Kleine Welt

Von Robert Prosser. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil 51

Online seit: 4. Februar 2022
Robert Prosser
Robert Prosser.

(Aus einem entstehenden Roman)

Morgens Nebel und der Geruch nach verbranntem Holz. Xaver warf sich die Arbeitsjacke über. Knallrot, mit einem schrägen Streifen in blitzendem Gelb, auf dem Rücken der silberne Schriftzug: Pistenrettung. Das Auto verröchelte etliche Male; lass mich nicht hängen, flüsterte Xaver und tätschelte, als der Opel Kadett endlich startete, zufrieden das Armaturenbrett. Er wählte die Höhenstraße. Hinter einem der Gipfel eine riesige Wolke, ein zorniges Grau, von dem sich die Liftsäulen abhoben und die schwebenden Gondeln, und wie verwunderlich, in jeder dieser Winzigkeiten hockten maximal acht Wintersportler. Am Feldrand leuchtete das Innere aufgehackter Erlen saftig orange. Schotter ersetzte den Asphalt und führte, von Fichten begrenzt, bis zur Alm. Als Kind hatte er sich gewundert, wie anders solche Höfe im Vergleich zum eigenen Zuhause waren, wo ein jeder Ablauf, eine jede Tätigkeit die Urlauber mitbedachte und mit diesen auch ein Bewusstsein für die Welt außerhalb des Tales eintrat. Die einstige Pension Ursin, nach der Familie benannt und beworben mit gemütlichem Ambiente, sonniger Lage, unterm Dach die eigene Wohnung. Im zweiten und ersten Stock je einmal Bad und Toilette sowie drei Fremdenzimmer. Im Erdgeschoss Speisekammer und die Stube, die für Frühstück und allabendlichen Umtrunk verwendet wurde; im Keller die Werkstatt, in der Großvater Konrad nach dem Pensionsantritt noch kleinere Möbelstücke fertigte. Samstags war Wechsel, die vorigen Gäste verabschiedeten sich, frische trafen ein, dieser Rhythmus diktierte Xavers Aufwachsen. Ein holländisches Paar wusste um seine Vorliebe für Dinosaurier und brachte bei seinem zweiten Urlaub eine T-Rex-Figur mit. Der Deutsche, dem er begeistert vom Musketierfilm erzählt hatte, schickte ein Zorro-Faschingskostüm. Von Anna, seiner Mutter, wurde er für seine Lebhaftigkeit gerügt. Wie ungerecht es war, er hatte leise zu sein, durfte unter keinen Umständen lästig werden, die Fremden aber konnten tun, was sie wollten. Diese vorauseilende Sorge, ja Ergebenheit, wurde besonders bei den Stammgästen deutlich. Der Zahnarzt aus Frankfurt etwa, dessen Ehefrau einen waldgrünen Trachtenjanker und um den Hals ein weinrotes Seidentuch trug. Stand eine solche Ankunft bevor, saugte Anna das Stiegenhaus, scheuerte die Badewanne und putzte alle Fenster, um die perfekte Aussicht zu garantieren, die Handtücher wusch sie bei 60 Grad. Reisten sie nicht im eigenen Auto, erwartete Xavers Vater Vinz die Gäste an der Busstation hinter der Kirche, um sie das finale Stück zu chauffieren. Konrad stieg aus der Werkstatt hoch und platzierte die Zither auf der Anrichte. Die Stimmung war so gespannt wie zu Weihnachten, bloß kam anstelle des Christkinds das Ehepaar Wuttke aus Hamburg. Als Willkommensessen wurden Forellen aus der Kühltruhe geholt und von Anna in Butter gebraten. Schurz umgebunden, Pfanne in der Hand, trat sie in die Stube. Ihr müsst mit der Messerspitze die Wangen rausholen, sagte sie, es ist das beste, zarteste Fleisch, ein Gedicht. Konrad versprach, zum Dessert die Saiten zu zupfen, und nachdem Anna die Teller mit den Fischgräten abserviert hatte, war Vinz an der Reihe; der Herr des Hauses, verkündete er, Schnapsflasche und Stamperlgläser auf einem silbernen Tablett balancierend. Er stammte aus einer niederbayrischen Kleinstadt, und bei manchen sorgte seine Herkunft für Irritation, schmälerte nämlich das Vergnügen, in einem genuin Tiroler Haushalt zu urlauben. Wenn Vinz jedoch beim Spiel der Zither erzählte, als Kellner ein unstetes Leben geführt zu haben, ehe er sich in die Tochter dieses musikalischen Tischlers verliebte, dann konnte er die Sympathien leicht gewinnen.

