geschichte ohne namen

Von Semier Insayif. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXV

Online seit: 15. Oktober 2021
Semier Insayif
Semier Insayif

wer er sei. fragten sie. wer er sei. sei ohne belang. er sang es beinahe. sang es so vor sich hin. und stellte es dicht neben sich. diese vorstellung. trug er. wie einen fund. murmelnd. in einem kästchen. versteckt. oder anders gesagt. er trug diesen fund als zweite haut an seinem körper und vor seinem gesicht. das machte ihn überhaupt erst möglich. machte ihn zu dem der er war. oder sein würde. und. es machte es ihm möglich diese sätze zu denken. sie zu empfinden. sie zu sprechen und auszusetzen. diese erinnerung in seinem innern zusammen zu setzen. zu zeichen. wieder und wieder und immer wieder. auszumalen und umzuzeichnen. so konnte er jeder sein. und alle. zu jeder zeit. er zog einen kleinen würfel aus holz hervor. und blickte in seine augen. wer er sei. das sei ohne bedeutung. zumindest in seiner vorstellung. kauerte er am boden. die sonne war kräftig. er spürte ihre strahlen. auf seinem rücken. speicherte sich ihre wärme. sie stützte ihn. in dieser eisigen kälte. bei regen und schnee. regte ihn an. weiterzudenken. er rief sich ein schiff herbei. setzte es auf die am weitest entfernt zu denkende kante. an den letzten rand des horizontes. so dass es gerade noch wahrnehmbar war. dieses schiff. winzig klein. reflektierte den letzten sonnenstrahl. dieses zu hause. das nie an derselben stelle blieb. nicht bleiben konnte. und trotzdem immer sein zu hause gewesen war. gewesen sein könnte. er blickte an sich hinab. setzte sich und wartete. an einer straßenkreuzung. wartete bis eine kleine weißgraue feder vom himmel fiel. sie schwebte direkt auf seine geöffnete handfläche und blieb liegen. er öffnete seine augen. er war bereits an bord gegangen. entdeckte die gemeinsamen räume neu. jeden winkel kannte er. es waren ihre räume gewesen. sie hatten sich an bord eingerichtet. damals. ganz nach ihrem geschmack. die segel waren gesetzt. sie teilten vieles. so auch die vorstellung vom unterwegs sein. vom zuhause sein. von linien punkten und strichen des nach hause kommens und wieder verlassens. von der geometrie der an und ab wesenheit und des stets in bewegung und doch immer schon da seins. sie legten an. er steckte den kleinen würfel in seine linke manteltasche. und zog einen größeren dunklen hervor. und dann. gingen sie gemeinsam von bord. hin und wieder musste es sein. die weißgraue feder in händen erforschten sie die küste. das wasser. das land. die wälder. die luft. die straßen. häuserschluchten und menschen. er träumte weiter. alleine an bord. vom heimlichen leben. vom damals. niemand konnte es ahnen. niemand wissen. dass es so kommen würde. dass dieses schiff. ihre behausung. niemand hatte damals auch nur die geringste vorstellung davon. er öffnete den großen dunklen würfel und entnahm seinem inneren einen kleineren ebenfalls dunklen würfel und blickte in zwei augen. als sie das land betreten hatten. nach der überfahrt. begegneten sie anderen menschen. und solchen die sich so nannten. erzählte er. als er wieder zurück. als er wieder von bord war. zurück vom horizont. er erzählte vom schiff. erzählte von ihr und von den anderen. dort drüben. die aussahen als seien sie menschen. und doch war er sich nicht sicher. irgendwie waren sie anders. menschlicher würde man hier vielleicht sagen. dachte er während er seine lippen zu den worten lautlos bewegte. und gerade deshalb sei es nicht eindeutig auszumachen gewesen. selbst in seiner erinnerung blieb ein salziger geschmack an seinen lippenrändern kleben. wenn er davon berichtete. wenn er sich erinnern ließ. wenn ihn die bilder rahmten. von damals. die bilder vom schiff. die bilder von ihm selbst. die bilder der bilder. und seine bilder von ihr. von sonne und mond. von den sternenstrahlen. den anderen. und der kleinen weißgrauen feder. die so weich in seiner hand lag. er sang dies alles förmlich in sich hinein. ab und zu jedoch blieb jemand stehen. wenn er den kleinen würfel aus holz am rauen asphalt der straße springen ließ. und manchmal hörte ihm auch jemand zu. hörte genau hin. ließ sich einfangen. von seiner stimme. von seinem erzählen. und wurde weggespült. ging auf reisen. für ein paar momente. einige augenblicke. wer weiß schon wie lang. und dann verklang das bild und die schritte. er ging wieder weiter. oder sie. entfernte sich. verlor seine stimme aus den augen. und seinen geruch. aber auch dies war ohne belang. wer er sei. wen interessierte das schon. nicht mal ihn selbst. sie allerdings hatte