Stamina

Von Sandra Gugic. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXI

Online seit: 17. September 2021
Sandra Gugic © Dirk Skiba
Sandra Gugic.
Foto: Dirk Skiba

Die Augen öffnen, auf dem Rücken treiben, unter einem restlos zufriedenen Himmel, alles an dieser Situation könnte richtig sein, aber im ersten Stock öffnen und schließen sich unermüdlich Fenster. Am Morgen durften wir zwischen vier Farben wählen. Meine Farbe ist Weiß. Wir sind zu dritt. Die Aufgabe von Weiß ist, was immer wir tun, es so langsam wie möglich zu tun, während wir uns frei in der Umgebung oder im Haus bewegen. Alles, jede kleinste Bewegung, das Gehen Trinken Urinieren Duschen, in größtmöglicher Langsamkeit auszuführen. Es braucht viel Selbstbeherrschung, sich Tropfen für Tropfen zu entleeren. Wahrscheinlich ist nichts unmöglich. Ich kann nicht sagen, wie lange ich gebraucht habe, um zum Pool zu kommen, aber hier bin ich. Obwohl ich mich nur wenig vom Beckenrand entfernt habe, muss ich mich anstrengen, nicht unterzugehen.

Wenige Meter entfernt, hinter der Begrenzung des Grundstücks, ist die Gruppe Rot damit beschäftigt, rückwärts Richtung Wald zu gehen, als Orientierungshilfe dienen Handspiegel. Sie queren das Feld im Sonnenschein. Ihr Anblick hat etwas Romantisches. Vorhin, auf meinem Zeitlupenweg über die Treppe in den Pool habe ich ihnen zugesehen, was ein Fehler war. Jede Ablenkung ist ein Fehler. Ich werde nachlässig in meiner Übung. Auch jetzt bewegen sich meine Arme und Beine zu schnell. Das unablässige Öffnen und Schließen der Fenster über mir könnte zur Gruppe Blau gehören. Wenn ich die Augen schließe, glaube ich einen Rhythmus zu erkennen, ein treibendes Stolpern. Im Augenblick kann ich nicht sagen, wo sich Gruppe Gelb befindet. Vermutlich hinter dem Haus. Auch wo der Rest der Gruppe Weiß sich aufhält, ist mir nicht bekannt. Ich weiß, dass die Assistenten ihre Runden drehen, um nach uns zu sehen. Sie verziehen dabei keine Miene. Lächeln selten, nicken. Ich arbeite mich an der Langsamkeit ab. Der Gedanke, dass es im Wasser leichter sein wird, war ein Fehlschluss. Ich bemühe mich, Mund und Nase über Wasser zu halten. Nichts zu denken. Und doch: Der Gedanke an die Fehlbarkeit von Erinnerung. Der Gedanke, dass es mir unmöglich sein wird, mich selbst zu überlisten. Im Versuch, die Ereignisse der letzten Minuten, Stunden, Tage zu rekapitulieren, muss ich feststellen, dass es mir unmöglich ist, aus der Perspektive von allen zu erzählen. Und sei es nur, um die Einzelheiten meiner Person zu verschleiern, was mir ein Anliegen wäre.

Dauer der Übungen: vier Tage. Anzahl der Teilnehmenden: zwölf. Für die Dauer der Übungen wird darum gebeten, weder zu sprechen noch zu essen. Auch Lesen und Schreiben ist nicht erwünscht. Jeden Tag sind Übungen in einer vorgegebenen Abfolge zu absolvieren. Die Anleitung jeder Übung wird unmittelbar vor deren Ausführung erläutert. Der Ausgangspunkt: den Körper als Haus denken. Wir trainieren den Körper, unser Haus, wir reinigen es und sammeln Werkzeuge, die uns helfen, unser Bewusstsein zu steuern. Die Grenzen auszuloten. Ein Abbruch der Übungen ist nicht vorgesehen.

