Immer noch schreiben wir

Von Renate Welsh. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur“ – Teil XXXIV

Online seit: 8. Oktober 2021
Renate Welsh. Foto © Christopher Mavric
Renate Welsh. Foto: Christopher Mavric

Warum?

Ich glaube behaupten zu können, dass Hoffnungslosigkeit beinahe immer auch Sprachlosigkeit bedeutet – wobei Sprachlosigkeit nicht nur stumm, sondern genau so oft geschwätzig daherkommen kann. Fast immer ist Sprachlosigkeit gleichzusetzen mit Einzelhaft, in der aber nicht einmal der klirrende Schlüsselbund eines Gefängniswärters damit rechnen lässt, irgendjemand könnte kommen und zuhören.

Sprachlosigkeit ist ein Gefängnis mit wenig Aussicht auf Entlassung, die meisten bleiben lebenslänglich darin eingesperrt. Ich bin überzeugt, dass es brandgefährlich ist zu unterschätzen, wie gefährlich die Auswirkungen der Sprachlosigkeit in jeder Hinsicht sind, gesellschafts- und demokratiepolitisch vor allem, aber auch im Hinblick auf vergeudete Möglichkeiten. Natürlich ist Sprachlosigkeit eine Herausforderung für das Bildungssystem im allgemeinen, aber auch ganz besonders für die Literatur.

Literatur kann nichts.
Literatur kann alles.
Beides wird immer wieder behauptet. Beides lässt sich beweisen.

Ich glaube immer noch, dass Literatur eine Funktion hat, und dass diese Funktion mit Hoffnung zu tun hat. Und zwar gerade weil die Literatur Schwächen hat, weil sie im Grunde gar nicht existiert: Denn solange sie nicht gelesen wird, ist sie bloß beschriebenes, bedrucktes Papier. Weil sie angewiesen ist auf den lesenden Menschen, der sich auf den Text einlässt, der dem Klang der Sprache nachhorcht, der Wörter und Sätze füllt mit eigenen Gedanken, mit Erinnerungen an Gerüche, Empfindungen, Erfahrungen. In diesem Erinnern und Empfinden entsteht ein Raum, in dem sich viele eingeladen fühlen dürfen, in dem Hoffnung möglich wird, in dem Scheitern nicht das Ende, sondern vielleicht einen neuen Anfang bedeuten kann. Darum ist es so wichtig, das weite Feld der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen für möglichst viele zugänglich zu machen. Während die Konsumgesellschaft immer neue Schablonen und Zwänge erzeugt, denen Menschen genügen sollten, bietet die Literatur Freiräume an, sie feiert geradezu die Verschiedenheit, Stärken und Schwächen mit gleicher Zuwendung in ihren Menschenbildern und bietet dadurch immer wieder neue Möglichkeiten, vielleicht doch den Blick in den Spiegel zu wagen.

Vor kurzem hörte ich in der U-Bahn einen Jugendlichen sagen: „Die haben sich doch schon ausgerechnet, wen ich gewählt hab, bevor ich noch wählen war. Also wozu wählen? Ohne mich.“
Ohne mich? Mit wem dann? Wie will er ausbrechen aus der Berechenbarkeit? „Ist doch sowieso alles egal.“

In Schreibwerkstätten versuche ich das Wort „egal“ zu verbieten, nicht immer mit Erfolg. Es deutet ja so erschreckend oft darauf hin, dass eine oder einer sich selbst aufgegeben hat. Manchmal greift einer mich direkt an. „Zuerst tust du freundlich, und dann verbietest du ein ganz normales Wort, ist ja nicht einmal ordinär, oder was?“ Daraus kann ein Gespräch entstehen, das Sinn hat.
Kann Hoffnung auch schützen gegen die Angst aller Ängste, die Angst vor dem endgültigen Tod, vor dem Nichts? Immer wieder kommt mir Heines Fluch in den Sinn, „Nicht gedacht soll seiner werden!“

In unserem Dorf stellte mich eine Bäuerin zur Rede, die gewiss seit ihrer Schulzeit in den frühen Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts außer dem Gesangbuch kein Buch in der Hand gehabt hatte. Sie zeigte auf das Nachbarhaus. „Über die haben Sie ein Buch geschrieben, und ich muss mir selber einen teuren Grabstein kaufen! Das ist nicht gerecht!“ Zunächst war ich nur sehr angetan von der Vorstellung, ein Buch könnte so viel wert sein wie ein anständiger Grabstein aus Granit mit goldener Inschrift. Inzwischen glaube ich zu ahnen, welches Geschenk mir die alte Frau mit ihrer Beschwerde gemacht hat.

In irgendeiner Form einen neuen Eintrag zu schaffen in das ungeheure „Buch des Lebendigen“ –vielleicht ist es das, was die Literatur immer wieder versucht, immer wieder neu versuchen muss, weil nichts so bleiben kann, wie es ist, ohne ständig neu erschaffen zu werden.

Lesend und schreibend können eigene Möglichkeiten und Grenzen ebenso ausgelotet werden wie die des ganz und gar Anderen, was wiederum einen klareren Blick auf das Eigene erlaubt. Es geht in den Schreibwerkstätten darum, einen Raum zu schaffen, in dem es möglich ist, aufeinander zuzugehen. Der Bleistift in der Hand hat dabei die Funktion eines Wanderstabs, auf den man sich auch stützen darf, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährliches Gelände zu betreten.

Manches, worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben, jedenfalls in einem geschützten Raum, und wenn man darauf vertrauen darf, dass Menschen zuhören. Es geht auch darum, eigene Erfahrungen in Besitz zu nehmen, die bis dahin nur Last im Nacken waren.

Hoffnung kennt kein Weil. Hoffnung lebt vom Trotzdem.

Ich liebe das Wort „trotzdem“, manchmal scheint es mir, dass es ein wenig müde wird, dass es pfleglich behandelt werden muss. Dann hole ich den abgegriffenen Zettel aus der Schreibtischlade, auf dem in sehr kreativer Orthographie steht: Liebe Frau Welsh, ich habe nicht gewusst, dass es Spaß macht, über etwas nachzudenken. Ich werde dieses jetzt öfters tun.

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Renate Welsh, 1937 in Wien geboren, in Wien und Bad Aussee aufgewachsen. Studierte Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften, arbeitete als freie Übersetzerin und beim British Council in Wien. Autorin diverser Kinder- und Jugendbücher, am bekanntesten: Das Vamperl, Dieda oder Das Fremde Kind, Johanna, und Romane, u. a. Liebe Schwester und Großmutters Schuhe. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Österreichischer Würdigungspreis, Würdigungspreis des Landes NÖ für Literatur, Deutscher Jugendliteraturpreis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, Theodor-Kramer-Preis und Preis der Stadt Wien für Literatur.

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„Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” ist ein Gemeinschaftsprojekt von Gerhard Ruiss, Thomas Keul und Claus Philipp und den beitragenden Autorinnen und Autoren. Die Texte der Serie erscheinen wöchentlich, jeweils am Freitag, und können auch als Newsletter abonniert werden. „Hier und Heute – Positionen österreichischer Gegenwartsliteratur” wurde auf Initiative von Claus Philipp durch Spenden für den Lesemarathon Die Pest von Albert Camus des Wiener Rabenhof Theaters und des ORF-Hörfunksenders FM4 im Frühjahr 2020 ermöglicht. Die Reihe wird von der Stadt Wien aus Mitteln der Literaturförderung unterstützt.