es neugierig gemacht. sie wollte wissen. wollte wissen wer er war. wer er sei. wer er ist und wer er werden wollte. wollte wissen von ihm. wollte mehr. immer mehr. anstatt auf das wasser zu sehen. sagte er leise. und entnahm dabei dem großen dunklen würfel einen weiteren kleinen und blickte in vier augen. gemeinsam eine blickrichtung zu teilen. auf dem meer zu gleiten. auf das meer zu schauen. und gerade dadurch zu einem punkt zu werden. zu einem einzigen ausgangspunkt. und das wurde man nur dann wenn man nicht gegenüber. wenn man sich nicht in die augen. wenn man nicht vom anderen wissen will. sondern. wenn man einfach gemeinsam auf etwas. blickt. hört. achtet. lauscht. dann. sagte er. kaum noch hörbar. dann. hört man den atem. neben sich. und in sich. und um sich. und alles beginnt. ein und aus. und verschmilzt zu etwas. zu einem ganzen aus teilen und das gleichmäßig und rhythmisch. dann vermischen sich geschichten erinnerungen gerüche. und zahlen. auf dem würfel. werden erzählungen. was er erzählen kann. sind nur gerüchte davon und doch. empfand er soetwas wie berührung. damals. wenn jemand stehen blieb. und ihm beim erzählen zusah. mit ihm einen moment teilte. ohne zu wissen wovon er sprach. und wer er sei. ohne grund und ohne ziel. denn das sei ohnehin ohne belang. sagte er stets. wenn ihn jemand nach seinem namen fragte. dann zog er diesen kleinen hellen würfel aus holz hervor. und blickte auf seine linien und kanten. und fiel tief in das eine in das einzelne auge. das ganz im zentrum ruht ohne sich auch nur ein einziges mal schließen zu müssen. oder zu wollen. kein blinzeln. kein tränen. kein wimpernschlag. meist gingen die fragenden recht bald wieder weiter. dann saß er ruhig mit verschränkten beinen und öffnete die zur faust geballte hand. die vogelfeder lag in ihr. weißgrau. zitternd bei der kleinsten erschütterung. bei der kleinsten bewegung. wer er sei sei ohne belang. die segel jedoch. ihr ziehen zerren und knattern im wind. war eine sprache die ihm gefiel. und so fiel er und fiel immer tiefer in das schiff und das meer. und verfiel der sonne. dem sonnenmond um ihren hals. und ihr selbst. die mit ihm an bord gegangen war. sie wollte es. und. er wollte es so. wollte ihr ganz und gar verfallen. allen warnungen zum trotz. alleine schon ihrer sprache wegen ihrer anmut. alleine des meeres und des lichtes wegen des schiffes und wegen ihres augenaufschlags. kurz bevor sie anhob etwas zu sagen. dieser kaum merkbare moment. diese kürzestankündigung. bevor sich ihr brustkorb hob und kurz innehielt. und ganz besonders wenn sie wollte – und dann doch nicht. dann war der augenaufschlag zwar kleiner und unmerkbarer. gleichzeitig jedoch. war er größer. und tiefer. und reichte bis ganz tief. in sie hinein. fiel er. was für ein moment. sagte er einmal. und wusste nicht ob das seine sprache war geschweige denn seine stimme in der er dies ausdrückte. alleine dafür wollte er mit ihr an bord gehen. und nicht mehr. als das meer betrachten. und in seiner vorstellung das schiff von kante zu kante treiben lassen. an den rand jedes einzelnen horizontes. ohne zu wissen. wieviele horizonte es zu sehen gäbe. und ohne zu wissen. aus wievielen kanten ein horizont eigentlich bestünde. an welchen rändern ein horizont zu verschwimmen drohte. oder auszufransen. ob die fransen eines horizontes schon den beginn eines neuen ankündigten. oder sein ende. ob diese linien ein muster ergeben würden. und ob sie gemeinsam in der lage wären es zu sehen. zu zeichnen. zu erinnern. zu erzählen davon. und wie sehr die segel seines schiffes die kante des horizontes zu berühren imstande wären. ob sein segel ein flügel werden könnte. der flügel eine feder. und die feder eine hand in der sie selbst weißgrau und weich zu liegen kommen könnte. ob sie sich fallen lassen würden. in das segel. in den flügel. in die feder. in die augen des würfels. in seine oder ihre hände. ob sie dabei diesen kurzen augenaufschlag. nur für ihn. einfach so. weil sie dann nämlich vielleicht mit den wimpern die linie des segels kreuzen könnte und damit die kante des horizontes und mit diesem flügelgleich den rand seines blickes um damit die spitze der feder zu streifen in der spiegelung des sonnenstrahles in den sechs augen des dritten kleinen würfels den er aus dem großen dunklen nahm. allein dafür würde er gerne an ihrer seite bleiben. allein dafür würde er gerne mit ihr auf reisen gehen. mit ihr verschwinden. verloren gehen. ihr nicht gegenüber sitzen. sondern immer seite an seite. um ihre ausrichtung zu spüren. ihren blick zu seinem zu machen. und seine