Bleiglatter Fluss, milde Sonne

Von Simon Konttas.
„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XVIII

Online seit: 18. Juni 2021
Simon Konttas
Simon Konttas

 

„Des Helfens müde“

„Also auch der Berufene:
Er verweilt im Wirken ohne Handeln.
Er übt Belehrung ohne Reden. (…)
Ist das Werk vollbracht,
so verharrt er nicht dabei.“
– Lao-Tse: „Tao-te-King”

Wollte auch ich einst die Menschen so belehren,
so verändern, ihnen ins Gewissen reden
wie zwei meiner Freunde es tun?
Er, der seine Schüler vom fanatischen Gottesglauben
erlösen; sie, die ihren Vater
weitherziger machen will, damit er nicht mehr
nachplappere die kleinkarierten Borniertheiten
der Landeipartei, die er wählt.
Am Telefon sagte sie neulich zu mir:
Es sei „zu wenig“, nur zu schweigen und
sich nicht zu äußern, wenn,
(wie ein Bekannter von mir),
einer sagt, Neger seien weniger wert
und unter Hitler sei nicht alles schlecht gewesen.
Irgendetwas Ähnliches nämlich sagte
vor einem Jahr ein naher Verwandter,
als wir an einem lauen Sommerabend
am Flussufer standen
in den schrägen Strahlen der sinkenden Sonne.
Er sprach und ich schwieg.
Wie soll ich ein ganzes Leben,
verbracht in selbstgerechtem Dogmatismus –
denn diese Negeransichten sind nur
ein Ausdruck so eines Lebens –
verändern durch ein Wort von mir?
Und so schwieg ich und beobachtete
die Enten im Fluss,
die Entenmutter und ihre kleinen Küken,
während die Sonne unsere Schatten streckte.

 

„Zeitalter der Aufklärung“

Oh, ihr Konventionen der Morgenstunden,
ihr priesterlichen, nach denen des Schlafes
(hör die Trommeln des sibirischen Schamanen):
Ich merke, dass die aufgerissene Stelle
zwischen den Zehen wieder schmerzt.
Das Muskelverspannungscremegift
ist in die ekle Wunde gesickert.
Meine Fußknöchel pochen.
Nie hast du deine Ruhe, nie!
Die Konventionen der Gewöhnung,
weil die Realität mich umstellt
wie Philipp II von Spanien seine Akten
in seinem kleinen Arbeitszimmer,
in diesen Morgenstunden.
Was für ein Sommer: vorgestern schon
zog über die Stadt eine hellgraue Wolkenwurst,
wälzte vom Fließband des Himmels
ihren faden Wasserleib Richtung Alpen,
um sich über verirrten Wanderern
zu entladen – Selbstmörder, Wahnsinnige,
von Sommergewittern angeschwollene Flussfluten,
Politiker, die wegen veruntreuter Gelder
beim Interview weinerlich werden,
die vor zwanzig Jahren von ihrem Mann
verlassene Frau, kinderlos,
im regentriefenden Park ihren Hund
ausführend (wo sind all die Männer?),
in Wien wieder eine Beislbesitzerin
hinterm Tresen erschlagen,
Frachtflugzeuge, die tonnenschwere
Kabelrollen transportieren …
Oh, ihr Konventionen der Morgenstunden,
oh, ihr Konventionen der Arbeit
(die Pyramiden, Glühbirnen,
die 3-D-Drucker, denk an all die Chirurgen,
Zuckerbäcker und Finanzamtsbeamten),
die Konventionen der so genannten Sommertage:
Aber was sich Johanna die Wahnsinnige
vom Leben erwartet hat, was Nofretete,
was Iwan der Schreckliche oder Mutter Teresa,
weißt du es wirklich?
Die in die Wunde gesickerte Creme.
Immer wieder erstaune ich,
dass ohne Ordnung alles zerfallen würde.
Das Chaos existiert nicht.
Neurosen sind ein gemeiner Mythos.
Sinnlos nach dem Sinn zu suchen.
Hier ist er: die Kabel verlegen sie im Ozean,
damit Helmut und Sheila, getrennt
durch Haifische, Meereswogen, Walfische,
Ölteppiche und Wracks gesunkener Schiffe,
miteinander sprechen können;
auch Transaktionen lassen nicht warten
auf sich, fantastischer als die Drachen
alter Sagen, fantastischer als Medusa,
Cerberus und Dänikens Außerirdische,
fantastischer als all diese Dinge,
vor denen Diderot und Voltaire und
all die kühlköpfigen Franzosen
pikiert ihre Nase rümpften … Aber auch jetzt noch,
wenn die Nebel sich heben,
wenn die Wunden sich schließen,
wenn das Meeresgeglitzer dich blendet,
wenn die Fluten an den Sandsäcken lecken,
auch jetzt noch trommelt der Schamane
unterm Grau des weiten Himmels
in Sibirien, in einer Lichtung
von schlanken Birken
den Rhythmus der Geburten,
schreit ihn hysterisch,
schreit ihn derwischgleich
in dein von Konventionen
verstopftes Gehirn.

