Textverarbeitung: Ronya Othmann

Prägende Lektüren deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – Teil 14

Online seit: 22. Juli 2024

Texte werden nicht nur, aber auch aus Texten gemacht. Was einer gelesen hat, beeinflusst, wie er schreibt, möglicherweise sogar, wie er lebt: Lesen, Schreiben, Leben sind Formen von Textverarbeitung. VOLLTEXT hat deutschsprachige Autorinnen und Autoren um Listen jener Bücher gebeten, die ihr Leben und Schreiben geprägt haben.

Jede Liste kommt einem rasch hingeworfenen, skizzenhaften Selbstporträt als Leser beziehungsweise Leserin gleich. In der Zusammenschau, am Ende der Serie, machen die gesammelten Leselisten das intertextuelle Hintergrundrauschen unserer Gegenwartsliteratur erahnbar. Eine Liste aller bisher erschienenen Beiträge findet sich auf volltext.net.

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Herta Müller: Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt
Ich kann mich daran erinnern, wie alt war ich damals, vierzehn? – dass die Lehrerin, die die Kreatives Schreiben-AG leitete, einmal die Gedichte-Collagen von Herta Müller mitbrachte. Als ob ich danach gesucht hätte, ohne es zu wissen. So eine schmerzhaft genaue Sprache! Die nächsten Jahre verbrachte ich damit, so ziemlich alles zu lesen, was Herta Müller geschrieben hat, und nicht nur einmal. Bis heute komme ich immer wieder zu diesen Texten zurück, einer davon ist die Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, eine schmale Erzählung voller stechender Bilder. Die Geschichte der Familie Windisch im Rumänien unter Ceaușescu, die auf ihre Ausweispapiere wartet, um in den Westen zu gehen.

Friederike Mayröcker: und ich schüttelte einen Liebling
Lyrische Prosa oder prosaische Lyrik, Hommage, Gespräch, Gesang, in jedem Fall berauschend, diese Verschriftlichung des Lebens. Ich weiß nicht, wann ich Mayröcker das erste Mal gelesen habe und wo, vermutlich in einer Lyrikanthologie oder vielleicht hatte ich mir auch einmal einen Band in der Bibliothek ausgeliehen, als Teenager, ich tastete mich langsam heran, aber stetig und immer wieder. Heute kommt es mir vor, als wäre sie schon immer da gewesen.

Virginia Woolf: Mrs Dalloway
Wo die Sprache geschliffenes Holz ist oder polierter Stein, ist sie bei Virginia Woolf lebendig, ein Organismus, komplex. Und so kann ich nicht aufhören, sie zu betrachten, hole sie immer wieder hervor, eine Erzählung, einen Roman nach dem anderen. Mrs Dalloway, beispielsweise, der eine Tag im Juni 1923, Clarissa Dalloway bereitet sich auf eine Abendgesellschaft vor. Damit wäre der Roman noch lange nicht beschrieben. Virginia Woolf ist eine der Autorinnen, die zu lesen ich nie fertig werde.

Georges Arthur Goldschmidt: Die Absonderung
Die Erzählung einer Flucht aus Deutschland 1939, die Ankunft in einem Kinderheim in den Savoyer Alpen, dann Unterschlupf bei einem Bauern, schließlich ins Internat. Das Heimweh, die Quälereien und die ständige Bedrohung durch die Deutschen, erzählt in einer Sprache, die wie das Licht ist, das durch die belaubten Bäume auf die Straße fällt, schlafwandelnd, wie ein schwerer Stein am Grund eines dunklen Sees.

Bachtyar Ali: Mein Onkel, den der Wind mitnahm
Oft werden die Romane Bachtyar Alis mit dem Magischen Realismus beschrieben. Aber ich denke, das trifft es nicht ganz. Vielmehr ist es umgekehrt, verrückt ist nicht die Prosa Alis, verrückt ist die Welt, die sie beschreibt. Mein Onkel, den der Wind mitnahm erzählt von Djamschid Khan, der in Saddams Foltergefängnis so dünn geworden ist, dass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und über die Mauern des Gefängnisses trägt. Bachtyar Ali hat einmal gesagt: „Das Problem ist, die Katas­trophe ist bei uns so groß, dass sie unerzählbar geworden ist. Als Schriftsteller habe ich immer versucht, die Katastrophe, all dieses Unglück erzählbar zu machen.“

Charlotte Brontë: Jane Eyre
Als Teenager gelesen, voll Schmerz, Langeweile und Sehnsucht, alles in diesem Roman gefunden. Ebenso in dem Roman ihrer Schwester, Sturmhöhe. Ich las sie kurz hintereinander.

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
Ein Buch, zu dem ich wieder zurückgekommen bin, nach einigen Jahren, und wieder zurückkommen werde, da bin ich mir sicher. Diese klingende Sprache, dieser Witz, diese bissige Genauigkeit. Zum Niederknien!

Swetlana Alexeijewitsch: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Ein dokumentarischer Roman vom Krieg, in dem das gesagt wird, was meist verschwiegen wird, aneinander montierte Interviews, ein gewaltiges Buch. Eines dieser Bücher, aus dem man anders herausgeht, als man reingekommen ist. Nicht nur dieses eine, auch die anderen, Zinkjungen, Secondhand-Zeit …

Else Lasker-Schüler: Gedichte
Wie alt war ich, vierzehn, fünfzehn, als ich die Gedichte von Else Lasker-Schüler entdeckte. Ich hatte eine rote Taschenbuchausgabe ihrer sämtlichen Gedichte, die ich jeden Tag mit mir herumtrug. Ich las sie unter der Schulbank, im Bus, während ich Hausaufgaben machen sollte, nachts wenn ich nicht schlafen konnte. Ich lernte sie auswendig, legte sie eigentlich nicht mehr aus der Hand. Ihre Gedichte sind wie Lieder, sie schreiben sich ein.

 

Ronya Othmann, geboren 1993 in München, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Leipzig. Zuletzt erschien der Roman Vierund­siebzig.

Quelle: VOLLTEXT 2/2024 – 28. Juni 2024

Online seit: 22. Juli 2024