Wir sehen: Die Umrisse einer Landschaft. Insektengeräusche. Das Pochen von Hitze in den Gliedmaßen, bis in die Fingerspitzen, unter der Haut. Der Körper abgekämpft von der Reise, dabei hellwach, das Herz sinnlos rasend. Vor dem Tor des Grundstücks steigen wir aus, stolpern vorwärts, auf die anderen zu, halten einen Augenblick inne. Eine Handvoll Menschen, die meisten sehen jung aus. Ich verwerfe den ersten Gedanken: lächerlich jung. Ein paar ältere, zwei ziemlich alte. Der Impuls auszuweichen, den Blicken und erwartbaren ersten Sätzen. Automatismen setzen ein, die Allgemeinplätze, das stumme Vergleichen. Die eigene Veränderung, im Ton, in der Haltung, das Triggern von unsichtbaren Punkten. Was wir sehen, wenn wir jemanden zum ersten Mal sehen ist das, was geworden ist. Oder. Wieviel mehr Zeit braucht es, die möglichen Leben dahinter zu erkennen. Der Gedanke, dass sich die Zellen im Körper alle sieben Jahre erneuern. Dass man sich irgendwann gegenüberstehen müsste, neu transformiert und dass es doch nicht so passiert. Die Vorstellung, nicht die einzige denkbare Version von uns selbst zu sein, hat etwas Tröstliches.
Die unausgesprochenen Fragen. Wer wird durchhalten? Ist aufgeben eine Option? Was sieht das Gegenüber an einem? Wie muss die Gegenwart beschaffen sein, um sich zu erfüllen? Das erste und das letzte Glied einer Kette ineinandergreifender Begebenheiten. Zwischen Routine und Ruptur. Wir stellen Fragen in dem beruhigenden Wissen, dass wir kein Gespräch zu Ende führen müssen. Wir sind hier, um zu schweigen. Hier, im Plural, suchen wir die Stille für den Aufbruch. Wir folgen dem Anfang von etwas, das wir für einen Weg halten. Wenige Schritte weiter, vor dem Haus, klafft ein schwarzes Loch in der Erde. Ein Pool ohne Wasser.

Das Surren von Ventilatoren erfüllt die Räume, der Geschmack von Verbranntem in der Luft und der Geruch nach Zitrone. Es ist ein anderes Haus als das im Werbetrailer und doch scheint alles seltsam vertraut. In Gedanken wiederholen sich die Bilder, Momentaufnahmen aus den Übungen, Close-ups konzentrierter Gesichter, Landschaft, Emotion, Atmo, Natur.
Das Erste, was zu tun ist: Wir legen alles Persönliche und alles Elektronische, das wir bei uns tragen, ab. Ordnen die gleichen Dinge den verschiedenen Wannen zu, eine für die Telefone, eine für Bücher, eine für Uhren, eine für Tablets, eine für alles andere. Die Bewegung der Körper und Hände über den Wannen. Wenn das alles wäre, was von uns bleibt, Relikte einer untergegangenen Zivilisation. Wir haben keine Möglichkeit, zu Hause anzurufen. Ich empfinde keinen Wunsch danach. Alle Verbindungen sind freiwillig gekappt.
Das Lächeln des Assistenten: You are free now. You should be happy.
Einmal möchte ich so lachen, dass Widerstand zwecklos ist.

Die Vorstellungsrunde bleibt aus und damit das Aufzählen möglicher Haltungen, Gründe, und alles, was damit zusammenhängt, Schicksalsmonologe, Kindheitsträume und Traumata. Der vorsorglich vorbereitete Satz, den ich nicht aussprechen muss: Ich kann das Gewicht meiner eigenen Vorstellungskraft nicht ertragen. Ein anderer, verworfen: Ich will die Ganzheit der Welt verteidigen. Niemand hat vor uns zu fragen, warum wir hier sind.