 

„Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für die Liebe“

Ganz weit weg ist Alexander der Große
in der Schlacht von Issos und das Mosaikbild, das ihn preist.
Ganz weit weg sind Catilina, der Vulkanausbruch von Pompeji,
weit weg auch Karl der Große und die Schmach von Canossa.
Weit, weit weg der Wandteppich von Bayeux
und der Mut Wilhelms, der England eroberte.
Weit weg ist der Großinquisitor Nino de Guevara
und das Gemälde von El Greco, das ihn preist,
ebenso weit weg wie Charles Le Bruns Gemälde
von Ludwig XIV und sein Schreibtisch in Versailles,
weit weg wie der Sieg der Briten bei Trafalgar,
weit, weit weg wie Monets Sonnenaufgang
über dem Außenhafen von Le Havre,
weit weg ist auch der Friedensvertrag von Weimar,
weit auch der Duce von Italien,
der Panzerkreuzer Potemkin,
weit weg der Napalmkrieg im Jahre 1972
und das kleine Mädchen, das um sein Leben rennt,
weit weg die Frauen in Burka,
die für Ajatollah Chomeini auf die Straße gingen,
weit weg der Krieg im Kosovo,
ebenso weit weg wie die fallenden Zwillingstürme in New York,
alles ist so weit weg, weit, weit weg,
weil du weit weg bist und ich nicht weiß,
ob du wiederkommen wirst,
weit weg ist alles und unwirklich ist es geworden,
ja es ist so unwirklich geworden,
weil du und ich – weil wir uns
vielleicht niemals lieben werden.

 

„Wonnen der Gewöhnlichkeit“

Im bergenden Zwielicht eines schwülen Sommerabends
höre ich von weitem schon das summende Sausen
der ferngesteuerten Spielzeugrennautos: zwei sind’s,
auf dem dunklen Asphalt des leeren Parkplatzes
vorm Supermarkt. Erst höre ich das Summen,
dann sehe ich die Autos: wie hektische Insekten
rasen sie, mit ihren leuchtenden Spielzeugscheinwerfern
über den von der abendlichen Dunkelheit geplätteten Platz.
Dann sehe ich, hinter Müllcontainern versteckt,
die zwei Männer, ihre Fernsteuerungen fest in den Händen.
Zwei Männer in meinem Alter, nicht dünn, nicht dick,
nicht groß, nicht klein und, soweit ich das sehe, weder
besonders schön noch hässlich. Beide tragen Bärte.
Diese Wonnen der Gewöhnlichkeit … Doch wo sind ihre Frauen?
Wo sind ihre Freundinnen? Sitzen sie unter sich
und sprechen sie über zukünftige Kinder, über die Liebe
und dergleichen Dinge, über die, wie man sagt,
Frauen miteinander reden? Oder haben diese beiden
zehnjährigen Burschen, mit Bart, in meinem Alter,
gar keine Frauen, keine Freundinnen?
Sind ihnen die Zumutungen der weiblichen Biologie
zu mühsam, und haben sie sich vielleicht deshalb
auf dem auto- und menschenleeren Parkplatz verabredet,
an einem schwülen Sommerabend,
um die Wonnen der Gewöhnlichkeit auszukosten,
um über die technischen Details ihrer neuesten Fernsteuerungen
und die Raffinessen ihrer Autos zu reden, bei Bier und Zigaretten,
während die Straßenlaternen angehen und ich mich,
vorbeigehend, frage: Was ich eigentlich verstehe
unter diesen Wonnen der Gewöhnlichkeit?
Nicht dick, nicht dünn, nicht schön, nicht hässlich,
zwei Männer in meinem Alter, zwei Autos, die summend sausen
mit eifrig leuchtenden Scheinwerfern
über den schwarzen Asphalt des großen Parkplatzes
vor einem Supermarkt, in einer schwülen Sommernacht.

