Vereitelter Anschlag in „Punktlandung“ von Ute-Christine Krupp

Zwischen Freiheit und Sicherheit, Privatem und Politischem, digitaler und analoger Lebenswirklichkeit oszilliert der neue Roman der deutschen Autorin Ute-Christine Krupp, er stellt die großen Fragen unserer Zeit und bleibt dabei doch nur an der Oberfläche. Von Sophie Weilandt

Dieser Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Online-Seminar „Literatur- und Kulturkritik schreiben“.

Online seit: 31. Oktober 2022

Marcel Reich-Ranicki hat zwar einmal geraten, es tunlichst zu unterlassen, dem Klappentext eines literarischen Werks Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, handelt es sich dabei doch häufig nur um den Werbetext des Verlags. Hier soll trotzdem damit der Anfang gemacht werden: „Terrorismus und Liebe im digitalen Zeitalter“ lautet da die Überschrift – wurde der Bogen damit nicht ein wenig zu weit gespannt?

Stellen Sie sich vor, ganz Deutschland wird von einer islamistischen Terrorgruppe in Angst und Schrecken gehalten, es gibt einen Aussteiger aus dem al-Quaida-Netzwerk, der die Polizei rechtzeitig vor geplanten Anschlägen warnt, und Sie sind derjenige, der mitverantwortlich ist, diese zu verhindern. Mit diesen Koordinaten schickt Ute-Christine Krupp ihre Leserschaft ins Rennen und legt damit möglicherweise gleich zu Beginn eine falsche Fährte. Spannungsgeladene Verfolgungsjagden, Kampfszenen um Leben und Tod und großangelegte Rettungsaktionen bleiben uns (zum Glück) erspart. Erzählt wird aus der Sicht eines Berliner Regierungsbeamten, Abteilung Öffentliche Sicherheit. Paul Jost wurde kürzlich damit beauftragt, die Fahndung nach den Terroristen zu übernehmen. Der wenig spektakuläre Büroalltag der oberen Beamtenliga mit seinen Konferenzen, Presseterminen und Kantinengesprächen ist über weite Strecken Austragungsort des Terror-Dramas.

Paul Jost ist im Kontext seiner Arbeit vor allem damit beschäftigt, sich Grundsatzfragen zu seiner neuen beruflichen Aufgabe zu stellen: „Habe ich nicht Jura studiert, um die Freiheitsrechte zu wahren, die Grundrechte des Einzelnen zu schützen?“, „wie weit darf ein Staat gehen bei der Einschränkung von Grundrechten?“ und „Was ist der Mensch im Zeitalter neuer Technologien?“ Das sind zwar hochbrisante Fragen, die nicht nur die Gesellschaften nach 9/11, sondern auch unsere pandemische Gegenwart im Kern berühren, doch auf ihre Vertiefung wartet man vergeblich. Der Protagonist grübelt, ob telefonische Überwachung ohne dringenden Tatverdacht gerechtfertigt sei, oder ob die Unschuldsvermutung bei Terrorgefahr einfach umgangen werden kann, und kommt doch über das Grübeln nicht hinaus. Letztlich kann er sich gegen die Position seines Chefs Giese – „Sicherheit um jeden Preis“ – nicht durchsetzen, versucht es aber auch nur halbherzig. Wie viel Konfliktpotenzial würde dieses demokratiepolitische Dilemma doch bieten – eine Möglichkeit, die Krupp im Roman einfach verstreichen lässt. Vielleicht geht es ihr aber auch in Wahrheit um anderes. Und damit kommt das zweite Schlagwort der Klappentext-Überschrift ins Spiel: die Liebe.

In fast nahtlosen Übergängen steuert der Protagonist seinen Gedankenstrom zwischen Beruf und Privatleben, die beiden Lebensbereiche, die vor allem von den Figuren Giese, seinem Vorgesetzten und Gesine, seiner Ex-Frau, dominiert werden. Ein kleiner Kunstgriff gelingt Krupp, indem sie ein beinahe-Anagramm für die beiden Namen wählt. Mit der Karriere geht es bergauf, als Liebender hat Paul Jost allerdings versagt. Die Ehe ging in die Brüche, die Kinder sieht er jedes zweite Wochenende. Vom Vater, einem angesehenen Architekten, bleibt die ersehnte Anerkennung auch im Erwachsenenalter noch aus. Und so begibt er sich in diversen Online-Foren auf die Suche nach einer neuen Liebe.