linie zu ihrer linie. dabei wäre es ohne belang wer er sei. oder sie. oder es. er würde niemals von ihr erzählen müssen. er würde niemals von den linien berichten müssen. niemandem zu erklären versuchen was er meinte. was er wollte. was er dabei empfand. weil er ja mit ihr. und sie mit ihm. weil sie gemeinsam an bord dieses schiffes. das er an die äußerste kante des horizontes gesetzt hatte. und sie. und damit nicht weniger tat als das was er unbedingt tun mochte. mit ihr tun wollte. und sie mit ihm schon längst machte. vielleicht sogar musste. nämlich das meer. nämlich betrachten. aus einer gemeinsamen richtung. einfach nur betrachten. hineinblicken. und dabei versinken und gesehen werden. aus einer gemeinsam gezogenen linie im augenblick ihres augenaufschlages. in diese eine welle. fallen. das gefiel ihm. erzählte er leise. das würde ihm gefallen haben. als eine schar vereinzelter menschen sich um ihn gestellt hatten und seinem flüstern seinem schreien seinem raunen und erzählen lauschten. als triebe seine geschichte eine bugwelle vor sich her. wohin ihn sein schiff gebracht hatte. wohin seine horizonte schweiften. woher er zu fallen gewohnt war. wodurch seine linien sich weiter zogen. und ihn selbst an seinen eigenen wimpern. voran. und zurück. in jedem fall mit ihr und ihnen. zusammen. und aus ein ander. das war ohne belang. das war doch völlig ohne bedeutung. murmelte er und sang daraufhin eine leise melodie die er ihr damals schon als sie zum ersten mal von bord gingen. dabei beschrieben seine wimpern eine bewegung die vom lid seines auges ausgehend in einer linie zum horizont – an dem ein schiff gerade im begriff war seine segel einzuholen ohne das ruder herumzudrehen und ohne ein ziel anzusteuern. einfach nur treiben lassen. im wind. sagte er sich. einfach nur fallen lassen. und wieder erzählte er vom fallen. vom fallen aller dinge. als wär der wind sein segel ihr lungenflügel und der schiffsbauch seine brust und ihr atem die luft die es in bewegung hielt gerade eben weil in diesem augenblick ein grünäugiger würfel aus stein aus seiner tasche fiel und ihr kurzer augenaufschlag in seiner erinnerung sechsäugig die kleine weißgraue feder aus seiner geöffneten handfläche wehte.
auge um auge flüsterte er und seine rechte hand griff nach einem stock. ein stock der auf seinen verschränkten beinen lag. beinahe ruhte. balancierte. er wollte nicht mehr aufstehen. sich nicht mehr erheben. nie wieder. war er doch gefallen. und das fallen gefiel ihm. redete er sich zu. nur noch fallen. aus der zeit. aus der welt. selbst im sitzen konnte man tief fallen. wenn man sich nur darauf einlassen würde. auf sie. auf sich selbst. auf einen anderen. auf ein anderes wesen. eines das man nicht selbst ist. nie sein könnte. eine stimme näherte sich seinem linken ohr. flüsterte. öffnete seine linke hand. die zur faust geballt immer noch diese grauweiße feder. hielt schützte drückte. und legte einen würfel in seine alten handflächen. die drei augen berührten die haut seiner finger. er tastete die straße das segel und eine hand. er hätte jeder sein können und jede. und das zu allen zeiten. jung alt. maskiert oder unmaskiert. sein gesicht eine art offene wunde nach innen. er hatte sich noch immer nicht früh genug aus dem weg geräumt. aus dem weg geträumt meinst du. flüstert die stimme. oder sichtbar zum verschwinden gebracht. mit welcher wende. wäre das je möglich gewesen. mit welcher windung. verbunden oder getrennt von ihr von den anderen von seiner vorstellung. verstellt er sich die sicht auf das weitere. auf das ferne. das nah entfernte. das vergangene und auf ihn zukommende. das unvorhersehbare. sang er leise. und ob man will oder nicht. das unvorstellbare geschieht. in seiner betörenden schönheit. in seiner unfassbaren grausamkeit. in einer gleichzeitigkeit die eine gleichgültigkeit voraussetzt. die er nie in der lage war zu erreichen. verschwinden sagt er ist ein vielfältiges erscheinen.

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semier insayif, lebt als dichter und freier schriftsteller in wien, kunstübergreifende projekte mit musikerInnen, komponistInnen, bildenden künstlerInnen, tänzerinnen, leitung von schreibwerkstätten, konzeption und moderation literarischer veranstaltungen. einzelpublikationen u.a.: über gänge verkörpert, gedichte, libellen tänze – blau pfeil platt bauch vier fleck, 6 suiten, faruq, roman, boden los, gedichte, alle haymon verlag, innsbruck 2012, zuletzt: mondasche, buch und CD, klever verlag, wien 2019, www.semierinsayif.com

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.