 

„Im 21. Jahrhundert“

Die Welt, wie sie lebt, ist allmählich vergreist.
Straßen und Plätze sind uniformiert.
Der Mensch ist gelangweilt und seelisch vereist
und glaubt, er hat Sex, da er nur onaniert.

Tag wird zur Nacht und die Nächte zu Tagen;
und elektrisches Licht verschluckt alle Sterne.
Und möchte ein Mensch einmal wirklich was wagen,
so muss er erkennen: Es gibt keine Ferne.

Alles ist nahe, erdrückend und statisch.
Nichts gibt’s zu entdecken, stets nur zu verbessern.
Und überall herrschen dieselben Gesetze,

und überall hört man nur Phrasen und Sätze,
die alles versumpfen und seelisch verwässern.
Der Mensch lebt. Doch wie? Sehr fad und apathisch.

 

„In diesen Zeiten, oder: O tempora, o mores!“

Wie soll man in diesen Tagen
ein Leben führen, das eines agilen Geistes würdig wäre?
Tourist zu sein ist eine Schande;
und wenn man nicht als Diplomat oder Agent
durch die Welt reist, ist es hoffnungslos,
auch nur irgendetwas Interessantes zu sehen.
In jedem Kuhkaff dieselben Ketten, Lokale,
im nördlichsten Finnland
dieselben Dummheiten und Phrasen wie
im zehnten Wiener Gemeindebezirk.
Menschen, die von Wladiwostok bis Windhoek
dasselbe denken, in dieselben Geschäfte gehen
und überall die aufgehetzten Bürokraten,
die, wie in Australien neulich, eine Mutter mit Kind
aus dem Krankenhaus werfen,
weil sie im falschen Distrikt ins Krankenhaus
gegangen ist. Ich kann schon verstehen,
dass das arme Computersystem
von diesem Fall überfordert worden wäre.
Wer soll einem jetzt leidtun?
Die Computer, die überarbeiteten Bürokraten,
die Mutter, deren Kind auf dem Weg ins korrekte
Krankenhaus gestorben ist?
Wie soll man in diesen Tagen – aber das
haben sich wahrscheinlich Platon und
Milton und Ludwig Feuerbach auch schon gefragt –
ein des Geistes würdiges Leben führen?
Frauen Mitte dreißig werden krankhaft ehrgeizig
und sitzen in von Neonlampen kopfwehhell
erleuchteten Büros mit grauen Teppichböden
und abgestandener Luft, bis 22 Uhr,
weil sie kein Kind haben; und die, die eines haben,
planen die Chinesischkurse
und die notwendige Wochenration Ritalin vor,
während andere sich ihren Penis wundscheuern,
weil sie nicht aufhören können,
sich Pornos anzuschauen, in der Hoffnung,
ihre Frau komme nicht dahinter,
denn wittern tut sie schon was.
Ach von wegen, dass früher alles besser war,
das behaupte ich auch gar nicht.
Das ändert aber nichts daran,
dass ich mir ein Leben als Diplomat
mit schön geschnittenem Anzug
und teurem englischen Hut aus bestem Filz
irgendwo in Mexiko zu einer Zeit,
als die Mädchen dort noch nicht wussten,
was Gucci und Prada sind,
spannender vorstelle –: Und, na klar,
mit einer hübschen jungen Geliebten,
die mir eine dramatische Szene macht,
nachdem sie erfahren hat,
dass ich sie in meine neueste Kurzgeschichte
eingebaut habe …
Aber solche Phantasien sind eitler Humbug.
Die kamen mir nur, weil ich neulich ein Buch
von G. Greene in der Hand gehalten,
aus dem Fenster geschaut habe und es satt hatte,
dass es am Sonntag wieder regnet,
dass ich kein Geld habe
und schon wieder wegen dieser Pandemie
Grenzen geschlossen werden und Menschen
in Düsseldorf in Panik geraten, weil sie
ihre kranke Mutter in Padua nicht pflegen können.
So schließt man die Grenzen, so wie
früher Kaiser und Papst
einander wechselseitig gebannt
und ausgeschlossen haben.
Ach Gott, wie öd, es gibt wirklich
nichts Neues, nichts Neues
unter der Sonne.

