes und Dekonstruktionen von Autorenschaft wesensähnlich ein.

So begann ich Ende der 1990er-Jahre über das Erzählen in der aufkommenden Informationsgesellschaft nachzudenken, über den Erzähler in einer globalisierten und digitalisierten, von Algorithmen (mit)gesteuerten und durch viele Kulturen durchmischten hybriden Welt. Erzählen, mutmaßte ich, könne die Kluft zwischen der Intertextualität und dem Offenbaren transparent halten. In der digitalen Welt ist selbst das Angesicht eines Menschen beliebig manipulierbar, zugleich sieht alles ungeheuer wirklich aus. „Das ist keine Pfeife“ schien mir als Botschaft wirkungslos geworden, die Indiskretion gewöhnlich, ebenso das Herausstülpen des Inneren, das hemmungslose Mixen von Eigen- und Fremdbildern, ebenso die Unverschämtheit im Behaupten und Verwerfen von Standpunkten. Die Geburt des Users schien mir das Konzept des Schriftsteller-Demiurgen ad absurdum zu führen. Im Netzwerk der User befindet sich jeder jederzeit überall im Wettstreit um Aufmerksamkeit.

Ich experimentierte mit Hypertexten, Netzwerkprojekten, multimedialen Formaten. Gründete 2003 mit Freunden aus halb Europa www.readme.cc, ein soziales Medium für Leser und Autoren, eine digitale Plattform, aus der schließlich die Europäischen Literaturtage hervorgingen, und aus deren Geist wiederum die eljub Europäischen Jugendbegegnungen entstanden, an denen ich bis heute mitarbeite. Ich halte das Schreiben nicht für bedroht von Maschinen. Wenn aber vor nur zwanzig Jahren noch eine heftige Debatte über die Schrift (damit die Literatur) als Leitmedium und Fundament der europäischen Welt geführt wurde (damals unter den Vorzeichen der entstehenden global dominanten Informationstechnologien), dann war das gegen das Jahr 2020 schon ganz anders, – da standen die radikal veränderten kulturellen Vorlieben und Gewohnheiten der Gegenwart im Mittelpunkt der Diskussion – als eine Reaktion auf den offensichtlichen und nicht undramatischen Rückgang des Lesens und die Beliebtheit des digitalen Streamens vor allem bei Menschen unter 50. Während der Corona Lockdowns der letzten beiden Jahre wurde der Wandel in unserer Gesellschaft mit einem bürokratischen Wort versehen: Kunst, hiermit auch Literatur, wird als nicht systemrelevant beurteilt. Das ist nicht das Ende von Literatur – aber es geht parallel damit einher, dass heute jene Konzeption von Autonomie in Frage gestellt ist, die für die bürgerliche Öffentlichkeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts (jener meiner Zeit im Grazer Forum Stadtpark) wesentlich war. Eine Verwandlung findet statt, in etwas noch schwer Fassbares, gesteuert von Algorithmen, prognostizierten Handlungsabläufen im Leben von Menschen, die nicht als autonome Geister, sondern als Turbokonsumenten gedacht werden. Niemand weiß recht, wie sich unter den Voraussetzungen der digitalen Kommunikationswelt etwas wie ein Leitmedium – oder viel wichtiger – ein gemeinschaftliches Forum – etwas der bürgerlichen Öffentlichkeit Ähnliches denken und herstellen lässt. Oder ob es etwas völlig anderes braucht – eine andere Ordnung der Schriftgelehrtheit – in einer Welt, die ja auch im geglückten Sinn aus den Fugen geraten ist, in der sich mehr und mehr (wohl angestoßen durch die Postmoderne) eine Politik der Pluralitäten und Identitäten Gehör verschafft, wie Priya Basil sie beschreibt. Und einer Welt der erweiterten Möglichkeiten von variablen Kulturtechniken, die uns die digitalen Kommunikationstechnologien bieten.

