Ich hab die Erde verlassen, um dunklere Planeten zu suchen, ein Sonnensystem, das total dicht an einem schwarzen Loch vor sich hin rotiert. Ich ging fort, um einen neuen Gott zu finden. Ich trau dem Gott nämlich nicht, den du uns gegeben hast. Das Halleluja meiner Oma wird nur von der Angst übertroffen, die in ihr wächst, jedes Mal wenn ein blutfetter Sommer wieder ein Kind schluckt, das früher mitsang im Kirchenchor. Diesen Gott kannst du selber behalten. Obwohl seine Lieder herrlich sind, sind seine Wunder widersprüchlich. Ich will das Schicksal des Lazarus für Renisha, will, dass Chucky, Bo, Meech, Trayvon, Sean & Jonylah auferstehen, drei Tage, nachdem sie begraben worden sind.“ (dear white america)
Wir hören hier nicht den bitteren, passivischen Ton eines dramatisch übersteigerten Opfer-Posings, sondern ein verspieltes Schweben, das rasch zu aggressivem, intelligentem, gewieftem Ausdruck von Befreiung und Selbsthabe umschlägt, kurzum: Ein herrlicher Ton, der Emanzipation als positive Setzung ergreift.
Diese Stimme ist der 28-jährige amerikanische Dichter Danez Smith aus St. Paul (Minnesota). Zuletzt war Danez Smith mit seinem Gedichtband Don’t call us Dead (Graywolf Press, 2017) Finalist beim renommierten National Book Award. Im New Yorker lobte Dan Chiasson den Dichter dafür, dass er den „schwarzen schwulen Körper“ neu auf der literarischen Karte Amerikas verortet. Wir finden hier einen poetischen Diskurs, der sich sowohl aus Edmund Whites Buch The Joy of Gay Sex (1977) als auch von den Gedichten von Essex Hemphill (1957–1995) oder Assotto Saint (1957–1994) nährt. Es sind dies Texte, deren Stimmen dezidiert auf die Person ihres Autors verweisen, die Biografie und Autofiktion auf komplexe Weise verzahnen. Wie verhalten sich solche Texte zu etwa Henry Wadsworth Longfellow, Allen Tate oder sogar Hart Crane, die man konsumieren kann, ohne sich von der Situation oder Biografie ihrer Autoren stören zu lassen?
Der Mund des nächsten Mannes
Die Bildsprache Smiths wird dominiert von Vitalität, die ironisch gebrochen ist. Das Gedicht „Anmerkung zur Smartphone-App, die mir sagt, wie weit ich vom Mund des nächsten Manns entfernt bin“ hebt an mit: „kopflos, gaulbehangener Reiter galoppiert an mein Tor heran / bekleidet in Bildern, die er von Google geklaut hat“ – und variiert dann die Erfahrung randomisierter Promiskuität zu Sentenzen wie „ich hocke auf dem Gesicht eines Typen, den ich gerade kennengelernt habe // er flüstert seinen Namen in meine untere Öffnung“, um endlich mit der tragischen Erkenntnis „ich singe einen Song über Einsamkeit“ zu schließen.
Autorenschicksal und Textgestalt
Solche Texte flankieren Poeme, die Rassismus und Waffengewalt thematisieren, doch sie verschärfen gleichzeitig solche Erfahrungen, indem sie eine Bühne unabweisbarer Humanität bereiten, darauf sich ein lyrisches Subjekt in der Gestalt seiner Lust und Widersprüchlichkeit präsentiert. Es wird Zeit, im Blick auf die systematische Verkopplung von Autorenschicksal und Textgestalt, die hermeneutischen Brenngläser neu zu fokussieren. Gewinnen können wir daraus ein größeres Unbehagen am literarischen Text. Puristen werden vielleicht davon nervös, weil die Lektüre avant la lettre ansetzt. Die Kritikerin Kate Kellaway notiert u.a. im Guardian, dass Danez Smith als geradezu andächtiger Fan von britischen Kochsendungen dabei oft zu Tränen gerührt ist.
Die Lektüre der Gesunden
„Zwei Typen liegen an einem Dienstagnachmittag in der Kiste & / keiner kennt den Namen des anderen, denn sie trafen sich erst / am Morgen auf ihren Smartphones & waren nur 1,2 Meilen / voneinander entfernt & liegen daher jetzt beieinander & einer / gräbt sich mit der bloßen Hand in den andern, zieht / eine Parade fantastischer Bestien aus ihm heraus.“ So beginnt der fünfteilige Zyklus „Serokonversion,“ der die Ansteckung mit HIV dramatisiert. Smith erzwingt eine Perspektive, die ich anderswo als Salutonormativität bezeichnet habe: Plötzlich nehmen alle Gedichte im Band eine neue Qualität an: Die Lektüre der Gesunden – ihre Sprache, ihre Gesetzmäßigkeiten, ihre Ordnung der Welt – zerbricht, verliert an hermeneutischer Deutungskraft. Texte des Kranken offerieren sich nicht als beschädigte oder infizierte Texte, sondern führen ihre Insistenz auf Lust und Teilhabe einer signifikanteren Komplexität zu. Wir sollten uns jedoch daran erinnern, dass Danez Smith nicht aus einer Tradition kommt, wo man Heinrich Böll liest, bevor man das Mülltrennen lernt. Seine Texte sind Dokumente wahrhaftiger Befreiung. Warum?
Müßige Aufklärungsathletik
In ihrem Buch AIDS and Its Metaphors (1989) kapriziert sich Susan Sontag auf Metaphorizität als eine diskriminierende bzw. marginalisierende Kraft, die den neutralen Begriff der Krankheit beschmutzt, indem sie Krankheit mit Bildern der Seuche, der militärischen Invasion, der Verschmutzung assoziiert. Danez Smith stellt Susan Sontags problemorientierte Debatte jedoch auf den Kopf. Er will keine stigmatisierenden Metaphern entzaubern, sondern stattdessen den vitalen Raum, den Willen, die Lust zur Lebendigkeit hell ausleuchten. Das ist eine große Leistung. Danez Smith hat keine Zeit für müßige Aufklärungsathletik; er will die diskursive Luft nicht durch öde Pädagogik verbrauchen; stattdessen lieber in die ambivalente Welt der absurden Selbstbehauptung eindringen, ihr Raum und Geltung verschaffen, und schreibt so wundervolle Etüden über Vaseline oder Zeilen wie diese: „a. das Geräusch, das er machte, als ich am tiefsten in ihm drin war / b. das Wort, das aus seinem Georgia-Mund in mein Yankee-Ohr glitt / c. der Gesichtsausdruck, als er am tiefsten in mir drin war.“ (Es handelt sich hier im Übrigen um ein weibliches Subjekt, eine Schwangere, die zum ersten Mal auf den Ultraschall blickt.)
Sicher lässt sich fragen: Sollen wir Texte deshalb lesen, sie als Literatur feiern, weil ihre Autoren eine spezifische biografische Erfahrung mitbringen? Ebenso lässt sich aber fragen: Was sollen wir mit Texten, die sich artig darum bemühen, die aufgeräumte Normalität ihrer Autoren zu – zu was – fiktionalisieren?
Danez Smiths eingangs zitierter Sprechtext „dear white america“, der übrigens auf YouTube zu sehen ist, basiert auf imaginativen Strategien, die sich leicht als neue Höhepunkte einer astrofuturistischen Literatur lesen lassen: „Ich habe die Erde verlassen & ich berühre alles, worum du deine Teleskope bittest, dir zu offenbaren. Ich gebe den Sternen ihre rechtmäßigen Namen.