 

„Fenster“

Im hohlen Zwischenraum
der zwei Fenster
sammelten sich jeden Sommer
die Leichen der Fliegen.
Die Fenster waren staubig
und das Licht durch sie immer gelb.
Die Fenster in dem Zimmer,
wo wir zum ersten Mal
im selben Bett übernachteten
und aus dem ich, Jahre später,
den Kopf hinausstreckend
in die eisige Kälte,
die Sterne sah,
als wäre der leuchtende Mond
zerborsten
in hunderttausend Splitter.

 

„Epiphanie“

An jenem heißen Sommertag
in der menschenleeren Stadt
saß ich in meinem Wagen
vor der sinnlos roten Ampel,
vor dem blendend weißen Zebrastreifen,
über mir der blaue Himmel,
als plötzlich sie von rechts
die leere Straße überquerte,
in einem blauen Kleid mit weißen Punkten
und ohne Schuhe, ohne Socken, nackten Füßen,
mit dem dünnen, roten Garn um die Fessel
ihres linken Beins,
als plötzlich sie die Straße überquerte,
die roten Schuhe in der Hand,
sie baumelten in ihrer Hand,
als plötzlich sie die Straße überquerte,
ohne Blick zu meinem Wagen, wie versunken in
das Weiß des Zebrastreifens,
als plötzlich sie die Straße überquerte
und ich wusste, dass ich sie begehre,
und ich wusste, dass ich sie liebe,
als die Ampel schaltete
und ich durch die menschenleere Stadt fuhr,
geblendet von mehr als der Sonne,
die über mir im blauen Himmel schien,
weiß Gott, wo, ich wusste nur:
dass ich liebe, liebe, liebe …

 

„Kiiseli“

An einem stillen Nachmittag, im Hochsommer,
im hohen Norden, als der Pan schlief,
saßen auf der Terrasse eines Hauses aus Holz,
rot, mit weißen Fensterrahmen,
Vater, Mutter, Kind und aßen,
still blickend auf den blendend glitzernden Fluss,
in hellem Rot leuchtende, noch von Kernen,
klitzekleinen Kernen durchsetzte Beerengrütze
aus einer Schüssel aus Glas, rein wie der Fluss,
mit einem weißen Häubchen Schlagobers garniert,
an einem stillen Nachmittag, im Hochsommer,
im hohen Norden, als der Pan schlief.

 

„Der Lauf aller Dinge“

I
Der Pastor predigt den Kaltherzigen,
der Dichter gibt sein Schönstes,
wirft Perlen vor die Säue.
Wer liebt, versucht zu retten sich selber
und das Geliebte, bis er am Ende
erkennen muss: Es war alles Haschen nach Wind.
Du ziehst eine Bilanz und wunderst dich,
dass du noch lebst, eine lebendige Leiche
unter unzähligen lebendigen Leichen,
lebendiger nur durch das Bewusstsein,
dass du tot bist,
weil deine Liebe nicht auf Anklang stieß,
weil dein Erbarmen missachtet wurde,
weil deine Erkenntnisse durch den Dreck gezogen wurden,
weil man das Licht in dir austrat mit Füßen:
Die Glocken läuten,
der Dichter klappt seine Mappe zu,
das Publikum klatscht,
und Liebende gehen zugrunde an gebrochenem Herzen.
Finie la comédie, Vorhang!,
und gute Nacht.

II
Die Lebenszeichen anderer nimmt er begierig auf,
atmet sie wie frische Luft,
sodass er die Lebenden erstickt,
sich nährend an ihnen wie ein Parasit.