Das Öl, das wir einnehmen, ist ein Rezept des Hauses, weder bitter noch salzig, sondern ebenso farb- wie geschmacklos. Als unerwünschte Nebenwirkungen des Fastens können auftreten:
Kreislaufbeschwerden
Hypotonie
Kopfschmerzen oder Migräne
Müdigkeit
Mundgeruch und Menstruationsstörungen
Muskelkrämpfe
akute Rückenschmerzen
Veränderungen im Schlafverhalten
Vorübergehende Störungen des Sehvermögens
vorübergehende Flüssigkeitsretention
Die Schlafkojen öffnen und schließen sich bis spät in die Nacht. Das Öl tut seine Wirkung, immer wieder steht jemand eilig auf. Bis zum Morgen dürfen wir noch flüsternd sprechen. Ich denke so lange über einen letzten Satz nach, einen wirklich guten letzten Satz, bis niemand mehr wach ist, zu dem ich ihn sagen könnte. Es dauert lange, bis mein Körper reagiert, dann geht es sehr schnell. Den schwach beleuchteten Flur hinunter Richtung Gemeinschaftsbad, die Hände tasten an der rauen Mauer entlang. Im Bad auf dem Boden knien, in Stücke zerfallen. Schwitzend und zitternd aus nassen Kleidern schälen, ganz flach an die Fliesen gepresst liegen bleiben. Als ich das Bad wieder verlassen kann, brennt kein Licht mehr im Haus, nirgends. Ich flüstere meinen Satz in die schwarze Leere.

Das Rauschen von Wasser geht über in das Läuten einer Glocke. Ich wache auf ohne Hunger. Das Läuten nähert sich, entfernt sich langsam wieder, jemand läuft auf dem Flur vor den Kojen auf und ab. Ich höre, wie die anderen aufstehen, das Öffnen und Schließen von Fenstern und Türen, höre, wie jemandem ein Guten Morgen herausrutscht und niemand antwortet, drifte zurück in Traumbilder, schrecke hoch. Ich weiß nicht, wie viel Zeit seit dem ersten Aufwachen vergangen ist. Klettere aus der Koje ins Licht, folge den Geräuschen erst den Gang, dann die Treppe hinunter und weiter nach draußen, wo sich alle versammelt haben. Ich bin die Letzte, die dazustößt. Alles ist zu hell.
Ich kann mich an keines der Gesichter erinnern, es ist, als würde ich die Gruppe zum ersten Mal sehen. Das schwarze Loch hat sich in einen mit Wasser gefüllten Pool verwandelt. Es steht uns frei, Badekleidung zu tragen. Die meisten steigen nackt ins Wasser.
Kleider abstreifen, sich Zeit lassen, den Blick auf die anderen vermeiden wollen und doch nachgeben, der Gewohnheit folgen, die Körper einzuordnen in alt jung weich fest anziehend abstoßend, während ein Körper nach dem anderen mit jedem Schritt mehr mit der eigenen Spiegelung verschwimmt. Das Wasser ist eiskalt und klar, kein Chlorgeruch. Das Haus liegt abgeschieden, auf dem höchsten Punkt einer Stufenlandschaft, unter uns der Wald. Ich stelle mir den Querschnitt vor, die leicht geneigten, fast parallel übereinander liegenden Schichten der Gesteine unter uns. Es ist kurz nach Sonnenaufgang, noch ist es kühl, im Laufe des Tages werden die Temperaturen rasch steigen, bis die Hitze kaum zu ertragen sein wird. Die Gegend erfüllt eine der wichtigsten Bedingungen: Es muss zu kalt oder zu heiß sein.

