Textverarbeitung: Eva Sichelschmidt

Prägende Lektüren deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – Teil 18

Online seit: 23. April 2025

Texte werden nicht nur, aber auch aus Texten gemacht. Was einer gelesen hat, beeinflusst, wie er schreibt, möglicherweise sogar, wie er lebt: Lesen, Schreiben, Leben sind Formen von Textverarbeitung. VOLLTEXT hat deutschsprachige Autorinnen und Autoren um Listen jener Bücher gebeten, die ihr Leben und Schreiben geprägt haben.

Jede Liste kommt einem rasch hingeworfenen, skizzenhaften Selbstporträt als Leser beziehungsweise Leserin gleich. In der Zusammenschau, am Ende der Serie, machen die gesammelten Leselisten das intertextuelle Hintergrundrauschen unserer Gegenwartsliteratur erahnbar. Eine Liste aller bisher erschienenen Beiträge findet sich auf volltext.net.

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Walter Serner: Die Tigerin
Liebe – Es ist das erste Mal, dass ich verliebt bin. Wir schreiben uns Briefe, nehmen uns gegenseitig Musikkassetten auf, wie man das damals so machte. Opernarien oder Punkrock, für mich enthält jeder Track eine geheime Botschaft des Liebsten. Er schenkt mir Walter Serners Roman, versehen mit einer Widmung, die ich nie vergesse. Die Tigerin bin ich und das Buch wird zur Begleitmusik unserer Liebesbeziehung. Jeder Satz stimmt, schon der erste: Kein Mensch wusste, wovon er eigentlich lebte. Es dauert eine Weile, bis ich herausfinde, dass auch das Ende zutrifft. Zu der Zeit herrscht unter meinen Freunden längst die im Buch beschriebene Einmütigkeit, dass der Mann … eben doch nur ein Trottel gewesen war.

Walter Kempowski: Im Block
Schuld – 2007, Besuch bei Walter Kempowski, ein paar Wochen vor seinem Tod. Der große Chronist gilt als schwierig. Ich gehe also noch einmal all seine Romane durch, ich möchte mich werkkundig geben. Bei der Aufzählung der Titel, der Jahreszahlen und Protagonisten mache ich dann tatsächlich keine Fehler. Kempowski fragt: Was bin ich eigentlich für Sie, ein Glasfisch? Auf dem Regal hinter ihm stehen eine Unmenge kleiner bunter Glastiere. Welches seiner Bücher mir das Wichtigste ist, will er wissen. Im Block ist ein Haftbericht aus seiner Zeit im Zuchthaus Bautzen. Neunzehn war er, als er von einem sowjetischen Militärgericht wegen Spionage zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt wurde, von denen er acht absitzen musste. In der Gefangenschaft verriet er den Bruder und die Mutter. Das Buch ist ein erschütterndes Zeugnis der Schuld und der Scham. Kempowski sagt: „Der Krieg und das Gefängnis haben mich restlos verkorkst.“ An Im Block und an diesen Satz des verehrten Schriftstellers, muss ich, auch in Bezug auf meine eigene Familie, immer wieder denken.

Heimito von Doderer: Die Peinigung der Lederbeutelchen
Wut – Idiosynkrasien sind