Welche Geschichten darf man erzählen?

Von Valerie Fritsch. „Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 59

Online seit: 1. April 2022
Valerie Fritsch © Martin Schwarz / Suhrkamp
Valerie Fritsch. Foto: Martin Schwarz / Suhrkamp

Immer öfter hörte ich in letzter Zeit in Gesprächen mit anderen Schreibenden die Frage, die mehr Zweifel war, zum Erzählen welcher Geschichten man dieser Tage noch berechtigt wäre. Ist es in Ordnung, die Perspektive eines Arbeitslosen einzunehmen, obwohl man selbst im Augenblick seiner Erfindung durch seine Erfindung Arbeit hat, ist es möglich, Menschen anderen Geschlechts eine Stimme zu geben, ohne ebendiesem anzugehören, darf man sich anmaßen, ein fremdes Schicksal – schrecklich oder herrlich – zu umreißen, kann man überhaupt erzählen, was nicht das eigene ist?

Nun glaube ich, dass Schreiben stets Selbstermächtigung ist, unerwartet und unbeauftragt, eine Skrupellosigkeit, eine Willkür, eine Aneignung. Die Unbefugten erdichten, entwerfen, beobachten, suchen die Worte zu den Umständen aus, übersetzen die Wirklichkeit nach Gutdünken, lösen ein Einzel- oder Kollektivschicksal aus dem Wust der Welt heraus und machen es sichtbar. Mitunter verzichten sie auf die Versatzbruchstücke und leisten sich die Idee einer vollkommen neuen Schöpfung. Die Vorstellung, sich etwas nicht vorstellen zu dürfen, scheint absurd im Architektenwesen der Literatur. Ohne diese Durchlässigkeit der Welt, die einen befähigt, sich in mehr als sein eigenes Leben hineinzuversetzen, muss man an sich selbst verarmen und bleibt mit dem Tagebuch seine Ichs zurück in der kleinen Gesellschaft jener, die einem hinreichend ähnlich sind. Sich die Fessel anzulegen, seine erzählten Geschichten mit der eigenen Biographie oder Gesinnung zu beglaubigen, ist ein Akt falsch verstandener Achtsamkeit, eine übertragene Folge der identitätspolitischen Diskurse vielleicht, eine Vorsicht, niemandem seine Art des Aufderweltseins wegnehmen zu wollen, als verpuffte es, würde entwertet, wenn man sich ihm näherte. Die Freiheit, Anspruch darauf zu erheben, jede noch so normale, noch so fremde, noch so unmögliche, noch so unmoralische, unpassende Geschichte zu erzählen, bewahrt einen naturgemäß nicht vor dem Scheitern daran. An jedem Text kann man bittersten Schiffbruch erleiden: weil er schlecht ist. Die Möglichkeit des Scheiterns wohnt jeder Freiheit inne, und keiner muss sich fürchten, er würde nicht auf ein Misslingen, eine Aneckung, eine Unsauberkeit, oder gar einen Dreck aufmerksam gemacht. Der Frage, was in der Literatur in Ordnung wäre, lässt sich vielleicht nur die große Unordnung, die Beschreibung der Welt als ein nichtlineares, sperriges Chaos, in dem es Muster aber keine Letztgültigkeiten gibt, als Antwortversuch entgegenstellen. Und während die eine Geschichte aufräumt, wühlt die andere im Staub.

Zu einer anderen Gelegenheit fragte mich eine Kollegin, ob ich kein schlechtes Gefühl hätte, wenn ich in meinen Romanen Täterschaft und Ungeheuerliches beschriebe, als verstünde ich einen Teil davon. Ich fürchte, ich nahm es eitel mehr als Kompliment denn Kritik. Aber ich war überrascht, dass für sie der Unterschied zwischen verstehen und Verständnis haben, darstellen und sich gemeinmachen, nicht zählte, denn für sie schien es, als hätte ich mir mit der Aneignung, dem Ausleuchten, dem genauen An- und Abtasten einer bösen Geschichte selbst auch die böse Gesinnung ins Herz geholt. Vielleicht war es eine Form der logischen Umkehr von „Ich kann nur verstehen und schreiben, was ich bin“ zu „Was ich verstehe und schreibe, muss ich sein“. Ein bisschen ratlos blieb ich mit diesem literarischen Konzept der Wechselwirkung in Charakterfragen zurück, aber glaubte schlussendlich auch hier, dass die eigene Identität ein Akt der Selbstermächtigung ist – wie das Schreiben.

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Valerie Fritsch, geboren 1989, Schriftstellerin, Polaroidphotokünstlerin und Reisende. Zahlreiche Literatur-Preise, zuletzt Peter Rosegger Preis des Landes Steiermark und Brüder Grimm Preis der Stadt Hanau 2021. Reisen rund um die Welt von Afrika bis in den wilden Osten. Ihr letzter Roman Herzklappen von Johnson & Johnson ist bei Suhrkamp 2020 erschienen und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

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„Hier und Heute – 100 Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, VOLLTEXT und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest sowie eine Förderung der Stadt Wien als Beitrag zur Bewältigung der Corona-Krise ermöglicht. Die ursprünglich für ein Jahr geplante Serie wird nun zur Hinführung auf den Österreich-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse bis März 2023 fortgesetzt.