Auf dem Rücken treiben, die Augen geschlossen, der Körper erinnert sich an die Fahrt hierher, die schlingernde Bewegung des Taxis entlang der Serpentinen in der Dämmerung, unter einem verlöschenden Himmel. Das Wasser ist zäh wie Honig. Ich tauche auf und schnappe nach Luft. Ertaste den Beckenrand, ziehe mich rasch hoch und gleite auf die warmen Steine. Ich bin allein, über mir das fortdauernde Öffnen und Schließen der Fenster, der Rhythmus hat gewechselt, scheint harmonischer geworden zu sein. Wo war ich? Nachlässig, ich war nachlässig. Wahrscheinlich, vielleicht hat niemand meinen Lapsus bemerkt. Der Blick sucht und findet die Gruppe Rot im Rückwärtsgang, jetzt schon näher am Wald. Dieser heilige Ernst, mit dem wir unsere Aufgaben erledigen, nicht aufbegehren, weitermachen. Wann war ich zuletzt so folgsam. Auf dem Boden neben dem Beckenrand liegen meine Kleider sorgfältig zu einem Bündel gefaltet, so wie ich sie hinterlassen habe. T-Shirt, Hose, Wäsche entsprechen den Richtlinien: schlicht, gerade geschnitten, nicht zu körpernah, in gedeckten Farben, ohne Aufdrucke oder sichtbare Label. Wir gleichen uns den spärlich eingerichteten Räumen des Hauses an, fügen uns in die freien Flächen. Der Versuch, die Beharrlichkeit eines Gegenstands anzunehmen. Nichts zu denken. Ausdauer bezeichnet die Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen Ermüdung sowie die schnelle Regenerationsfähigkeit nach einer außerordentlichen Belastung. Aguante, Izdržljivost, Stamina. Deswegen sind wir hier. Wir arbeiten uns an den Widerständen ab. Die Menschheit ist eine mess- und nachzählfreudige Spezies. Vielleicht kommt daher der Zwang, die Summe der einzelnen Tage zusammenzutragen, die Dinge in meinem Kopf zu ordnen. Obwohl ich mir sicher bin, dass die Tage hier weder beginnen noch enden, sie simulieren. Wie ich.