Vor der Alm stand Peter, in Gummistiefeln und blauem Mantel. Wirst nicht glauben, was ich erfahren hab, sagte er und deutete auf das Dach des Nebengebäudes. Eternit, haben doch alle verwendet. Aber jetzt heißt’s, es ist Asbest drin und muss entsorgt werden, ohne dass es staubt. Wie soll das klappen, wer soll das zahlen, fragte er mit finsterem Blick auf die moosigen Schindeln.
Muss sein, du willst doch nicht mit Gift leben.
Aus dem Handschuhfach kramte Xaver das Messer, eine zwanzig Zentimeter lange, hauchdünn geschliffene Klinge.
Als ob ich je krank bin, erwiderte Peter, vierundsechzig werde ich, aber nix fehlt mir, nix.
Neben dem Kellerfenster baumelte an einem violetten Kreppband der Unterkiefer eines Hirschen, ein Knochenkamm mit schwarz gemaserten Zähnen. Hab ich im Wald gefunden, sagte Peter und gab dem Kiefer einen Stoß. Er kicherte, sagte: Kein Dreieck, trotzdem.
Einmal war Xaver mit einer Freundin hier gewesen. Fasziniert vom Ausblick auf den höchsten Berg hatte sie, die Touristin aus Dortmund, Peter gebeten, an den folgenden Tagen ihre Staffelei aufstellen zu dürfen. Die Luft war ungewöhnlich klar, mit freiem Auge waren Geröllhalden und Felszacken zu erkennen. Schließlich zeigte die Leinwand ein Dreieck. Schwarze, fette Striche, mit dem Lineal gezogen. Xaver fand es beeindruckend. Nicht, weil er verliebt war (das war er), sondern weil es eine Bedeutung darstellte, die über das Symbol eines Berges hinausging. Das Kunstwerk bewies die durchschlagende Kraft der einfachsten Geste; festgehaltene innere Wahrheit, auf die allernötigste Form reduziert, rätselhaft wie eine chinesische Kalligrafie (rückblickend musste er zugeben, wirklich sehr verliebt gewesen zu sein). Tagelang malen und aus dem Berg hat sie nichts als ein Dreieck rausgeholt, sinnierte Peter, ich hoff, ihre Bilder verkaufen sich wenigstens.

Das Messer legte Xaver auf die Mauer des Misthaufens. Er schob den Riegel der Stalltür zur Seite, die Glocken der Ziegen klangen schreckhaft auf. Geruch nach frischen Spänen, im tierwarmen Dunkel schimmerte der Boden; Peter hatte gerade ausgemistet. Ein Schwall eigentümlich dichten Gestanks wallte ihnen entgegen. Er glaubte über den Brettern eines Verschlags ein tieferes Schwarz zu erkennen, eine Gestalt mit langen, geschwungenen Hörnern. Der Grund der Ausdünstungen. Peter drückte den Schalter und an der spinnwebverhangenen Stalldecke leuchtete die nackte Glühbirne auf. Am Rand des Lichtkegels das graue Tier. Hallo Lex, grüßte Xaver und kraulte den Hals des Bocks. Der schüttelte genervt den Kopf, die Hörnerschatten flackerten über die Wände. Ein freilaufendes Kitz sprang ihn an, verspielt bäumte es sich auf. Er nahm es hoch, streichelte das weiß gemusterte, braune Fell.
Das Kleine, ja, warum nicht, sagte Peter und packte eine Ziege am Horn, schüttelte ihr den Schädel. Na, rief er, na, bist ruhig. Die hier sei eines Tages abgehauen. Nach über einem Jahr habe er sie wieder aufgespürt, verwildert wie eine Gams wäre sie gewesen. Ehe er die Ziege freiließ, sagte er ihr mit offensichtlichem Stolz: Du Sauviech. Er deutete auf eine andere, groß und unbehornt und mit weißem Fell, angekettet an der Wand: Die trägt nicht, es gibt keinen Nachwuchs. Aus seiner Manteltasche holte er zerknüllte Scheine. Sechzig, wie ausgemacht. Xaver zögerte: Ist nicht dein Cousin Mechaniker? Mein Opel spinnt, weißt. Peter steckte das Geld wieder ein, nickte. Du schaust dann auf einen Kaffee zu mir, ja?
An der Tür drehte er sich nochmals um und hielt Xaver einen Zwanziger hin: Für die Umstände nimmst zumindest den hier, sagte er.

