Bis der Bach gegen den Strom schwimmt

Von Tanja Paar. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XLV

Online seit: 24. Dezember 2021

Bewegung als Motiv und Metapher. Ein Movens, das seinen Ausgang nimmt in einem Realen: einem Schulausflug mit Volksschulkindern, einem ungeliebten, aber besser, als auf dem Sessel hocken. Kein Gipfel wird gestürmt, mittlere Höhen sollen für alle bewältigbar sein und da ist es, das stundenlange Gehen auf Forststraßen. Keine Fernsicht, kein Ausblick, bloß Durchhalten, weiter Marschieren.

Tanja Paar © Pamela Russmann
Tanja Paar. Foto: Pamela Russmann

Aus dem Zweiergespräch öffnet sich der Fluss einer Erzählung, zieht die anderen mit sich, leckt an ihren Beinen, schiebt sie heran und weiter. In der Geschichte öffnet sich erst der Weg, lässt die müden Beine vergessen. Viele wollen Schritt halten, um kein Wort zu verpassen. In Wellen geht es vor und zurück, nicht am steinigen Weg, sondern in der Wortewelt. Noch eine wollen sie und noch eine. Und da ist sie, die Lust am Erzählen, sie weiter gehen machen. Sie die Müdigkeit vergessen lassen. Sie entführen. Woanders hin, mit Ausblick, den der öde Weg nicht bot.

Einmal daran geleckt, wird es eine Sucht. Aber dieses unverstellte, kindliche Erzählen, das da war schon vor der Schrift, es wurde verbaut von der Schule. Von Ordnungen, wie es zu sein habe. Mit Zierrand und einem „und dann und dann“. Nichts durcheinanderbringen, nicht ausufern, kein Strömen und Flocken, kein Dampfen und Nebeln, keine Kaskaden, keine Sprünge. Chronologie. Der tickende Zeiger der Uhr. Alles in Portionen verpackt, vorgekaut herunter würgen, die Essenszeiten einhalten. Kein lustvolles von Stein zu Stein Hopsen über den Fluss. Ja, der Gefahr hinein zu plumpsen gewahr, aber was könnte Schlimmeres passieren als nasse Füße? Das Experiment gründlich abgewöhnt. Wissenswiedergabe. Aufträge erfüllen, auch im Text. Verständlichkeit, Kürze, allenfalls noch Pointiertheit.

Wie leicht ist es, wenn klar ist, wohin die Reise geht. Flussabwärts natürlich, immer dem Meer zu. Aber wo verlaufen sie, die Wasserscheiden des Ausdrucks? Da oder dort? Ein Wagnis eingehen. Die Regulierung muss erst rückgebaut werden, bevor der Bach gegen den Strom schwimmt.

Gedächtnis ist Auswahl. Aber irgendetwas in ihm verweigerte sich der Prioritätensetzung. Es war ein Fundus, in dem er jederzeit kramen, einmal diese Bundfaltenhose, einmal jenen Strohhut anprobieren und wieder weg legen konnte. Ob Hose und Hut passten, war nicht die Frage. Es war ein Spiel, eine Möglichkeit. Es war Material, aber es war nicht bloß Füllstoff, es war ihm lieb und lebendig. Bilder und Gesichter und Melodien und der Geruch von Moos.

Das waren glückliche Momente, die ihm als Erwachsenem abhanden gekommen waren. Er hatte eine andere Richtung eingeschlagen und über die Jahre vergessen, was da gewesen war: Das Glück des Erzählens. Der pure Moment des Sich-Ergötzens daran, dass er nicht wusste, wie es weiter geht, es aber schon in wenigen Augenblicken wissen würde, wenn er sich der Geschichte nur hingab. Es war leicht. Es war ein Kinderspiel.

Nach dem Erzählen kam das Vorlesen und machte ihm den Platz streitig. An allen Abenden um dieselbe Zeit, schon im Bett, aber bereit, um jede Minute zu kämpfen. Es war der Großvater, er war der Hüter des geschriebenen Wortes. Der Geruch der grünen Einbände, er durfte sie noch nicht selbst anfassen. Immer ein Kapitel. Nie wäre es ihm eingefallen, dabei einzuschlafen. Es waren keine Einschlafgeschichten, es waren Aufwachgeschichten. Auch nicht für Kinder geschrieben, schon gar nicht für einen Fünfjährigen. Er verstand nicht alles und der Großvater erklärte nichts. Er las vor.

Die Stimme des Großvaters erschuf Welten, die alles übertrafen, was er kannte. Bären kamen darin vor und mutige Männer und feige. Er konnte sich nicht erinnern, dass Frauen darin vor kamen. Doch, eine, aber das war später. Die Geschichten zogen sich über Wochen und Monate, denn es gab viele Bände, die in goldener Schnörkelschrift am Buchrücken durchnummeriert waren. Da er schon zählen konnte, fiel ihm auf, dass sie ihm der Großvater nicht der Reihe nach vorlas. So kehrten Personen wieder, nachdem sie verstorben waren, trennten sich und lernten einander danach kennen, quicklebendig als Tote, Zeit und Raum außer Kraft gesetzt, so mächtig waren diese Geschichten.