Die erste Übung beginnt mit der Anweisung, an einer langen Tafel Platz zu nehmen. Das Gedeck besteht aus einem weißen Blatt, einem Bleistift, Lärmschutzkopfhörern. Ein Gemisch aus Reis und Linsen wird auf den Tisch geleert, pro Teilnehmer geschätzt ein halbes Kilo. Es geht darum, Reis und Linsen zu trennen, jedes einzelne Korn zu zählen, alles aufzuschreiben. Wir haben alle Zeit, die wir brauchen, um die Übung zu beenden.
Einige machen sich sofort an die Arbeit. Flache braune Hülsenfrüchte, helle Reiskörner gleiten durch geschäftige Finger. Trennen, zählen, sortieren. Die Kopfhörer schlucken alle Geräusche. Auch ich sollte jetzt anfangen. Im Augenwinkel die Bewegungen der Hände und Stifte. Das weiße Blatt vor mir. Die eingerissene Nagelhaut meines Sitznachbarn, der lautlos mit den Lippen Zahlen formt. Die Frau mir gegenüber, die mit dem Stift auf den Tisch tippt, als würde sie einem bestimmten Rhythmus folgen, ich kann das Geräusch nicht hören und doch. Mein Blick will den Raum erkunden, die Gesichter der anderen lesen. Die Assistenten haben den Raum verlassen. Wahrscheinlich werden wir beobachtet, es ist besser, die Übung ohne weiteren Aufschub zu beginnen.
Trennen, zählen, sortieren.
You should be happy. Der letzte Satz vor dem Schweigen, der an mich gerichtet war. Eigentlich hatte ich mir das anders gedacht, mich gefreut, in Erwartung einer Ruhe, einer Leere, die sich anfühlt wie Ausatmen. Dabei haben sich Gedanken und Bilder in Gang gesetzt, wie Steine, einer bewegt sich nur ein bisschen und alles beginnt zu fallen. Seit das Schweigen begonnen hat, wird es mit jeder Minute lauter in meinem Kopf. Trennen, zählen, sortieren. Vergessen geglaubte Liedtexte reihen sich an Gedichtstrophen, Reime. If you’re happy and you know it, clap your hands. Clap-clap. If you’re happy and you know it clap your hands. Clap-clap. Während ich noch zögere, hat mein Sitznachbar eine eigene Technik entwickelt, im Takt eines unsichtbaren Metronoms schiebt er Reiskorn für Reiskorn mit der Spitze seines Bleistifts nach rechts. If you’re happy and you know it and you really want to show it if you’re happy and you know it, clap your hands. Einen Satz, eine Melodie abschütteln, um ins Nächste zu kippen. Clap-clap. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Trennen, zählen, sortieren. Mein Sitznachbar reißt mit den Zähnen ein Stück Nagelhaut ab. Der Bleistift rutscht in meiner schweißnassen Hand. Clap-clap. Ich bin vier Jahre alt und zeichne, aber eigentlich spiele ich, dass ich zeichne. Wenn ich einen Strich ziehe, tue ich nur so, als würde ich zeichnen. Ich spiele für die Kamera, ein Kind zu sein, das zeichnet. Immer sehe ich aus, als wäre ich nicht ganz bei dem, was ich gerade tue. Trennen, zählen, sortieren. If you’re happy and you know it, pat your head. Pat-pat. If you’re happy and you know it, pat your head. Pat-pat. Das Bild von John Lennon und Yoko Ono, wie sie darauf warten, dass das Zimmermädchen das Bett in ihrer Suite, wo sie seit Tagen für den Weltfrieden demonstrieren, neu bezieht. Pat-pat. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Ein Blick im Nacken, lästig wie ein Insekt. Aufsteigender Zorn, der aus dem Gedächtnis des Körpers kommt, nicht konkret werden will. Was ist, wenn Zeit ein Gegenstand ist, der sich nicht bewegen lässt und in dem wir zugleich gefangen sind. Wie dieser Raum. Trennen, zählen, sortieren, schwitzen. Der Gedanke an Schnee, daran, Schnee immer schon gehasst zu haben. Ein Bild von mir in Anorak und Mütze, geschützt unter meinem bunten Kinderschirm, als wäre ich eine alte Dame, empört über die Zumutung meiner Existenz. Ich blicke direkt in die Kamera, hinter mir ein Gehweg, ein Stück Wiese, dichter Schneefall. Trennen, zählen, notieren, durchstreichen. Trennen, zählen, notieren, durchstreichen. Ein Loch ins Papier stechen. Im Raum staut sich die Hitze, es könnte Mittag sein. Ist aufgeben eine Option? Der Impuls, den Lärm aus mir herauszuspeien, als einen endlosen Satz, der in jedem Raum, an jedem Ort, in jeder Umgebung etwas anderes bedeutet. Dunkel war’s, der Mond schien helle. Dunkel war’s, der Mond – Nichts von all dem ist mir anzusehen. Ich bin 41 Jahre alt und spiele für ein unsichtbares Publikum, wie ich mit hingebungsvoller Konzentration Linsen und Reis trenne, die einzelnen Körner zähle, lautlos die Zahlen mit den Lippen forme. Das Publikum kann meine Angst wittern wie ein Hund, es kann wahrnehmen, ob ich wirklich DA bin oder nicht. Mir zusehen, wie ich etwas notiere, etwas anderes durchstreiche. Das Papier vor mir liegt unverletzt. Wiederholung und Erinnerung als gleiche Bewegung, in verschiedene Richtungen auseinanderstrebend. Für einen Augenblick glaube ich zu sehen, wie mein Sitznachbar beginnt, mit der Spitze seines Bleistifts gegen die Ordnung zu sortieren, die schon säuberlich getrennten Häufchen geduldig zu zerstören, Reiskorn für Reiskorn zurück in das Gemisch schiebt. Irgendwann rückt der erste Stuhl, jemand steht auf und verlässt den Raum. Weiter jetzt. Trennen, zählen, sortieren. Auch der andere Platz neben mir ist leer. Sekunden, Minuten, Stunden später berührt mich jemand an der Schulter, das Zeichen, dass alle die Übung beenden dürfen, unabhängig davon, wie weit sie gekommen sind. Ich blicke nicht auf, will nicht sehen, wie viele noch übrig sind. Es ist unmöglich, jetzt aufzugeben. Irgendwann lege ich den Stift endlich zur Seite. Die Zeit, die mir ein Assistent auf einen Zettel notiert: sieben Stunden und fünfundzwanzig Minuten.
Vorsichtig stehe ich auf, strecke meine Beine. Hinter meiner Stirn ist nur noch ein leises Rauschen. Jemand entfernt die Stühle, den Tisch. Ich gehe ans Fenster, nachsehen, was von der Welt noch übrig ist. Auf dem freien Feld unten vor dem Grundstück bewegt sich eine grinsende Micky Maus im rasenden Zickzack über das Gelände. Micky grinst mich vom Rücken eines Oversized Hoodies an. Kapuze auf, darunter versteckt sich wohl ein Kind, wahrscheinlich aus der Umgebung, wobei die nächste Ortschaft ein ganzes Stück entfernt sein muss. Das Kind bremst sein Fahrrad scharf ab, der Hinterreifen wirbelt trockene Erde hoch, bevor es sein Gesicht in meine Richtung dreht, einen Augenblick innehält, dann weiter, barfuß in den Pedalen stehend, bis es im Wald verschwindet.