Xaver lief zum Auto, fand auf der Rückbank das Stahlrohr mit der Beschriftung Blitzer. Das Kitz hielt er währenddessen im Arm. Zurück beim Misthaufen stellte er es zu Boden, setzte ihm den Apparat mittig auf die Stirn. Er drückte ab, mit einem Ploppen schoss der Bolzen raus. Ein Zucken wie von einem Stromschlag, die junge Geiß gab einen klagenden Laut von sich, der schnell erstarb. Es roch metallisch, nach Kordit. Xaver tauschte den Blitzer gegen das Messer. Ein Stich in die Kehle, die Schneide nach vorn gerichtet, eine rasche Bewegung, vom Blut blieben dunkle Spritzer auf der Mauer. Er presste das Tier nieder, wartete, bis das Zittern aus den Nerven war. Im Ausgeistern scharrten die Hinterbeine und der Kopf versuchte, sich nach oben zu recken; aus der klaffenden Wunde tropfte es in den Mist.
Im Stall band er der großen, weißen Ziege das Glöckchen ab. Die erste ließ sich immer leicht führen, die zweite aber verstand. Sie stemmte sich dagegen, plärrte, die Zunge gestreckt. Er zerrte sie an der Halskette zum toten Kitz, das in einer schwarzen Pfütze lag. Die schreiende Geiß zwischen den Knien fluchte er, denn er hatte vergessen, neu zu laden. Er riss die Kette zurück und das Meckern wurde tiefer, mit der anderen Hand fingerte er in der Tasche nach einer Patrone. Nicht die mit dem gelben Punkt, wie für das Kleine, keine rote, die er noch nie verwendet hatte, denn damit konnte man einen hunderte Kilo schweren Stier erlegen, er brauchte eine mit grüner Markierung.
Gelernt hatte er es von Anna. Sie wiederum war von Konrad unterrichtet worden. Fehlten die Gäste, verdiente man mit dem Schlachten das Nötigste. Manchmal hatte sich eine Ziege oder ein Schaf zu sehr gewehrt und den Kopf freibekommen, sodass der Bolzen nur die Wange erwischte. Xaver auf dem verletzten Tier, daneben Anna, die nervös den zweiten Schuss vorbereitete; er hatte es gehasst, das eingetrocknete Blut unter den Fingernägeln, der Geruch, der sich noch am folgenden Tag nicht abwaschen ließ.
Er wuchtete sich die Ziege auf die Schultern. Je kälter ein geschossenes Tier, umso mehr wog es. Als wäre das die letzte Strategie, eine klägliche Art von Weiterleben: sich als finalen Widerstand so schwer wie möglich zu machen. Unter leisem Schimpfen trug er sie zum Nebengebäude. Wenn du erwachsen bist, möchte ich von den Toten wiederkehren, hatte Konrad gern gesagt, nur für ein paar Minuten, um zu sehen, was aus dir geworden ist. Er würde sich wundern, dachte Xaver.
Von seinen Schultern glitt die Ziege in den Schnee. Mit der Messerspitze ritzte er ihre Hinterbeine bis zu den Hufen auf, zog die Haut von den blassen Sehnen. Er öffnete die Metalltür. Die Fernbedienung an der Wand gedrückt und von der Deckenwinde ratterte ein doppelter Haken. Er schleifte die Ziege über die Schwelle, steckte je eine Hakenspitze durch die Wadenknochen. Rasselnd fuhr die Kette wieder rauf. Mit geblähtem Bauch hing das Tier in der Luft. Xaver schnitt ihm die gelben Kennmarken aus den Ohren. Darin eingestanzt die Nummer, unter der es bei der Behörde erfasst war. Die Marke verschwand im Müll. Laut EU-Verordnung durfte eine für den Verkauf bestimmte Schlachtung nicht am eigenen Hof stattfinden, sondern musste dem örtlichen Tierarzt gemeldet und in einem registrierten Betrieb nahe der Landeshauptstadt erledigt werden. Die Bauern nahmen keinen Einfluss mehr auf die Bedingungen, zu denen das eigene Vieh