Das Kind war froh, auch, wenn jemand starb. Nie konnte es sicher sein, ob nicht einer, obwohl bereits skalpiert und am Marterpfahl, nicht wieder in der nächsten Schlucht um die Ecke ritt. Sehr weit kam das Kind so, in Vergangenheiten und Zukünfte und steckte doch nur mit seinem Großvater unter einer Decke. Es wollte ihn nicht gehen, die Geschichten nicht enden lassen. Band ihn fest mit dem Gürtel seines Schlafrocks an seinem Handgelenk. Und jeden Morgen erwachte es überrascht, wie es der Großvater wieder geschafft hatte, den Zauberknoten zu lösen und zu entkommen.

Begierig war es also, das Kind, selbst lesen zu lernen und enttäuscht über die Geschichten, die ihm angeboten wurden. Mama geht ins Haus. Mimi hilft Mama. Oma kauft Erbsen. Was war das gegen die Weiten des Lesens, die er bereits kennen gelernt hatte? Dem Kind wurde das Skalpieren abgewöhnt. Aber es konnte sich erinnern. Es hatte an der wilden Kraft der Sprache geleckt, an ihren Wiedergängern, an dem Strudel aus Vorher und Nachher, in dessen Auge sich alle treffen. Es hatte gehört, was möglich war.

Und da war auch eine Angst, denn was war, wenn alles keine Reihenfolge hatte und keine Ordnung? Es war ein mächtiger Zauber, zu mächtig für ein Kind. Und es vergaß.

Zauber

Bewegung als Voraussetzung für das Schreiben. Freie Bewegung. Richtungslose, nicht zielgerichtete. Mehr einer Ahnung folgend, einer Neugier, einer Frage, einem Nicht-Wissen. Nonsens. In eine Lacke springen. Sich nass machen. Nunc stans. Das reine Hier und Jetzt. Ein Risiko eingehen. Eine Verletzung. Eine Enttäuschung. Ein Verrat. Eine Überraschung. Ein Geheimnis. Eine Mauer. Ein Hindernis.

Dagegen anschreiben, anrennen. Sich das Knie anschlagen. Stehen bleiben. Verschnaufen. Sich das Problem besehen. Es umkreisen, belauern, beschnüffeln, belecken. Weg laufen, Angst haben. Wieder kehren. Weiter machen. Stehen bleiben. Nunc stans. Bloße, im Jetzt verharrende Gegenwart. Nicht als mortifizierende Einfrierung gedacht, sondern als Öffnung auf alle vergangenen und zukünftigen Zeiten hin. Als Augenblick der Ewigkeit, in dem der Sprung aus einem linear-homogenen Zeitfluss möglich wäre. Die mühsame, sukzessive Ordnung des Vorher und Nachher in der Erzählung geborgen in einer Öffnung komplexer Sinnfülle.

Kreisen

Arthur’s Seat ist ein Vulkankegel. Ein sommersprossiger Berg mit schütterem, grünem Haar, kurz rasiert von den Ostwinden, die von der See herspringen. Gutmütig, wie er ist, hat er die Stadt nicht abgeschüttelt. Wir unterschätzen ihn gern, und bemerken erst vornübergebeugt in dem roten Geröll seiner Flanken, wie steil er ist.

Aussicht gewährt er, mehr doch fängt den Blick der junge Asiate, der mit geschlossenen Augen über der Stadt meditiert. Regenschwaden ziehen graue Vorhänge über die Viertel und die, die gerade noch im Gänsemarsch zum Gipfelsturm sich einreihten, stieben auseinander und suchen den schnellsten Weg hinab. Viele Rinnen hat das Wasser gewählt und wir hopsen eine davon entlang, plötzlich fröhlich, da es sicher ist, dass wir nicht trocken bleiben.

Auf einmal führt der Weg wieder bergan, überraschend nach einer Biegung hinauf. Und die Verwunderung weicht dem Bild von „Gödel, Escher, Bach“, einem Berg-Paradoxon, dessen Wege auf unmögliche Weise sich ins Unendliche verzweigen. Und mit einem Schritt ist es verlockend sich vorzustellen, für immer an diesem Berg gefangen zu sein, ihn zu umrunden wie einen Stupa. Sich niederwerfend und wiederaufstehend, kreisend, im Uhrzeigersinn oder auch andersrum. Für alle Ewigkeit gehend, schreibend, gehend, schreibend.

* * *

Tanja Paar, geboren in Graz, schreibt Prosa, Stücke und Essays, studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Lausanne und Wien, wo sie heute als Schriftstellerin lebt. Sie arbeitete am Theater und für diverse Medien. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Preise, darunter das Wiener Dramatik Stipendium 2021. Über ihr Studium der Informatik schrieb sie den Blog „Mama geht studieren“. Sie arbeitet interdisziplinär und multimedial. 2021 wurde sie für ihr Romanprojekt Der Ziegenzirkus mit dem Robert Gernhardt-Preis ausgezeichnet. Romane: Die Unversehrten 2018 und Die zitternde Welt 2020, beide Haymon Verlag. Webseite www.tanjapaar.at

* * *

„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.