Weiß. Meine Farbe ist Weiß. Die Aufgabe von Weiß ist, was immer ich tue, es so langsam wie möglich zu tun. Die Sonne ist weitergewandert. Der Schatten des Hauses ist bis an den Beckenrand gekrochen. Es ist nichts zu hören. Die Fenster im Stock über mir sind jetzt geschlossen, der Boden unter mir ist immer noch warm. Meine Kleider am Beckenrand, sorgfältig gefaltet. Mehrmals hintereinander öffne und schließe ich den Mund so weit ich kann, lasse meinen Kiefer knacken. Ich muss aussehen wie ein Fisch. Ich drehe den Kopf zur Seite. Im Wasser zappeln Insekten. Draußen auf dem freien Feld vor dem Grundstück hat jemand Stühle aufgestellt, immer zwei einander gegenüber, verstreute Inseln. Dazwischen tummeln sich ein paar Ziegen, das Gebimmel der Glöckchen, die sie um den Hals tragen, begleitet jeden ihrer Schritte. Sonst ist niemand zu sehen. Für einen Augenblick ist die Stille vollkommen und tröstlich.
Das träge schnalzende Geräusch von Flip-Flops, ich blinzle ins Gegenlicht, versuche vergeblich ein Gesicht auszumachen. Jemand, wahrscheinlich ein Assistent, reicht mir ein weißes Blatt: Fünfundzwanzig Minuten Pause.