Der Fehler der Lebendigeren:
Dass sie Mitleid mit ihm haben
und sich hoffnungsfroh täuschen lassen
von seiner nun geblähteren Brust.

Ihr größerer Fehler:
Dass sie ihn nicht totschlagen
und vergessen.

Wer gibt, wird immer geben.
Und wer nichts hat, dem wird
das Letzte, was er hat, genommen.

 

„Tagtraum“

Das schläfrige Hellblau des Himmels
und eine Sonne, die nicht blendet, hinter
einer dünnen Schleierwolke, die sie verdeckt
wie ein fast durchsichtiges Kleid
den schönen Körper einer jungen Frau.
Ich dämmere dahin im Zug, plötzlich
mit leichtem Erschrecken vor der Stille
der Landschaft, die vorüberhuscht, weil
mich dieses milde Licht erinnert an gewisse Tage
voller Wollust und Wehmut und unversehens
fühle ich, fühle es zu deutlich,
dass eine Frau, die ich liebe, mit milder, warmer,
feuchter Zunge, still und hell wie die Sonne über den Hügeln,
mein Glied liebkost und ich seufze,
weil ich es nicht nur fühle, nein,
weil mir ist, es geschehe in diesem Augenblick.
Ich schrecke auf – die wenigen Menschen im Zug
schweigen, in ihre Telefone, in ihre Bücher vertieft.
Könnte jeder Tag so ein stiller Feiertag sein,
die Menschen wären ruhiger und zufriedener,
und auch die Landschaft scheint vor sich hin zu dösen,
doch ich greife, wieder erwacht, zu meiner Tasche,
denn bald – schon die nächste Station – muss ich aussteigen.
Ich stelle mich vor die Ausgangstür,
blicke in den blauen Himmel, das alles gutheißende Licht,
auf die noch grünen Hügel und lächle: Noch
wölbt sich ein wenig das Glied in der Hose, doch
bald, beim Nachhausegehen, werde ich wieder
auf andere Gedanken kommen …
Der Zug hält, ich steige aus.

 

„Am Vormittag“

I
Hinterm rotgestrichenen Holzzaun flimmerte am Vormittag
um neun Uhr der Fluss wie ein alter Fernsehbildschirm. Die Sonne
war den unschlüssigen Gewitterwolken hilflos ausgeliefert.
Hell und dunkel, als klappte jemand Jalousien auf und zu,
war das Gras und kein einziger Vogel setzte sich auf den Zaun.

Sicher, sagte ich mir, in jugendlichem Überschwang
magst du dran glauben, dass die Liebe dich erlösen kann,
aber die Menschen lieben dich nicht, wenn sie dich nicht bewundern können:
damit sie stichhaltigere Gründe haben, dich zu hassen,
grausame Neugier zu bekunden, oder
sich mit deinen Erfolgen zu schmücken.

Wie ein leerer Bahnsteig war der Zaun leer. Die Abstände
zwischen den Holzlatten traurig notwendig wie die Abstände
der Querbalken von Schienen, so notwendig wie kein Schicksal
es ist, so monoton wie jenseits des Flusses der rauschende Verkehr
von der Straße.

Oder du siehst ein: Die Menschen bestehen alle möglichen Prüfungen,
bloß die menschlichen nicht. Erwarte keine Liebe. Sei nicht kindisch.
Leiste, arbeite. Leide … und wenn du vom Selbstverständnis der anderen
genug hast, erinner’ dich an deine metaphysischen Träumereien
(ja, das waren noch Zeiten).

Monoton eilen Schattenflecken über die abschüssige
Uferwiese, die Wasserblumen bewegen sich nicht vom Fleck,
sind nicht so stechend grün wie das Gras.
Einlullender Wind, jetzt endlich kommt der Fluss in Bewegung mit
regelmäßigen Schäfchenwolkenwellen.

Aber schau, man kann nicht auf jeden asozialen Trampel Rücksicht nehmen.
Jugendliches, Menschliches hin oder her. Entweder du kommst jetzt mit
oder nicht. Du strapazierst schon seit tausend Jahren meine Geduld.