„Liebe im digitalen Zeitalter“ heißt also der andere große Themenkomplex, dem Ute-Christine Krupp bereits eine Erzählung gewidmet hat, mit dem Titel „Nacht.de“. „Liebe ist kein Zufall mehr?“ „War es nicht immer Zufall, wem man begegnet? War es nur früher so?“ heißt es in Punktlandung, und dabei fällt einem der Philosoph Alain Badiou ein, der in seinem Essay „Lob der Liebe“ Liebe als ein „Vertrauen auf den Zufall“ definiert, der durch die online Partnervermittlung an Wirkkraft verloren habe. Auch die Soziologin Eva Illouz kommt einem in den Sinn, die Dating-Apps und digitale Kommunikation für die Kommerzialisierung von Beziehungen verantwortlich macht. Und so erscheint es nur logisch, dass die einzige Beziehung, die für Paul Jost zu glücken scheint, dann eben keine Internetbekanntschaft ist.

Der Roman wird dort plastisch, wo es echte Begegnungen gibt, und seien es auch nur die missratenen Online-Dates, die nicht fortgesetzt werden, weil nach der ersten Nacht klar wird, dass man im weniger hippen Teil der Stadt wohnt. Wenn sich Paul Jost an das Kennenlernen mit Gesine erinnert, einer jungen Frau aus dem Osten, die im Westen „dauernd das Gefühl (hat), so viel falsch zu machen“, wenn er einer sinnierenden Fußpflegerin am Ende ihres Arbeitslebens im Akazienkiez sein Ohr leiht, die dem alten Berlin nachtrauert, dann atmet man hochsommerliche Berliner Luft, dann wird man von der Erzählung gepackt und endlich mitgenommen.

Die in Berlin lebende Autorin Ute-Christine Krupp gehört nicht gerade zu jenen, die man als Vielschreiberin bezeichnet könnte – man muss schon genauer nach ihren Texten suchen. Beiträge in ausgewählten Anthologien, einige Hörspiele für verschiedene Sendeanstalten und mittlerweile drei Romane liegen vor. Mit lyrischer Prosa machte sie den Anfang, in den 1990er-Jahren war Krupp, Jahrgang 1962, in der Kölner Literaturszene rund um den Dichter Marcel Beyer aktiv und 2001 wurde sie zum Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt eingeladen.

Von lyrischer Prosa ist in Krupps aktuellem Roman auf den ersten Blick kaum noch etwas spürbar, und doch wird man fündig, stellt man Punktlandung in den Kontext ihres Gesamtwerks. Die vielfach kurzen, staccatoartigen Hauptwortsätze, die sprachliche Reduktion auf das Notwendige, das Dialogische und Monologische, das satzzeichenlos ineinander übergeht – all das kann mit dem literarischen Werdegang der Autorin, dem Weg über Lyrik und Hörspiel, in Zusammenhang stehen. Sätze, die man zwar gerne liest, die aber in ihrer fast wortgleichen Wiederholung an Wirkkraft verlieren, lauten: „Ich möchte wieder mehr den Zufällen des Lebens ausgesetzt sein“ und 40 Seiten später: „Ich wollte ein Leben, das wieder mehr Zufällen ausgesetzt ist“.

Zurück zu den Ausgangsparametern Terrorismus und Liebe: die Erwartung, mit Punktlandung eine literarische Folie für rechtsphilosophische Auseinandersetzungen zum Thema Terrorismus geliefert zu bekommen, anhand derer man möglicherweise seine eigenen Vorstellungen von Moral und Ethik durchdeklinieren kann, muss enttäuscht werden. Das haben andere bereits publikumswirksamer gemacht, denkt man etwa an das Stück Terror von Ferdinand von Schirach. Auch das Nachdenken über die Bedeutung von Liebe und Beziehungen heute, bleibt nur angedeutet. Was gelungen ist, ist das glaubwürdige Portrait eines sogenannten Durchschnittscharakters, in der Mitte seines Lebens, etwas verklemmt, ehrgeizig und Ich-bezogen, der zu fühlen verlernt hat, höchstens seinen Neigungen noch Ausdruck verleihen kann, und der dann doch im Laufe des Romans Schritt für Schritt ins Leben zurückfindet.

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