Wenn man heutzutage Rechtsradikale mit Reichsflaggen vor dem Berliner Reichstag ein Demonstrationsrecht wahrnehmen sieht, von dem sie nicht wahrhaben wollen, dass sie es überhaupt erst durch jenes politische System bekommen haben, das sie bekämpfen, dann hat dies natürlich etwas mit der deutschen Geschichte zu tun. Von dieser Geschichte werden die angebräunten Demonstranten ebenfalls wenig wissen, denn ihr Deutschlandbild entspricht dem, was Roland Barthes einen Mythos genannt hat: Es hat keinen Inhalt und kann gerade deshalb so leicht instrumentalisiert werden. Die damit einhergehende, fast schon bewunderungswürdige Verdrängungs- und Verleugnungsleistung hat mit einem Verlust an historischem Wissen zu tun.
Bedenklich ist nicht nur der Auftritt von Rechtsradikalen, bedenklich ist auch, dass selbst die Gebildeten kaum noch sagen können, wie eine solche Deutschtümelei entstehen konnte – und zwar vor der Zeit des Nationalsozialismus. Wer weiß, dass die Verse „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“ aus der Feder des berühmtesten Lyrikers des bürgerlichen Realismus stammen, der Emanuel Geibel hieß? (Siehe VOLLTEXT 2/2018) Wer kennt noch den zu Geibels Zeit bekanntesten Romancier Gustav Freytag? Und weshalb gibt es diese merkwürdige Kluft von Unbekanntheit heute und Bekanntheit damals? Claus Holz fasst sie in seiner Untersuchung zu Freytags Roman Die Ahnen knapp zusammen: „Wohl nur wenigen deutschen Schriftstellern wurde zu Lebzeiten so viel Ruhm, Anerkennung und öffentliche Ehrung zuteil wie Gustav Freytag, den das Brockhaus Konversations-Lexikon von 1902 – sechs Jahre nach dem Tod des Dichters – als den ‚populärsten Romanschriftsteller der neueren deutschen Litteratur‘ ausweist.“
Literatur und Nation
Offenbar gibt es Teile der (Literatur-)Geschichte, mit denen man sich nicht so gern beschäftigt. Die den Nationalismus betreffenden Gründe liegen darin, dass Nationen „imagined communities“ sind (Benedict Anderson in Die Erfindung der Nation, dt. 1998), dass sie nur in der Vorstellung existieren. „Im Gegensatz zu dem immensen Einfluß, den der Nationalismus auf die moderne Welt ausübt, steht es um seine theoretische Bewältigung auffallend schlecht“, hat Anderson festgestellt. Man könnte auch von dem verdrängten Eigenen sprechen, das sich im Nationalismus als Hass auf die angeblich Anderen auf brutale Weise auszudrücken pflegt. Es ist die Kehrseite einer Erfolgsgeschichte, an die unsere viel gepriesene offene Gesellschaft ungern erinnert wird.
Die nationale bürgerliche Revolution hat in zwei Weltkriegen ihre eigenen Kinder gefressen – kein schöner Gedanke. An den negativen Folgen der Nationwerdung hatte die heute weitgehend vergessene Literatur einen nicht unerheblichen Anteil. Diese Literatur ist, wenn es um ihre Qualität geht, zu Recht vergessen – aber wenn es um eine notwendige Auseinandersetzung mit ihren Folgen geht, ist ein Blick zurück auf genau diese Texte für kritisch denkende Staatsbürger (was eine Tautologie sein sollte) ein lohnendes Unterfangen.
Im Gegensatz zu dem immensen Einfluss, den der Nationalismus auf die Welt ausübt, steht es um seine theoretische Bewältigung auffallend schlecht.
Der Umschlag von Patriotismus in Nationalismus und die Radikalisierung des Bürgertums beginnt vielleicht nicht mit dem Krieg gegen Napoleon, er erreicht aber mit ihm eine neue Stufe und hat Folgen für die ganze weitere Entwicklung. Napoleon ist interessanterweise Feindbild und verleugnetes Vorbild zugleich, denn er hat gezeigt, wie man einen schlagkräftigen Nationalstaat aufbauen und anderen Ländern zu dem Glück verhelfen kann, wie die Franzosen zu werden.
In den sogenannten Befreiungskriegen, die zum Wiener Kongress von 1815 führten, hatte sich die bürgerliche Schicht der deutschsprachigen Bevölkerung eine Nachfolge des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation in Gestalt eines geeinten, mit einer Verfassung versehenen Nationalstaates gewünscht – und bekam stattdessen den Deutschen Bund, der weiterhin aus feudal regierten Einzelstaaten bestand. Doch waren bereits in den Kriegen gegen Napoleon nationalistische Tendenzen laut geworden. Davon zeugt Ernst Moritz Arndts (1769–1860) populäres Lied Was ist des Deutschen Vaterland? von 1813 ebenso wie Theodor Körners (1791–1813) Gedichtband Leyer und Schwerdt, der 1814 erschien, als der junge Körner bereits auf dem angeblichen Feld der Ehre gefallen, also einen brutalen Tod im Krieg gestorben war. Doch viele andere junge Männer trugen Körners Bändchen bei sich, als sie zu Felde zogen, und nahmen sich die „Zueignung“ zu Herzen, in der es heißt (man achte auf die Verbindung von religiöser, Freiheits- und Kriegsmetaphorik):
So bleibt mir hold! – Des Vaterlandes Fahnen, / Hoch flattern sie am deutschen Freiheitsport. / Es ruft die heil’ge Sprache unsrer Ahnen: / „Ihr Sänger, vor! und schützt das deutsche Wort!“ / Das kühne Herz läßt sich nicht länger mahnen, / Der Sturm der Schlachten trägt es brausend fort; / Die Leier schweigt, die blanken Schwerter klingen. / Heraus, mein Schwert! magst auch dein Liedchen singen.
Die feudalen Machthaber – neben den preußischen Königen vor allem der Architekt des Deutschen Bundes, der Wiener Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859), und später der Architekt des Zweiten Deutschen Kaiserreichs, Otto von Bismarck (1815–1898) – taktierten ebenso rücksichtslos wie klug. Entweder unterbanden sie (durch Zensur) radikale Tendenzen, wenn sie antifeudal und frühdemokratisch waren, oder machten sie sich zunutze, wenn sie ein nationales Wir-Gefühl stärken halfen und sich in die eigene Strategie von Machterhalt und Machtausbau einbinden ließen.
Dies gilt beispielsweise für literarisch äußerst dürftige, aber politisch brisante Dichtungen wie Nikolaus Beckers sogenanntes Rheinlied, das nach seinem Erscheinen 1840 zu einer inoffiziellen Hymne einer noch nicht existierenden Nation wurde – und den Hass auf
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