Und wie, das alles vor Augen, weiterschreiben?

Seit Jahren beeindrucken mich am meisten Romane von Menschen aus anderen Kulturen, die sich der Formenwelt des Romans – jener europäischsten aller Literaturformen – bemächtigen und aus dieser Aneignung etwas Neues entwickeln. Ihre Literatur, ob von Salman Rushdie, Petina Gappah, Leila Slimani oder Taye Selasi, finde ich mitreißend. Die Distanz zum Gemachten ist mit dem Wissen um das Machbare größer geworden (die writing rooms der Kulturindustrie faszinieren mich nicht, oder wenn dann nur kurze Zeit – jede Netflix Serie, noch die beste, ist ziemlich rasch dechiffrierbar); anrühren kann mich nur, was den Raum zwischen den Zeilen erfüllt. Ein gewisses Misstrauen gegenüber Manierismen ist größer geworden, auch gegenüber dem Auserzählen von Geschichten; das Romanschreiben hat für mich mit Dichtung zu tun.

Mir ist klar, mein Schreiben wird so eigen nicht sein wie ich es im Schreibakt empfinde. Es vollzieht sich vor einer Projektionsfläche wie auch in etwas Gefühltem aus Bildern, Klängen und Wörtern, das sich mischt und formt. Es ist nicht sakrosankt, was ich schreibe, sondern korrigierbar; und doch von einer inneren Notwendigkeit getrieben; niemals ganz fertig, da stets ein unauflösbarer Rest bleibt. Heute halte ich die Wirklichkeit für größer als die Literatur. Und doch komme ich aus einer bestimmten Tradition des Schreibens (vielleicht aus Momenten der Aufklärung, der Romantik, der frühen Moderne, der Postmoderne? Oh Widerspruch!), für die das Schreiben nichts Papierenes ist. Ich kann einen vielstimmigen Chor zu Wort kommen lassen, und kann mich doch nicht von außen sehen. Auf eine grundsätzliche Weise ist mein Schreiben an meinen eigenen Körper gebunden. Ich kann vom Blick der anderen aus den Angeln gehoben werden, und muss doch vor mir selbst bestehen – in dieser Weise begrenzt mich der Körper, und begrenzt mein Körper den Schreibakt. Etwas kommt in der Literatur zur Welt, das bereits in den Körper eines um Ausdruck Ringenden eingeschrieben war. Als Schreibender bin ich zugleich das Versuchs-Lebewesen meines Labors einer Menschenwerdung.

Seit vielen Jahren treibt mich eine Frage um, sie hemmt mich, ermuntert mich, macht mich schweigen, um dann erneut wieder aufzuflammen: Wer erzählt? Wer erzählt die Geschichte, die ich schreiben will? Wo sitzt der Erzähler, aus welchem Blickwinkel sieht er die Welt, die er beschreibt, in welchem Verhältnis steht er zu den Figuren, die er schafft, was kann er über sie wissen, was nicht? In welchem Tonfall spricht er, was ist die ihm angemessene Form?

Schreiben bedeutet, mich in Zugzwang zu bringen. Etwas zu riskieren. Im Hintergrund vernehme ich ein Geräusch, das lauter geworden ist, es kommt aus der Einsicht, auf einem Himmelskörper eines Universums zu leben, das keinen tieferen Sinn hat. Und doch vermute ich, es gibt einen Schatz zu heben. Ich möchte mich um das Leben kümmern. Es gibt mich, das ist nicht auflösbar in Intertextualität. Ich suche nach der Differenz zwischen dem Erzähler, der in seiner Geschichte festmachbar ist, und dem Autor, der zweifellos ich bin.

* * *

Walter Grond, geb. 1957, lebt in Wien. Künstlerische Leitung der Europäischen Literaturtage, Mitarbeit an den eljub Europäischen Jugendbegegnungen. Zuletzt erschienen: Tage ohne Sommer, Roman, Haymon 2019.

* * *

„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.