Wir sollen einen Platz auf dem Feld finden und eine Haltung auf dem Stuhl einnehmen, in der wir verweilen können, ohne uns zu bewegen. Die Regeln sind einfach: Die Hände nicht heben, keine Zeichen machen, nicht sprechen. Die andere Aufgabe ist, den Blick zu halten. Mein Gegenüber ist männlich, weiß, mittelalt, mittelgroß, etwas farblos. Ein Gesicht, das nicht auffällt. Niemand, dem ich unter alltäglichen Bedingungen einer Begegnung mehr als ein paar Sekunden Aufmerksamkeit schenken würde. Wir richten uns ein, gehen auf Position. Nach wenigen Augenblicken schon klebt die frische Kleidung feucht auf der Haut. Die Luft schmeckt süßlich. Obwohl wir hier draußen sind, kann ich meinen Schweiß riechen und den meines Partners. Es heißt, wenn wir unser Gegenüber lange genug betrachten, wird es nach und nach schöner hässlicher zorniger trauriger vertrauter bis das Gesicht keine Bedeutung mehr hat. Das linke Auge des Mannes zuckt leicht, dann das rechte. Ich spüre die Trägheit meines eigenen Körpers und zugleich meine Unruhe. Nach einer Weile beginnen auch meine Finger unwillkürlich zu zucken. Ich kenne die Forschungsberichte, die diesen Effekt beschrieben haben, den gegenseitigen Blick, diese stumme Kommunikation zwischen zwei Fremden, die dazu führt, dass die Gehirnwellen sich nach einer Weile angleichen und identische Muster beschreiben. Aber sie schreiben nichts von: Schmerzen im Steißbein, im Becken, zwischen den Rippen, in den Schultern. Die Anstrengung, die es braucht, etwas zu tun, das so nah am Nichtstun scheint. Die Pupillen des Mannes scheinen sich zu weiten, der Blick wird weicher, durchlässiger. Der gegenseitige Blick als Reise auf unbekanntem Gebiet, unter der Oberfläche der Landschaft ein Rhizom aus Zufall und Unglück. Ich frage mich, wo die Ziegen hin sind. Wie all das hier aussehen muss, aus der Vogelperspektive, wir auf unseren Stühlen, über das Feld verstreut. Auf drei Uhr beginnt jemand zu schluchzen. Weinen ist ansteckender als Lachen. Ein Gebot, das ich mir selbst auferlegt habe: niemals in der Öffentlichkeit weinen. Die Muskeln in meinen Waden krampfen. Mit Schmerzen habe ich nicht gerechnet. Eine Fliege setzt sich auf die Stirn meines Gegenübers, reibt die Beinchen aneinander. Er reagiert nicht. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit dem Vergehen von Zeit: Du bleibst jetzt hier ganz still sitzen und denkst darüber nach, was du getan hast. Ich unterdrücke aufsteigendes Lachen. Wieso denken wir, wenn wir unglücklich sind, dass wir auf ganz eigene Weise unglücklich sind? Das Gesicht meines Partners, dessen Züge sich scheinbar dehnen, wieder zusammenziehen. Ich versuche, meinen Körper als Haus zu denken. Schreite alle Zimmer ab, öffne die Türen und Fenster nach draußen. Mir fällt ein, dass ich die Namen der anderen nicht kenne, auch den meines Partners nicht. Mein Blick, der das Gegenüber überwindet, sich in der Ferne dahinter verliert. Wir könnten uns ineinander verlieben. Die Dinge tun, die Verliebte machen, Geschichten, Blicke, Körperflüssigkeiten austauschen und das Wichtigste: von allem Fotos machen, alles festhalten wollen. Ich glaube, eine Bewegung im Wald zu erkennen, ein sich wiederholendes Muster. Einen Satz wiederholen, bis er keinen Sinn mehr ergibt. Ich denke an meine Wohnung, der vertraute Geruch, all die Dinge darin, die mich bezeichnen, die Bücher Fotos Platten Filme Notate vollständig versammelt, schon bedeckt von feinem Staub. Die merkwürdige Tatsache, dass da draußen die Wirklichkeit weiter besteht und damit all die Dinge einer greifbaren Welt, die wir trotzdem nie ganz erfassen können. Was war zuerst da, die Sprache oder die Bilder. Ich frage mich, ob das Haus und der Pool hinter uns noch da sind, aber ich werde mich auf keinen Fall umdrehen. Mein Körper hat alles vergessen, ist jetzt nutzlos und leicht. Nichts mehr denken. Das Lautwerden der Insekten, kaum merkliche Bewegungen in der Erde unter unseren Füßen, feuchte Kühle, die aus dem Wald zu uns aufsteigt. Wir merken nicht, wie die Dämmerung ein rotes Band über die Hügel spannt und erst der Wald vom Dunkel verschluckt wird, schließlich wir.

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Sandra Gugic *1976, schreibt Prosa, Lyrik und Essays. Studium an d. Univ. f. Angewandte Kunst / Sprachkunst und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihr Debütroman Astronauten (2015, C.H.Beck) erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin, im Herbst 2020 ihr zweiter Roman Zorn und Stille bei Hoffmann und Campe. Zuletzt erhielt sie das Heinrich-Heine-Stipendium. www.sandragugic.com

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.