Die Gewitterwolken können sich nicht entschließen und greifen
unserer Unschlüssigkeit vor. Stechendes Grün hier und Roggenbreibraun dort,
im Wasser, von Wolken beschattet, unter dem Schlamm.
Und Gedanken, die aus den Ästen der Bäume ausgesponnen sind
wie der letzte Faden einer todgeweihten Spinne im
Visier einer diebischen Elster.

II
Der Fluss ist bleiglatt und wie ein altes Fließband
schleppt er sich dahin; die Schaumflecken langsam,
kopfhängend wie die Grande Armée nach dem Abenteuer in Moskau.
Trüb ist die Luft, wie Anfang Oktober.

Sie tun ihre Pflicht unter der Woche, bleiben
sonntags lang liegen, schlagen die Zeit tot, dass sie aus allen Poren blutet.

Reglos hängen herab die Buchenblätter, Tannennadeln,
wie Klageweiber am Wegesrand.
Zwei Möwen spielen Fangen über der Spiegelfläche des Flusses.
Sie ärgern mich, weil sie den Wasserspiegel
absichtlich nicht mit den Flügeln streifen.

Sein geistiger Horizont endet am augennahen Hügel
seines Neids, seiner Missgunst. Alles, was er tut, tut er aus Neid.
Darum das Erlahmen der Kräfte in der Mitte, wo die Schöpferischen
erst so richtig in Fahrt kommen …

Kraftlos wälzt sich der Fluss weiter wie ein Fließband.
Nein, nicht Nebelschwaden verschleiern Ufer und Fluss.
Die Wolken sind’s, wie im Oktober, wenn die Blätter braun und feucht werden.
Wenn der Boden wie Erde auszusehen beginnt, wenn Zeit ist für
Sentimentalitäten oder nur andeutungsweise entblößte Haut
und Küsse, die du niemals mehr vergessen wirst.

Also, ich bitte dich, du sagst, dein Sohn sei faul.
Aber auf der Dienstreise klagst du über die Langeweile im Hotelzimmer.
Kommst aber in hundert Jahren nicht drauf, ein Buch zu lesen
oder das Zimmer zu verlassen.
Immer sind’s die anderen.

Ein Herz sei ein zu kleiner Hügel, um dran zu ruhen,
las ich neulich. Inmitten jenes Sees, den ich mir jetzt denke,
erhebt sich ein Hügel. Drauf eine Laube mit griechischen Säulen.
Das Wetter: wie hier am Fluss. Alles bleiglatt.
Ringsherum Waldesstille, das Knacken im Unterholz, wenn Tiere
gähnend durch den Nebel schleichen.
Dort umfasst die Hand ihren Körper, spürt durch die drei Schichten
Herbstkleidung die junge, warme Haut.
Die zwei Möwen spielen auch hier ihr Spiel.
Wenn wir auf dem Ufer ein Auto auf dem sandigen Parkplatz hören,
lassen wir voneinander ab, fahren mit dem Floß zurück.

Der See ist bleiglatt, die Luft ist grau wie Anfang Oktober.
Schweig. Ich will nichts hören von deinen Pflichten und Dienstreisen.
Lass, Mensch, mich in diesen Augenblicken – sie kehren niemals wieder –
in Ruhe mit deinem grotesken, schrillen Geschwätz.

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Simon Konttas, 1984 geboren, ist finnisch-serbischer Abstammung; er ist Autor von bisher elf Büchern in fünf verschiedenen österreichischen Verlagen: von Romanen, Erzählungen, Novellen, Essays und Gedichten. Sein reichhaltiges Schaffen wurde, außer in Einzelpublikationen, vorgestellt bei etlichen Lesungen, in renommierten Literaturzeitschriften, im Radio sowie im Rahmen seiner Poetik-Gastdozentur an der Universität Jena/Deutschland. Konttas ist tätig gewesen im finnischen Gemeindedienst, in Österreich als Bibliothekar und Lehrer; seit drei Jahren ist er Seelsorger an einer Wiener Justizanstalt. Die letzten zwei Publikationen: Unter den Birken vielleicht (Gedichte; Verlag Hans D. Smoliner) sowie Grausames Licht (Erzählungen; Sisyphus-Verlag).

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.