starb. Ihr Unwillen gegen diese Bevormundung erklärte den Bedarf an Xaver und dem Schussapparat. Deshalb bot er seine Dienste an. Nicht wegen der zusätzlichen Einnahmequelle. Sondern weil er gebraucht wurde, und nicht nur das, er wurde dafür geschätzt. Ungesetzlich und verschwiegen, exakt mit dem Blitzer und flink mit dem Messer, so sah er sich, auch wenn er um den viel pragmatischeren, eigentlichen Grund wusste: Er war einer der letzten, die es noch beherrschten. Die alten Metzger waren senil oder längst verstorben und von den Jüngeren interessierte es niemanden, das Schlachten schien eine fast vergessene, obsolet gewordene Profession wie Bäcker oder Schindelmacher.
Der Schädel fiel in den Eimer. Dann der Euter. Mit der Linken zerrte Xaver an der Haut. Die Rechte zwängte er zwischen Fell und Gewebe, eine leichte Wärme war zu spüren, er schob mit der Schulter nach, es klang, als ob Papier zerreißt, bald war der Körper freigeschält. Ein Stich knapp am Brustbein, ein Schnitt, Blut und Scheiße und Magenflüssigkeit quollen mit den Därmen raus, ein Klatschen, aufwallender Gestank, ein Plätschern, es stimmte, dass diese Ziege nie ein Kitz hatte, milchige Fettschlieren bedeckten ihr Inneres, eine Mutter wäre viel abgezehrter. Vorsichtig löste er die Gallenblase, ging einen Schritt zurück. Wartete. Lange schon machte er diese Arbeit, doch der entblößte Leib setzte ihm zu. Das fahlrote Herz, die bläulichen Lungen, die braun schimmernde Leber und unterhalb der Rippen die dunkelvioletten Nieren. Er wusste, es war naiv, darüber nachzudenken. Aber wie schnell es ging und wie einfach, und wie seltsam, dass er dafür verantwortlich war.
Wind fegte körnigen Schnee in die Kammer. Das hohle Knacken aneinander schlagender Äste, Böen jagten durch den nahen Wald. Zumindest garantierte das schlechte Wetter Tarnung. Manchmal kreuzten Wanderer auf, Touristen, die fotografierten oder filmten, weil sie glaubten, etwas Ursprüngliches oder Anekdotenhaftes entdeckt zu haben. Alles bereits passiert. Was Xaver daran störte, war nicht, dass ein ungesetzlicher Akt festgehalten wurde, sondern dass er sich in anderer Weise ertappt fühlte, oder enttarnt, als wäre er tatsächlich ein Mörder, was die Dortmunder Malerin ihm vorwarf zu sein, nachdem er ihr von dieser Verdienstquelle erzählt hatte.
Als auch das Kitz aufgearbeitet war, spritzte er den Raum mit einem Schlauch ab; rötliches Wasser sickerte kreisend durch den Abfluss. Die beiden Kadaver hingen nebeneinander; die dünnhäutige Fettschicht verlieh ihrem Fleisch im einfallenden Licht eine violette Färbung; die Gelenkknochen und Halswirbel schimmerten wie Perlmutt. Er säuberte Messer und Blitzer, schloss die Tür. Tastete hinter dem Trog nach der Bürste, schrubbte, bis unter den Fingernägeln kein schwarzer Rand mehr war. Das Scharren der Ziegen drang durch die Stallwand, die gelegentlichen Stöße, wenn zwei aneinander gerieten, das Klingeln ihrer Glocken.

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Robert Prosser, geboren 1983 in Alpbach/Tirol. Veröffentlichte u.a. die Romane Phantome und Gemma Habibi (Ullstein 2017, resp. 2019), sowie zuletzt die Reportage Beirut im Sommer (Klever 2020). Einige Auszeichnungen, u.a.: Writer-in-Residence der One World Foundation in Sri Lanka 2021, Longlist Deutscher Buchpreis 2017. Mehr Infos: www.robertprosser.at

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.